Das Lied der Hoffnung nach langer Hoffnungslosigkeit

Wolf Paul, 2025-03-16

Ich lese immer noch Leonkadia (Lorraine) Justmans Überlebensgeschichte[1] über ihre Zeit in den Ghettos verschiedener polnischer Städte, über ihre Flucht nach Innsbruck, und ihr weiteres Leben im “Dritten Reich”. Ich habe bereits den Abschnitt über Janusz Korczak vorgestellt, und hier, fast vom Ende des Buches die Beschreibung eines Besuches der Jüdischen Brigade[2] in Innsbruck (gekürzt):

Der Wendepunkt des Leben der meisten jüdischen Flüchtlinge in Innsbruck kam mit dem überwältigenden Besuch der Jüdischen Brigade auf ihrem Weg nach Deutschland durch Innsbruck. Die Einheiten der Brigade kamen in Lastwagen, die mit blauen Davidssternen geschmückt waren.

Sie waren groß, stark und gut-aussehend. Sie waren selbstbewusst und weltgewandt. Ihre Militäruniformen mit demselben Stern, der während der Zeit von Hitlers Herrschaft ein Zeichen der Schande und des Todes war, füllten die Straßen von Innsbruck und gaben den Hoffnungen der Frauen und Männer, die die Tragödie und die Qual der deutschen Konzentrationslager noch abschütteln mussten, neuen Auftrieb.

Im riesigen Saal des Hotels Wilder Mann in der Museumstraße versammelten wir uns alle, um die mutigmachende Rede von Baron Edmund Rothschild, einem Major der Jüdischen Brigade, zu hören. Er sprach vom Land unserer Vorfahren, dem gelobten Land Eretz Israel, vom ewigen Traum, es zu befreien und in die Unabhängigkeit zu führen als Wiege eines neuen Lebens für die umherwandernden, jahrhundertelang verfolgten Juden.

Die Männer der Jüdischen Brigade waren groß, stark und gutaussehend. Sie waren selbstbewusst und weltgewandt. Sie lächelten offen, lachten ohne Hemmungen und sprachen mit Leichtigkeit. Sie wirkten so anders als die Menge der unterdrückten Menschenwesen, die sie nun umringten in ihrem Hunger nach Neuigkeiten aus dem Gelobten Land.

Ihr Besuch in Innsbruck wirkte wie ein Wunder. Er weckte die Kräfte der Hoffnung, er weckte die Sehnsucht, die im Unterbewusstsein einer geprügelten Generation zur nächsten geschlummert hatte. Er gab all jenen ein neues und klares Ziel, denen das wirkliche Leben entglitten war, die zu menschlichen Marionetten geworden waren, mit einem gebrochenen Körper und zerstörtem Geist.

Die Soldaten der Jüdischen Brigade sangen Hatikvah, das Lied der Hoffnung, das zur Hymne des Staates werden sollte, der ein paar Jahre später entstand, und mit diesem Lied auf den Lippen verließen sie den Saal des Hotels Wilder Mann und gingen hinaus auf die breite Straße, die im violetten Schatten der Abenddämmerung lag. Die Menge folgte ihnen wie in Trance, wobei sie versuchte, in die Melodie einzustimmen, die ans Herz rührte und schmerzliche Erinnerungen wachrief. Erinnerungen, die blieben, während alles andere tot war. Sie sahen zu und konnten es nicht glauben … Hier, direkt im Zentrum von Innsbruck, in einem der geschäftigsten Teile, hier inmitten der Menge der gläubigen Nazianhänger, wo noch vor wenigen Wochen Truppen von Hitlergetreuen marschiert waren und „Deutschland, Deutschland über alles” gesungen hatten, wurde der Verkehr angehalten, während die Soldaten der Jüdischen Brigade den Nationaltanz Hora tanzten.

Die Überlebenden von Hitlers Inferno sahen ungläubig zu. Und dann geschah etwas Großes mit vielen in diesem Augenblick des Feierns: Sie fanden sich selbst wieder. Sie fanden ihren Weg zurück zu Gott, zum Leben, zu ihrem Ziel.

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  1. Leonkadia Justmans Überlebensgeschichte wurde im Rahmen eines Projekts an der Universität Innsbruck in Buchform gebracht und ist sowohl als gebundenes Buch als auch als eBook erhältlich: Brechen wir aus!: Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte[]
  2. Die Jüdische Brigade (Jewish Brigade) war eine kämpfende Einheit in der British Army während des Zweiten Weltkriegs, die auf Seiten der Alliierten gegen die Achsenmächte kämpfte. Die Brigade setzte sich aus Freiwilligen aus dem Gebiet des Völkerbundsmandats für Palästina zusammen.[]

Ein beispielhafter Mann: Janusz Korczak

Wolf Paul,

Ich lese gerade Leonkadia (Lorraine) Justmans Bericht[1] über ihre Zeit in den Ghettos verschiedener polnischer Städte, über ihre Flucht nach Innsbruck, und ihr weiteres Leben im “Dritten Reich”.

Besonders berührt hat mich dieser Abschnitt über Janusz Korczak, einen polnischen Militär- und Kinderarzt, Kinderbuchautor und Pädagogen, der in Warschau ein Waisenhaus betrieb und mit diesem ins Ghetto übersiedelte: 

Janusz Korczak war ein Junggeselle, der sich schon seit Jahren liebevoll den Waisen von Warschau widmete. Er schrieb für sie und über sie; er spielte mit ihnen und erfüllte ihnen jeden Wunsch. Er war ihr Ein und Alles, und sie waren seine einzige und größte Liebe. Als ein Freund ihm sichere Zuflucht in seinen vier Wänden anbot, lehnte er ab. Er wollte sich nicht von seinen Kindern trennen und begleitete sie ins Ghetto, um dort ihr Schicksal zu teilen und ihnen das Leben zu erleichtern. Niemand, der diesen munteren Geschöpfen begegnete, hätte sie für Waisen gehalten. Ihr sonniges Gemüt, ihre Liebe zur Musik, ihre zahlreichen Interessen waren der Beweis für die heitere Atmosphäre, in der sie aufgezogen wurden. Umgeben von seinen Schützlingen hätte man Janusz Korczak leicht für ihren aufopferungsvollen Vater halten können.

Januzs Korczaks Waisenhaus im Warschauer Ghetto, Chłodna-Straße 33

„Es ist ziemlich warm heute“, bemerkte er… „Der Sommer strebt zu Gott. Hoffentlich nimmt es das nächste Jahr ebenso mit uns auf, dass ich meine kleinen Lieblinge hinaus in die Natur bringen kann. In die grünen Wälder, zu den goldenen Feldern, auf die bunten Wiesen. Um ihnen die Schönheit Gottes zu zeigen, die sich im Bach oder Fluss spiegelt.“

„Das wird großartig!“, rief der sommersprossige Henryk. „Dann gehen wir an den Bahngleisen entlang weit, weit weg vom Ghetto ins Land des wahren Glücks.“ Henryk war ein Träumer und erfand gerne Geschichten über eine schöne Zukunft. Aber war das nicht in diesen Zeiten, in denen die Gegenwart schrecklich und hoffnungslos war? Lewin räusperte sich. „Beten wir für diesen großen Tag des Friedens“, fügte er mit dem Pathos eines Predigers hinzu. „Er wird das Ende des Krieges und das Ende all der Grausamkeit bringen, für uns alle.“

„Frieden…“ Janusz Korczaks blaugraue Augen leuchteten mit dem Glanz der Jugend. „Das wird ein großer, großer Tag!“

Janusz Korczak hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Jahr später passieren würde. Er konnte nicht voraussehen, dass er und seine Kinder dann in dunklen, stickigen Viehwaggons ins Ungewisse fahren würden. Er konnte nicht wissen, dass er dann mit denselben Worten über die Schönheit der Natur, die hohen Bäume, die klaren Flüsse und Bäche seinen ängstlichen Schützlingen etwas vormachen würde, deren Schicksal er bis zum Ende mit ihnen teilte. Wie hätte er je ahnen sollen, dass genau ein Jahr später er statt der großen Freiheit das große Tor zum Land des Schreckens und des Todes warten würde—zur teuflischen, unmenschlichen Maschinerie kranker Geister—zum Land der Gaskammern von Treblinka?

Janusz Korczak wurde zusammen mit der gesamten Bevölkerung des Waisenhauses ermordet, als es während der Großaktion Warschau im Jahr 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurde.

 

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  1. Leonkadia Justmans Überlebensgeschichte wurde im Rahmen eines Projekts an der Universität Innsbruck in Buchform gebracht und ist sowohl als gebundenes Buch als auch als eBook erhältlich: Brechen wir aus!: Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte[]