Aktuelle Gedanken zum Ukraine-Krieg

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FPÖ-Chef Herbert Kickl  sagte gestern in der ZiB2, daß die FPÖ den Angriff Rußlands auf die Ukraine verurteile, aber neutral bleiben wolle, und man „Verständnis für beide Seiten entwickeln“ müsse. Diese Aussage voll logischer Widersprüche ist Unsinn:

  • Entweder man verurteilt etwas; dann ist man nicht neutral.
  • Oder man will neutral sein und beiden Seiten Verständnis entgegenbringen; dann ist die Verurteilung eine leere Worthülse, politisch korrekte Augenauswischerei ohne Substanz.

Im Gespräch mit dem ehemaligen australischen Premierminister John Anderson sagt der amerikanische Politologe John Mearsheimer, daß die stufenweise Osterweiterung der NATO, und insbesondere die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der westlichen Allianz, die Ursache des Ukrainekriegs ist, und daß viele Politiker sowohl in Amerika als auch in Europa genau davor gewarnt hätten. Das mag ja stimmen, aber es ist höchstens eine (zumindest teilweise) Erklärung für Moskaus Angriff auf, und fortdauernden Krieg gegen, sein Nachbarland, aber sicherlich keine Entschuldigung. Letztlich muß auch die Ukraine ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben dürfen, ohne gewalttätige Intervention des Nachbarn.

Stellen wir uns eine Straße mit Wohnhäusern vor. Die Bewohner der Hausnummern 1 und 9 kommen nicht sehr gut miteinander aus, und Hausnummer 1 ist mit den Bewohnern der Häuser Nr. 3, 5, und 7 mehr oder weniger eng befreundet. Im Lauf der Zeit kommen diese jedoch zu dem Schluß, nicht zuletzt aufgrund des Verhaltens des Hausherrn von Nr. 1, daß eine Freundschaft mit Haus Nr. 9 besser für sie wäre und sie nähern sich Nr. 9 an: zuerst Nr. 7, etwas später Nr. 5, und schließlich auch Nr. 3.

Der Hausherr von Nr. 1 regt sich fürchterlich darüber auf, bricht in Haus Nr. 3 ein, und beginnt, alles kurz und klein zu schlagen. Würden wir das gerechtfertigt finden und sagen, Wenn nur Nr. 9 sich nicht mit Nr. 7, 5, und 3 angefreundet hätte, dann wär das ja gar nicht passiert?

Leider neigen viele von uns dazu, Verhaltensweisen, die im zwischenmenschlichen Umgang völlig inakzeptabel wären, im zwischenstaatlichen Umgang zu entschuldigen — zumindest, so lange sie uns selbst nicht direkt und unmittelbar betreffen.

Aber früher oder später werden sie uns betreffen:

Hamish de Bretton-Gordon, ehemaliger britischer und NATO-Kommandant für chemische und biologische Waffen und jetzt Gastprofessor für Sicherheitsfragen, schreibt im Daily Telegraph,

«Wie Stalin hat auch Putin ein unersättliches Ego und ein Verlangen nach Größe, koste es, was es wolle. Diejenigen im Westen, die glauben, dass ein Waffenstillstand von einer Rückkehr zur „Normalität“ gefolgt werden könnte, sind völlige Narren. Niemand, der das Kreml versteht, glaubt, dass es sicher ist, dass Putin seinen Marsch nach Westen stoppen wird. Die zunehmende Militarisierung des russischen Staates und die wachsenden Forderungen nach einer größeren Offensive müssen als Warnung dienen, dass der Westen aufwachen muss, bevor er handelt. Wir müssen die Ukraine voll unterstützen und bewaffnen. Wenn wir das nicht tun, wird die NATO, wie vom polnischen Sicherheitschef vorausgesagt, innerhalb weniger Jahre im Krieg mit Moskau sein.»

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Reichtum und Demokratie

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Gestern hab ich über mein fehlendes Verständnis für Superreiche vom Schlag eines Dmitri Rybolowlew geschrieben. Heute berichtet ORF Online über die Millionenerbin Marlene Engelhorn, die mir wesentlich sympathischer erscheint.

Sie ist fest davon überzeugt, daß großer Reichtum mit großem Einfluß einhergeht; daß aber in einer demokratischen Gesellschaft niemand aufgrund ererbtem Reichtum mehr Einfluß und mehr Macht haben sollte, als alle anderen. Deshalb will sie ihr Millionenerbe im Lauf diesen Jahres “rückverteilen”, mit Hilfe eines, nach dem Zufallsprinzip ausgewählten “Bürgerrates.”

Einerseit ehrt sie diese Überzeugung und Absicht; andererseits gebe ich zu bedenken:

  • “Absolute” Demokratie ist nicht unproblematisch, weil das Wahlvolk erfahrungsgemäß sehr leicht zu manipulieren ist, und dann nicht nach vernünftigen, fakten-basierenden und ethischen Kriterien und im Sinne des Gemeinwohls abstimmt.
  • Ganz realistisch gesehen, läßt sich ererbter Reichtum, und Reichtum überhaupt, nur in einem autokratisch oder diktatorisch regierten Staat abschaffen, und wie die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt, kommt dieser Reichtum dann größtenteils nicht der Bevölkerung zugute, sondern einer privilegierten Funktionärsklasse[1].
  • Reiche Menschen mit moralischen und ethischen Überzeugungen und einem wachen Gewissen, die ihren überproportionalen Einfluß bewußt nicht mißbrauchen wollen, können mit ihrem Reichtum selbst wesentlich längerfristiger und nachhaltiger Gutes bewirken, als durch eine “Rückverteilung” nach dem Gießkannenprinzip (und genau das ist ein nach Zufallsprinzip ausgewählter „Bürgerrat“)[2].

Deshalb: Hut ab vor Frau Engelhorn, aber sie sollte ihre Entscheidung noch einmal überdenken — wir brauchen mehr Reiche von ihrem Schlag.


Cover Photo:
Friedrich.Kromberg
Potograpo: W.J.Pilsak

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  1. Auch nach einem Wechsel zur Demokratie – siehe Putins Rußland[]
  2. Ein nach dem Zufallsprinzip ausgewählter „Bürgerrat“ ist auch nicht gerade ein demokratisch legitimiertes Gremium[]
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Obszöner Reichtum

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ORF Online berichtet über den russischen Oligarchen Dmitri Rybolowlew, der von 2003 bis 2014 mehr als zwei Milliarden Dollar ausgab, um 38 Meisterwerke von einem Schweizer Kunsthändler zu kaufen, und der sich jetzt “abgezockt” fühlt.

Ich muß gestehen daß ich nur sehr wenig Mitgefühl habe für Menschen, die es sich leisten können, z.B. 45 Millionen Dollar[1] für ein Gemälde auszugeben, das eigentlich in einem Museum hängen sollte.

Angeblich waren die 45 Millionen “überhöht” — aber dann hat Rybolowlew das Gemälde für 450 Millionen Dollar versteigert.

Das besonders skurrile dabei ist, daß es sich um das Gemälde Salvador Mundi von Leonardo da Vinci handelt: Christus mit zum Segen erhobener rechter Hand, in der Linken eine Kristallkugel.

Rybolowlew und seinesgleichen, die Milliarden horten und auch Kunst primär unter dem Gesichtspunkt des Profits sehen, sind Paradebeispiele für all die Warnungen, die sich in der Bibel zum Thema materieller Reichtum finden — manches davon in den Worten eben dieses Erlösers der Welt.

 

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  1. 45 Millionen steht in dem verlinkten ORF-Bericht. Laut Wikipedia waren es 127,5 Millionen Dollar. Dann hat er es also um den dreifachen Preis weiterverkauft statt um den zehnfachen — immer noch obszön.[]
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Multikulti und Integration

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Derzeit macht wieder einmal ein mehr als zwanzig Jahre alter Text die Runde auf Facebook, Instagram, X (Twitter), etc., der im Lauf der Jahre schon verschiedenen Promis zugeschrieben wurde, darunter Donald Trump und der ehemaligen australischen Premierministerin Julia Gillard.[1]

Es geht in dem Text um die Integration von Asylanten und anderen Zuwanderern aus unterschiedlichen Kulturen, und ich glaube, viele, vor allem konservativere, Menschen in unserem Land würden ihm inhaltlich im Großen und Ganzen zustimmen.
 

Aber es gibt ein Problem: sowohl die falsche Zuschreibung als auch die Teils provozierenden und reißerischen Textteile, die klar gegen Muslime gerichtet sind, lassen es nicht als empfehlenswert erscheinen, diesen Text weiterzuverbreiten.

Dennoch enthält der Text etliche Aussagen, denen ich ohne Vorbehalt zustimmen kann:

  • In unseren westlichen Ländern gelten unsere demokratisch beschlossenen Gesetze, nicht die Scharia oder irgendwelche anderen, ausländischen oder fremden Rechtsnormen.
  • Einwanderer haben eine Bringschuld, sich ihrem neuen Heimatland und dessen Kultur möglichst weit anzupassen, nicht umgekehrt.
  • Einwanderer haben eine Bringschuld, möglichst schnell die Landessprache zu lernen.
  • Wer in unseren westlichen Ländern rechtliche Veränderungen herbeiführen will, muß dies über die bestehenden demokratischen Mechanismen tun. Diese stehen im Allgemeinen nur Staatsbürgern zur Verfügung. Bis sie also die neue Staatsbürgerschaft erhalten haben, müssen Einwanderer daher die bestehenden politischen Realitäten akzeptieren; jegliche Agitation gegen das neue Heimatland oder für politische Parteien im Herkunftsland sind zu unterlassen.

Andererseits gibt es auch einige Dinge, die man der einheimischen Bevölkerung ins Stammbuch schreiben sollte:

  • Bei uns herrscht Religionsfreiheit, nicht nur für Christen und andere “heimische” Religionen. Das bedeutet auch, Andersgläubigen selbst die Definition zu überlassen, was Teil ihrer Religion ist. Es ist z.B durchaus legitim, bei Behörden und in Schulen, usw., das Tragen von Kleidungsstücken wie dem Tschador zu verbieten; in der freien Öffentlichkeit sind solche Verbote fragwürdig.
  • Ja, es gibt eine Integrationspflicht, das heißt aber nicht, daß Einwanderer all ihre Gepflogenheiten ablegen müssen. Es gibt ja auch unter der einheimischen Bevölkerung genug Bräuche und Gepflogenheiten, die anderen auf die Nerven gehen; das muß man einfach aushalten.

Und den “progressiven” Kräften in unseren Ländern sei gesagt:

  • Von Zuwanderern jeder Art zu verlangen, daß sie sich an die im jeweiligen Land herrschenden Gesetze halten und die Sprache lernen müssen, und sie bei hartnäckiger Integrationsverweigerung auch des Landes zu verweisen, ist nicht ausländerfeindlich.
  • Eine multikulturelle Gesellschaft kann nur dann ohne größere Konflikte entstehen und auch funktionieren, wenn sich niemand überrollt und überfordert fühlt. Das erfordert Geduld. Alle, die Probleme mit Zuwanderern oder fremden Kulturen haben, ins rechte Eck zu stellen, überzeugt niemanden, sondern erzeugt Ressentiments und Märtyrer; da feiern dann Politiker wie Victor Orban, Geert Wilders, Marie Le Pen, Giorgia Meloni, Herbert Kickl, oder Donald Trump Wahlsiege.
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  1. Der Text stammt ursprünglich aus den USA um das Jahr 2001, und wird immer wieder leicht bearbeitet, um in den jeweiligen zeitlichen und geografischen Kontext zu passen. Ein deutliches Indiz für den US-Ursprung gibt es im Text selbst: die Aussage “Die meisten Menschen glauben an Gott, das Land wurde auf christlichen Prinzipien aufgebaut” ist etwas, was ein konservativer amerikanischer Politiker über die USA behaupten würde, aber sicher nicht eine linke, atheistische, australische Politikerin über eines der sekularsten westlichen Länder, das nicht auf christlichen Prinzipien aufgebaut wurde sondern eine ehemalige Sträflingskolonie ist.

    Und die deutsche Version ist eine miserable Übersetzung, wechselt ständig zwischen “sie” und “du”, und enthält so Unsinn wie “Recht auf Ausflug” für “right to leave“.[]

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Die Krise der nachchristlichen Kultur

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in sehr interessantes und provokantes Video des katholischen Podcasters und ehemaligen anglikanischen Priesters Gavin Ashenden[1]:

«Der große Fehler in der Verteidigung der westlichen Zivilisation scheint zu sein, dass sie den Glauben, der sie geschaffen hat, aufgegeben hat: das Christentum. Sie hat sich freiwillig und energisch vom Christentum losgesagt. Christen und liberale Säkularisten werden am kommenden Gedenkwochenende vor einer ernsten Herausforderung stehen, wenn, wie es wahrscheinlich ist, islamische Proteste “überkochen” und sich mit den Überresten der Erinnerungskultur konfrontieren.

Werden all die Säkularisten erkennen, dass der genussorientierte Konsumismus ideologisch nicht stark genug ist, um Grenzen zu setzen, um die islamische Expansion und den missionarischen Ehrgeiz einzudämmen? Sie haben sich bisher geweigert, dies zu glauben. Und wenn die Säkularisten zu ihren eigenen Grenzen und ihrer existentiellen Instabilität erwachen, wohin werden sie sich dann wenden?

Sie werden nur drei Möglichkeiten haben:

  • Mehr säkularen Pseudofortschritt, bei dem der Drache seinen eigenen Schwanz frisst und in immer größere Inkohärenz und Widerspruch gerät, während die DIE-Agenda (Diversity, Inclusion and Equity) ihn in einen wachsenden totalitären Wahnsinn saugt;
  • oder den Islam selbst, der wieder  andere Formen totalitärer Kontrolle verspricht, wie wir am Beispiel des Iran sehen;
  • oder drittens das Christentum und die christliche Kultur, in der Freiheit des Gewissens, Freiheit der Wahl, die Würde des Einzelnen als Ebenbild Gottes, der Vorrang der Vergebung und das Versprechen jener grundlegenden Freiheiten, die wir für selbstverständlich gehalten haben, angeboten werden.»

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  1. Gavin Ashenden ist ein ehemaliger anglikanischer Priester, der vor vier Jahren zur römisch-katholischen Kirche konvertierte, nachdem er von dem zunehmenden Revisionismus der Church of England desillusioniert war. Heute ist er Laie und schreibt und podcastet über aktuelle Themen in Kirche und Welt.[]
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Der Westen: Fehlende Überzeugungen

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In einer Podiumsdiskussion auf der ARC-Konferenz in London in diesem Monat wies Greg Sheridan darauf hin, dass alle diejenigen auf der Weltbühne, die dem demokratischen Westen feindlich gesinnt sind, von Menschen mit tiefen Überzeugungen geführt werden, und dass wir von ihren Handlungen überrascht sind, weil wir diese Überzeugungen nicht verstehen.

In seiner Antwort traf der Historiker Niall Ferguson den Nagel auf den Kopf, indem er unter anderem sagte:

„Ein Teil der Schwierigkeit, die wir haben, um ideologische Überzeugungen zu verstehen, ist, daß wir selbst keine haben. Es ist sehr schwer, diese Art von Motivation zu verstehen, wenn unser Glaubenssystem so erodiert ist, daß es bestenfalls ein Kosten-Nutzen-Analyse-Problem wird.“

Ich bin sicher nicht mit allem einverstanden, was auf dieser Konferenz gesagt wurde, aber die Vorträge und Panels sind sehr interessant und hörenswert.

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Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

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Ein Gastbeitrag von Heinrich Arnold[1] von der Bruderhof-Gemeinschaft

Anmerkung: Dieser Artikel eines Leiters der Bruderhof-Gemeinschaft[2], Heinrich Arnold, ist ein wertvoller Gedankenanstoß und Beitrag zu unseren Überlegungen zum Themenkomplex Feindesliebe/Selbstverteidigung/staatliche Gewalt/Gerechter Krieg (bellum iustum), der durch die Ereignisse in Israel brandaktuell geworden ist.[3]

Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

Ein Bruderhof-Pastor über die Frage, wie Christen auf die Hamas-Attacke auf Israel und essen Folgen reagieren sollen.

von Heinrich Arnold
12. Oktober 2023

Am Freitag, den 6. Oktober 2023 strömten Scharen von Menschen in die Synagogen Israels, um das Ende von Sukkot und den Beginn von Simchat Tora, „Freude an der Tora“, zu feiern. Während dieser freudige Festtag am Samstag anbrach, wurde unvorstellbares Unheil entfesselt. Tausende von Raketen schlugen in dem Gaza-Streifen nahegelegenen Städten, auch in Tel Aviv und Jerusalem ein. Maskierte Bewaffnete durchbrachen eine der am stärksten überwachten Grenzen der Welt, töteten ganze Familien, die noch im Bett lagen, vergewaltigten Frauen und nahmen schätzungsweise 150 Geiseln gefangen.

Inzwischen hat jeder von den schockierenden Gräueltaten gehört, die die Hamas in der letzten Woche in Israel verübt hat. Wie sollen wir Christen angesichts dieses Grauens reagieren?

Das Neue Testament fordert uns auf, mit den Trauernden zu trauern (Röm. 12,14). In einer Zeit wie dieser müssen wir mit dem israelischen Volk trauern, insbesondere mit den Überlebenden des Hamas-Angriffs. Und wir müssen auch mit den Zivilisten in Gaza trauern, die bereits als Kollateralschaden unter der militärischen Reaktion leiden. Wir müssen für den Frieden beten. Dies hört sich an wie eine Floskel. Aber wenn wir an die Macht Gottes glauben, in die Geschichte einzugreifen, bleibt das Gebet enorm wichtig.

Was sollten wir außer trauern und beten noch tun?

Aus vielen Ecken werden von den führenden Politikern der Welt strenge Maßnahmen gefordert. Dies ist mehr als verständlich angesichts der tiefen Wut, Angst und Panik, die die Israelis empfinden, wenn sie auf so schreckliche Weise von einer Organisation verletzt werden, die sich verpflichtet hat, ihr Land auszurotten. Der Wunsch nach einer raschen und heftigen Reaktion ist der Kern unserer menschlichen Reaktion auf das Böse. Wie viele andere bin ich mehrmals nach Israel und ins Westjordanland gereist, zuletzt im vergangenen Jahr, und habe auf beiden Seiten des langjährigen Konflikts in der Region enge Freundschaften geschlossen. Viele dieser Freunde haben Jahre damit verbracht, sich für Frieden und Dialog einzusetzen, um den tiefsitzenden Hass in ihrer Gesellschaft zu überwinden. Als ich in den letzten Tagen mit einigen von ihnen gesprochen habe, schilderten sie ihren unglaublichen Schmerz. Sie erleben ein Ausmaß an Wut und Angst vor der Zukunft, dass ich mir nicht vorstellen kann.

In meiner Gemeinschaft, dem Bruderhof, hat uns der Terror unter anderem durch die Massaker in Kibbuz-Gemeinden wie Kfar Aza und Be’eri, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden, darunter auch Kleinkinder und Säuglinge, besonders aufgewühlt. Die Freundschaftsbande zwischen den Kibbuzim und dem Bruderhof als zwei Gemeinschaftsbewegungen reichen neunzig Jahre zurück. Obwohl der Bruderhof eine christliche Gemeinde ist und die Kibbuzim jüdisch sind, teilen wir das Engagement für eine gemeinschaftliche Lebensweise und haben gemeinsame historische Wurzeln. Im Herzen sind wir mit diesen Gemeinschaften und mit allen, die in den letzten Tagen so viel Leid erfahren haben, verbunden.

Als Seelsorger kann ich nicht sagen, welche Maßnahmen die betroffenen Regierungen ergreifen sollten. Ich habe auch keinen Vorschlag, wie andere Weltmächte reagieren sollten. Die Regierungschefs werden ohnehin tun, was sie für das Beste halten. Hoffen wir, dass ihre Entscheidungen in den kommenden Tagen und Wochen dem Wohlergehen und dem Schutz aller betroffenen Menschen dienen, insbesondere der Schwächsten.

Aber auch wenn ich nicht sagen kann, was die Regierungen tun sollen, so weiß ich doch, wozu die Nachfolger Jesu aufgerufen sind.

Was wir Christen auf jeden Fall tun können: das Evangelium des Friedens bezeugen. Unsere Berufung ist es, für den Frieden und für alle Opfer von Gewalt zu beten, uns zu weigern, selbst Gewalt zu unterstützen, und Friedensstifter zu sein. Als Mitglieder seiner weltweiten Kirche auf Erden sollen wir in der gegenwärtigen Welt eine Botschaft des zukünftigen Friedensreiches sein.
Jesus sagte: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden­“ (Mt 5,9). Er lehrte: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen‘. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.“ (Mt 5,43-45).

Wir müssen jeden Krieg beklagen; wir dürfen niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Wir Christen müssen gegen die unmenschlichen Angriffe auf Israel protestieren – die kaltblütigen Angriffe auf Zivilisten, die Vergewaltigungen, das Massaker an Kindern, Frauen und älteren Menschen. Wir müssen uns auch gegen den Entzug von Wasser und Strom für die Zivilbevölkerung und die Bombardierung von Wohngebieten aussprechen. Wir müssen jeden Krieg beklagen. Das ist unsere Pflicht; zu schweigen ist eine Sünde. Vor allem in Momenten, in denen die öffentliche Stimmung blutrünstig und rachsüchtig wird, dürfen wir niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Welche Kraft kann solch ein Übel überwinden? Wieder lehrt uns Jesus die Antwort: Nur die Liebe kann wirklich über Feinde siegen.

Der Apostel Paulus griff die Lehre Jesu über das Friedenstiften auf und schrieb in seinem Brief an die Römer: „Ihr Lieben, rächt euch nicht, sondern überlasst es dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.‘ Ganz im Gegenteil: Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, wirst du brennende Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Wir können allzu leicht die Lehre Jesu über die Feindesliebe aus den Augen verlieren. Es ist verlockend, stattdessen nach Antworten zu greifen, die „realistischer“ erscheinen. Harte Antworten auf Feindseligkeit sind jedoch keine Garantie für Sicherheit; in der Tat lassen sich leicht Beispiele dafür finden, wie sie nach hinten losgehen können. Wir Christen glauben jedenfalls, dass der Weg Jesu, Frieden zu stiften, die einzige wirklich realistische Antwort auf das Böse ist.

Wir, die wir uns zu Christus bekennen, müssen zuversichtlich sein Gebot bezeugen, zu lieben und nicht auf Waffengewalt zu vertrauen. Wir müssen an seiner Verheißung festhalten, dass sein Friedensreich kommen wird und dass darin die Hoffnung der Welt liegt. Das ist die Zukunft, die der Psalmist verheißt:

Kommt und seht, was der Herr getan hat …
Er lässt die Kriege aufhören
bis an die Enden der Erde.
Er zerbricht den Bogen und zerschmettert den Speer;
er verbrennt die Schilde mit Feuer.
Er sagt: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin;
Ich will hoch erhoben werden unter den Völkern,
Ich bin hoch erhaben auf der Erde.“

Der Herr, der Allmächtige, ist mit uns;
der Gott Jakobs ist unsere Festung.


Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Plough.com als The Gospel of Peace in a Time of Terror. Copyright ©2023 by Plough Quarterly. Diese Übersetzung von Aidan Manke erscheint hier mit freundlicher Genehmigung.

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  1. Heinrich Arnold ist Senior Pastor der Bruderhof -Gemeinschaft in den USA und weltweit. Heinrich ist ein Urenkel des Bruderhof-Gründers und ist ein Vater, Großvater, Lehrer in den Schulen des Bruderhofs, und Heilpraktiker. Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift des Bruderhofs, Plough Quarterly, und bringt jeden Sonntag eine Evangeliumsbotschaft auf seinem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/c/JHeinrichArnold/featured). Er wohnt mit seiner Frau und Familie auf dem Woodcrest Bruderhof (https://www.bruderhof.com/en/where-we-are/united-states/woodcrest). Twitter: @JHeinrichArnold (https://twitter.com/JHeinrichArnold[]
  2. Die Bruderhof-Gemeinschaft ist eine Bewegung in der Tradition der Täufer, die eine am Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde orientierte Gütergemeinschaft praktiziert. Ihre Entstehung geht unter anderem auf die Eheleute Eberhard und Emmy Arnold zurück, die 1920 in Hessen die erste Bruderhof-Gemeinschaft gründeten. Nach der Vertreibung durch die Nationalsozialisten 1937 fanden sie zunächst Zuflucht im Fürstentum Liechtenstein und später in England. Heute gibt es Niederlassungen der Bruderhöfer in Australien, Großbritannien, Paraguay, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Österreich (in Retz und Stein/Furth) []
  3. Ich habe in den Tagen seit dem schrecklichen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zwei Beiträge hier auf dem Blog und viele weitere auf Facebook gepostet, in denen ich das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont habe. Wegen der unmenschlichen Strategie der Hamas, Terroreinrichtungen (die ein legitimes Ziel israelischer Angriffe sind) in Wohngebieten, Spitälern, Schulen, usw., unterzubringen, kommt es bei dieser legitimen Verteidigung zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung, und ich bleibe dabei: das ändert letztlich nichts an Israels Recht zu Selbstverteidigung.
    Ich weiß auch, daß es in der israelischen Armee (Israeli Defense Force, IDF) nicht wenige Menschen gibt, die an Jesus als den jüdischen Messias glauben. Ich weiß von einer solchen Familie, die fünf Kinder an der Front hat, drei eigene und zwei Schwiegerkinder, und nach meinem Verständnis des Neuen Testaments ist das legitim.
    Es gibt allerdings in der Kirche, der Gemeinde Jesu, von allem Anfang an, d.h. seit den Aposteln und frühen Kirchenväter, eine Tradition des Pazifismus, der Überzeugung, daß Jünger Jesu unter keinen Umständen zu irgendeiner Gewalt greifen sollen, sei es als Soldaten oder auch als Polizisten. Im Mittelalter ist diese Tradition etwas in der Versenkung verschwunden, und wurde dann, während der Reformationszeit, von den Täufern (oft als „Radikale Reformation“ oder als der dritte Flügel der Reformation, neben Lutheranern und Reformierten, bezeichnet) wieder entdeckt und aufgenommen. Heute lebt die Täuferbewegung in Form der Mennoniten, Amischen, und Hutterer weiter. Die Bruderhof-Gemeinschaft, die in der Zwischenkriegszeit des 20.Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist, steht ganz in dieser Tradition und war auch eine Weile sehr eng mit den Hutterern verbunden.
    Ich empfinde diese Tradition als sehr wertvoll, und vor allem heute als wichtiges Gegengewicht zu Strömungen in der Gemeinde Jesu, die staatlicher Gewalt zu kritiklos gegenüberstehen.[]
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Das G’frett mit dem Gendern

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Es is scho a G’frett mit dem Gendern:

In einem sehr interessanten Artikel mit dem Titel “A Eitrige mit an Buggl” beschreibt der stellvertretende auto  touring Chefredakteur Alexander Fischer die sieben besten Würstelstände in Wien sowie die Tauglichkeit des Honda Civic Type R Heckflügels als Stehtischchen.

Aber was mir gleich in den ersten paar Absätzen aufgefallen ist:

Warum schreibt Herr Fischer zwar von den Leser:innen und Wiener:innen, nicht jedoch von den Veganer:innen, Bruncher:innen, und Nachtschwärmer:innen?
Und auch die Würstelmänner und die (deutschen) Touristen scheints nur männlich zu geben. Ist auto touring nur selektiv inklusiv? Werden sich da die Veganerinnen, Bruncherinnen, Nachtschwärmerinnen, Würstelfrauen und Touristinnen nicht ausgegrenzt und diskriminiert fühlen?

Nun: Ich finde die Veganer, Buncher, Nachtschwärmer und Touristen genauso wenig sexistisch oder diskriminierend wie der Mensch; das ist jeweils ein generisches Maskulinum, eine grammatische Form, die beide Geschlechter umfaßt.  [1]

Der Rat für deutsche Rechtschreibung (RdR), die Regulierungsinstitution der Rechtschreibung des Standardhochdeutschen für Deutschland, Österreich, die Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, empfiehlt übrigens, auf Binnen-I, Gender-Sternchen, Gender-Doppelpunkt und andere fragwürdige Konstrukte zu verzichten, und bei Bedarf “Leserinnen und Lesern”, “Wienerinnen und Wienern”, “Touristinnen und Touristen”, usw., zu schreiben.

 

Das Titelbild, Würstelstand Kaiserzeit bei der Augartenbrücke in Wien 2, stammt von Guggerel und ist frei verfügbar unter der CCO-Lizenz.

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  1. Das generische Maskulinum umfaßt sogar alle Geschlechter, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, an die Existenz einer Vielzahl von Geschlechtern glaubt, im Gegensatz zu den diversen komischen Genderkonstrukten, die nur Männlein und Weiblein umfassen. Das “generische Maskulinum” ist daher fortschrittlicher und inklusiver als alle Genderkonstrukte 😉 .[]
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Der McDonald Test

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Dieser Artikel erschien vor ein paar Jahren in der englischsprachigen Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft, und obwohl er sich naturlich in erster Linie auf die Situation in den USA bezieht, glaube ich, daß er auch für uns hier im deutschsprachigen Europa wertvolle Gedankenanstöße und Lektionen enthält; deshalb gibt es ihn hier in deutscher Ubersetzung. Links auf das englische Original sowie Informationen über die Bruderhof-Bewegung und ihre Niederlassungen in Österreich gibt es am Ende des Artikels.

Der McDonald’s-Test
Das Amerika der hintersten Reihe lieben zu lernen

Von Chris Arnade
3. Juli 2019

Chris Arnade, einst Wall-Street-Banker, reiste drei Jahre lang kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten, um „die Orte zu besuchen, an die man nicht gehen sollte“. Seine Reisen führten ihn von der Bronx über die Ozarks nach East Los Angeles. Was er gelernt hat, teilt er in „Dignity“, einem brandheißen neuen Buch voller Essays und Fotojournalismus. Peter Mommsen von Plough traf sich mit ihm, um über Fast-Food-Läden, Ladenkirchen, Leistungsgesellschaft und die Frage zu sprechen, ob man Bettlern Geld geben sollte.

Plough: Was hat Sie dazu bewogen, dieses äußerst zeitaufwändige Projekt zu starten?

Chris Arnade: Es begann im Jahr 2012, als ich Anleihenhändler für eine renommierte Wall-Street-Bank war. Ich hatte das bereits zwanzig Jahre gemacht und wollte mehr von der Welt sehen. Also begann ich, lange Spaziergänge durch New York City zu unternehmen. Und schon bald fand ich mich an Orten, von denen mir die Leute in meiner sozialen Schicht abgeraten hatten, dorthin zu gehen.

Einer davon war Hunts Point, ein Viertel in der South Bronx[1], das als Zentrum für Drogen und Prostitution gilt. Letztendlich habe ich dort drei Jahre verbracht. Ich kam Obdachlosen, Sexarbeiterinnen und Süchtigen sehr nahe – einige ihrer Geschichten kommen in dem Buch vor. Es war einfach mein Versuch, Menschen zuzuhören, denen sonst niemand zuhören würde.

Im Jahr 2015 beschloss ich, mich auch mit anderen Orte in den Vereinigten Staaten zu beschäftigen, die ignoriert werden oder über die negativ gesprochen wird. Orte wie Lewiston, Maine, Bakersfield, Kalifornien oder El Paso, Texas.

In dieser Zeit haben Sie über 240.000 Kilometer zurückgelegt. Welche Motivation hat Sie am Laufen gehalten?

Eine Motivation war politischer Natur: ein Gefühl der Empörung. Wenn man in Hunts Point geboren wird, gibt es viele Dinge, die gegen einen sprechen. Es scheint, als wäre unser gesamtes Rechts-, Wirtschafts- und Kultursystem gegen diese Kinder gerichtet. Dennoch unterscheiden sie sich nicht von den Menschen, die man in der Upper East Side[2] findet – sie sind nicht dümmer, sie sind nicht weniger fleißig. Hier war ich, jemand, der zwanzig Jahre lang ein angenehmes Leben in New York geführt hatte und sich selbst als Liberalen betrachtete, in dieser Stadt, in der schreckliche Armut und Ungerechtigkeit herrschen. Ich wollte herausfinden, ob das auch anderswo der Fall ist.

Die zweite Motivation war persönlicher Natur. Die ersten ein oder zwei Jahre, in denen ich an diesem Projekt arbeitete, waren surreal, da ich noch an der Wall Street arbeitete. Am Wochenende oder abends bin ich mit meiner Kamera in „raue“ Viertel gegangen und habe mit Leuten gesprochen. Letztendlich habe ich mich entschieden, meinen Job aufzugeben und das zu tun, was ich jetzt tue, weil ich glücklicher war – glücklicher bin. Es ist ein sehr egoistischer Grund. Aber ich fühlte mich unter den Leuten in Hunts Point wohler als unter den Leuten an der Wall Street.

Fußballmannschaft der High School in Lewisto, Maine, wo es eine starke somalische Gemeinde gibt

Als Sie eine heruntergekommene Stadt in Missouri besuchten, begrüßten Sie die Einheimischen mit den Worten: „Sie müssen hier sein, um über Crystal Meth zu schreiben.“ Wie vermeidet ein Buch über arme Orte Voyeurismus?

Der Ausdruck, den die Leute dafür verwenden, ist „Armutsporno“. Mein Comeback ist: „Ich denke, wir brauchen etwas mehr Armutspornos. Wir haben genug Luxuspornos.“

Natürlich gibt es eine schlechte Art, über die Menschen an diesen Orten zu schreiben. Ich denke, es geht ausschließlich um Methodik und Absicht. Ich gehe manchmal in Ort- oder Nachbarschaften, ohne vorher etwas darüber zu lesen, um keine vorgefassten Meinungen mitzubringen.

Ein Ort, den ich besuchte, war Prestonsburg, Kentucky. Das Zentrum dieser Ortschaft ist ein Platz mit einem McDonald’s und einem Walmart.[3] Jeden Tag, als ich dort war, sah ich einen Mann, der draußen auf einem Picknicktisch Zigaretten rauchte; Er arbeitete in einer Nachtschicht in einem der Geschäfte. Jeden Tag weigerte er sich zu reden. Nach zwölf Tagen sagte er: „Gut, Sie können ein Foto von mir machen.“ Wir unterhielten uns, er gab mir ein paar Zitate und wir lachten. Am Ende sagte er: „Erzählen Sie nicht nur die Geschichte, wie Prestonsburg voller Drogen und Süchtiger ist. Ich hoffe, Sie erzählen auch die Geschichte darüber, dass wir gute Menschen sind.“

Das ist meine Absicht mit diesem Buch. In allen Ortschaften und Nachbarschaften, die ich besuchte und die so unterschiedlich waren, spürte ich den gleichen Wunsch nach Würde.

Unterwegs haben Sie achthundert McDonald’s-Restaurants besucht. Warum?

Mein altes Ich, mein erfolgreiches Anleihenhändler-Ich, hielt McDonald’s immer für einen peinlichen Ort, den ich nie aufsuchen würde. Aber als ich anfing, Hunts Point zu besuchen, aß ich ständig bei McDonald’s. Es war einer der wenigen öffentlichen Orte in der Nachbarschaft, die funktionierten.

Ich freundete mich eng mit einigen obdachlosen Heroinsüchtigen an, und ihr Leben drehte sich in vielerlei Hinsicht um McDonald’s. Hier gehen sie auf die Toilette, um sich zu waschen. Hier können sie ihr Telefon anschließen und aufladen. Hier können sie einfach eine Stunde lang ruhig dasitzen und ungestört der Hitze oder Kälte entfliehen. Dort bekommen sie auch günstiges Essen. Ich respektiere das Essen vielleicht nicht aus ethischen Gründen, aber es ist billig und schmeckt gut. Für Leute, die nicht viel Geld haben, zählt das viel. Da herrschte ein echtes Gemeinschaftsgefühl.

Mir wurde klar, dass die McDonald’s-Restaurants im ganzen Land tatsächlich Gemeinschaftszentren waren. In Städten, in denen die Dinge wirklich nicht funktionieren, in denen staatliche Dienste versagen und gemeinnützige Organisationen und der Privatsektor den Menschen nicht helfen, ist McDonald’s einer der wenigen Orte, der noch geöffnet ist, noch über funktionierende Toiletten verfügt und wo das Licht brennt.

Schließlich kam ich auf den sogenannten McDonald’s-Test. Die allgemeine These meines Buches ist, dass unsere Gesellschaft die Menschen in das einteilt, was ich die erste und die hintere Reihe nenne – die privilegierte Klasse, zu der ich früher gehörte, die finanziell abgesichert ist und in sicheren Gegenden mit guten Schulen und öffentlichen Dienstleistungen lebt – und alle anderen. Der Test besteht darin, eine Person zu fragen: Wie sehen Sie McDonald’s? Meiner Erfahrung nach verrät die Antwort meist, ob jemand zur ersten oder zur hinteren Reihe gehört.

Ich verstehe die Anti-McDonald’s-Stimmung – was diese riesigen globalen Konzerne in dieser hart umkämpften, extrem materialistischen Welt getan haben. Diesen Unternehmen geht es darum, in die Nachbarschaften zu kommen, dort Geld zu verdienen und es wieder herauszunehmen, und natürlich trifft das auch auf McDonald’s zu.

Aber die Realität ist, dass McDonald’s im Leben armer Menschen wichtig ist. Die Menschen wollen wirklich ein Gemeinschaftsgefühl – sie sehnen sich so sehr nach dem Sozialen, dass sie Gemeinschaften an Orten bilden, die ausschließlich auf Transaktionen ausgerichtet sind. McDonald’s ist natürlich darauf ausgelegt, dich so schnell wie möglich rein- und wieder rauszuholen. Aber was ich fand, waren Gruppen für alte Männer, Gruppen für alte Frauen, Bibelstunden und Schachspiele.

Bingo-Tag in einem McDonald’s in Louisiana

Sie haben auch viele Kirchen besucht. Wie war das für mich als Atheist?

Als ich anfing, war ich auf jeden Fall Atheist; jetzt ist es komplizierter. Ursprünglich ging ich aus dem gleichen Grund in die Kirche wie zu McDonald’s: Die Leute, mit denen ich sprach, gingen dorthin. Ich machte keinen Unterschied, sondern ging einfach in die Kirche oder Moschee, die es dort gab, von der Religion, die die Bevölkerung widerspiegelte.

So wie McDonald’s, funktionierten auch die Kirchen. Sie waren oft die einzigen Einrichtungen, die beleuchtet und funktionsfähig waren; Normalerweise handelte es sich dabei um Ladenkirchen[4]. Man ging eine Straße entlang, die mit Brettern vernagelt war, verlassene Gebäude und dann war da eine Kirche. Ihre Türen waren nicht geschlossen.

In meinem Buch gibt es nicht viele Erfolgsgeschichten – es gibt fast niemanden, der aus einem negativen Lebensstil herausgekommen ist. Die einzigen Menschen, denen es gelang, taten es durch den Glauben – durch die Kirche. Und so empfand ich zunächst widerwilligen Respekt und dann vollen Respekt vor dem, was die Kirchen tun.

Viele der Menschen, die Sie getroffen haben und deren Lebensstil im Widerspruch zum traditionellen Glauben steht – zum Beispiel eine transsexuelle Prostituierte – stellen die Bibel immer noch in den Mittelpunkt ihres Lebens.

Wenn Sie in ein Crack-Haus gehen, finden Sie eine Bibel oder einen Koran. Es werden alle möglichen verrückten Dinge passieren, aber sie werden religiöser Natur sein. Ein Teil davon ist der Öffentlichkeitsarbeit geschuldet: die Religionsgemeinschaften leisten hervorragende Arbeit im Dienst an den Armen. Aber sie finden auch in der Bibel und in den Kirchen eine Gemeinschaft, die sie versteht. Ja, es gibt religiöse Kreise, die sie verurteilen, aber die meisten dieser Kirchen verlangen nicht viel. Sie sagen: „Versuche, diesen Lebensstil zu leben, und wir werden dich akzeptieren.“

Ich denke auch, dass das, was sie in der Bibel sehen, eine Akzeptanz des Scheiterns ist, oder zumindest die Erkenntnis, dass jeder ein Sünder ist und dass wir alle gefallen sind und dass wir das alles nicht wirklich verstanden haben. Und dass es da draußen etwas gibt, das größer ist als wir. Wenn Sie in einem Crack-Haus leben und die enormen Ungerechtigkeiten dieser Welt auf einer emotionalen Ebene sehen, ist die Vorstellung, dass dies alles ist, was existiert, überhaupt nicht verlockend.

Menschen wie ich – wohlhabend, gebildet, wissenschaftlich – haben sich von den Beweisen des Glaubens entfernt. Ich denke, es ist viel einfacher, die Bibel als etwas Wichtiges zu betrachten, wenn man auf der Straße lebt und die Sterblichkeit, das Scheitern und die Demut versteht.

Wie haben Ihre Reisen Ihre Ansichten über Erfolg und Leistungsgesellschaft verändert?

In unserer Gesellschaft beurteilen wir einander nach Bildung – die Idee dahinter ist, dass Bildung das Wichtigste im Leben ist und dass es du selbst schuld bist, wenn du dabei versagst. Selbst in höflicher Gesellschaft kann man sich über jemanden lustig machen, der in der Schule nicht gut abschneidet. Wir haben nicht nur ein System, das Bildung belohnt, wir haben auch eine sehr enge Definition dessen, was Klugheit bedeutet.

Portsmouth, Ohio

Diese Denkweise ist zutiefst materialistisch und beruht auf der Vergötterung von Qualifikationen, in der Regel einem Universitätsabschluss. Der Erfolg hängt dann davon ab, wie viel Geld Sie verdienen und wie viele Diplome Sie sammeln.

Das Problem bei einer solchen Definition von Erfolg besteht darin, dass man zwar leicht messen kann, wie viel Bildung oder Geld jemand hat, es aber sehr schwierig ist, den Wert davon zu messen, gute Eltern zu sein oder sich dafür zu entscheiden, in seiner Heimatstadt zu bleiben und sein Leben damit zu verbringen, einen Beitrag zu ihr zu leisten. Wenn es uns mit einer meritokratischen Denkweise nicht gelingt, Dinge zu finden, die wir beziffern können, neigen wir dazu, ihren Wert zu übersehen.

Wie sehen alternative Erfolgsformen aus?

Als ich Zeit in Ost-Los Angeles verbrachte, einem größtenteils mexikanisch-amerikanischen Viertel, ging ich immer zu einem McDonald’s, um meine Notizen zu machen. Mir ist dort jeden Abend eine junge Frau aufgefallen. Ich fragte: „Warum bist du jede Nacht hier?“ Sie sagte: „Ich brauche das WLAN. Wir haben zu Hause kein Geld dafür.“ Sie ging zu einem Community College[5]in der Nähe.

Als sie herausfand, dass ich aus New York komme, erzählte sie mir, dass sie dort gerne zur Schule gehen würde. Ich bot ihr an, Kontakte zu guten Schulen zu vermitteln, aber sie sagte, das sei nicht möglich. Es stellte sich heraus, dass sie die älteste Tochter einer sechsköpfigen Familie war und die Übersetzerin für die Familie.

Gemessen an den üblichen Maßstäben des Erfolgs war es dumm, die Chance ausgeschlagen zu haben. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie wollte für ihre Familie da sein.

In Reno, Nevada, traf ich einen afroamerikanischen Teenager, der die Chance, eine Universität außerhalb des Bundesstaates zu besuchen, abgelehnt hatte und stattdessen ein örtliches Community College besuchte. Sein Hauptgrund war, dass seine Mutter nach zwölf Jahren Sucht nüchtern war und er für sie da sein musste.

Ich bin der Meinung, dass diese beiden Kinder die richtige Entscheidung getroffen haben. Wenn Sie mir diese Geschichte vor zehn Jahren erzählt hätten, hätte ich das wahrscheinlich nicht gedacht. Es besteht das Gefühl, dass wir alle unabhängige Franchise-Unternehmen sein sollten, die einfach dorthin ziehen, wo wir wollen. Es gibt kein Ortsgefühl.

Welche Lektion war für Sie am schwierigsten zu lernen?

Als ich mit diesem Projekt begann, wollte ich den Drogendealern und Sexarbeitern in Hunts Point helfen. Nach ein paar Jahren wurde mir klar, dass ich die Realität der Menschen, denen ich angeblich helfe, nicht verstand.

Ich habe gelernt, dass die Realität der gebildeten Elite ganz anders ist als die Realität der Arbeiterklasse. Es reicht von dem, was man denkt, über das, was man isst, über den Ort, wo man einkauft, bis hin zu den Personen, mit denen man verkehrt. Diese Entfernung, diese Trennung bedeutet, dass man sich mit der Zeit immer weniger versteht. Die gebildete Elite versteht die Arbeiterklasse nicht und umgekehrt. Es geht in beide Richtungen, aber es ist die gebildete Elite, die sich zurückgezogen hat.

Nehmen Sie Walmart. Es gibt viele Gründe, Walmart nicht zu mögen, aber wenn Sie die Einwandererbevölkerung in einer Stadt kennenlernen möchten, beginnen Sie mit Walmart. Natürlich gehen viele Leute aus der Mittelschicht zu Walmart, aber im Allgemeinen gehen sie nicht um zwei Uhr morgens hin, wo es dann am interessantesten is. Viele Walmarts haben diese wunderbare Regelung, die es Menschen erlaubt, über Nacht zu parken, sodass Obdachlose in ihren Autos auf Walmart-Parkplätzen schlafen und dann morgens die Walmart-Toiletten benutzen. Ich fand, dass diese Geschäfte einer der besten Orte sind, um Menschen zu begegnen, die oft unsichtbar sind.

Gebildete Menschen, die ich die erste Reihe nenne, verstehen solche Details des Lebens nicht. Aber sie verstehen auch nicht, wie die Leute in der hinteren Reihe denken und worauf sie Wert legen – oft auf Familie, Ort und Glauben, nicht auf Karriere und Qualifikationen.

Ich befürchte, dass die Kluft inzwischen so groß ist, dass wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich zwischen den beiden übersetzen konnte.

300 Meter entfernt von er mexikanischen Grenze in E Paso, Texas

Einwanderung ist in den meisten westlichen Ländern zu einem politisch heissen Thema geworden. Kritiker der Einwanderung behaupten, dass sie die kulturelle Identität verwässere und so die Volksgemeinschaft schwäche, insbesondere in Arbeitervierteln. Haben Sie festgestellt, dass dies der Fall ist?

Nichts könnte falscher sein als diese Aussage. Das Einzige, was in diesen Städten funktioniert, ist oft die Einwanderergemeinschaft. Lewiston, Maine, war bis 1998 ausschließlich weiß und christlich – nach der Ankunft somalischer Einwanderer sind es jetzt 15 Prozent Schwarze und Muslime. Sie haben eine leere, verlassene Innenstadt in einen lebendigen Teil der Stadt verwandelt.

Für mich als Südstaatler, der die letzten Jahrzehnte in New York verbracht hat, war es oft ein Schock, kleine Städte im Süden zu besuchen und eine blühende mexikanisch-amerikanische Gemeinschaft vorzufinden. Oftmals sind sie die Einzigen, die familiengeführte Restaurants und Geschäfte in leerstehenden Stadtvierteln betreiben.

Man kann jedoch nicht leugnen, dass die Geschwindigkeit des Wandels in diesen Städten vielen älteren Menschen Angst macht. Nachbarschaften, die seit zweihundert Jahren ein starkes Gefühl der lokalen Identität haben, werden plötzlich auf den Kopf gestellt. Viele dieser Nachbarschaften haben sehr gelitten und Einwanderer können leicht zum Sündenbock werden.

In Lewiston traf ich zum Beispiel einen Weißen aus der Arbeiterklasse, einen Vietnam-Veteranen. Seit dreißig Jahren läuft es für ihn nicht mehr gut; er lebt hin und wieder in Sozialwohnungen; er ist immer wieder abhängig von der Sucht. Jede Woche, wenn er an der örtlichen Tafel[6] seine Essensration abholt, muss er in der Schlange stehen – und in den letzten Jahren musste er länger warten, weil die Hälfte der Menschen vor ihm Somalier sind. Ich werde die Worte, die er gesagt hat, nicht wiederholen. Sie waren nicht angenehm, aber es ist leicht zu erkennen, wie er dorthin gekommen ist. Für ihn ist es leicht, Einwanderung als Schuldigen auszumachen.

Sie schlagen vor, dass Rassismus eine Sache ist, die sich möglicherweise weniger verändert hat, als die Leute zugeben möchten.

In den Vereinigten Staaten herrscht schrecklicher Rassismus, der weder geleugnet noch gemildert werden kann. Was jedoch vergessen wird, ist, dass die fortschrittlichsten Städte oft die am stärksten getrennten Städte sind. Wir neigen dazu, uns auf die hässlichen Vorfälle von Rassismus zu konzentrieren, die in der weißen Arbeiterklasse passieren, und ignorieren den Rassismus der Eliten, der weniger offenkundig ist, weil er strukturell ist. Es geht um die Flächennutzungs- und Bebauungsvorschriften,, darum, wo die besten Schulen sind, wer eher verhaftet oder inhaftiert wird und wo es gute Arbeitsplätze gibt.

Mein Besuch in Milwaukee, einer Stadt, die bekannt ist für ihre fortschrittliche Politik, hat mir das gezeigt. Historisch gesehen war die afroamerikanische Gemeinschaft absichtlich auf ein winziges Viertel der Stadt beschränkt, und sie konzentriert sich auch heute noch größtenteils dort. Die meisten Afroamerikaner kamen in den 1940er und 50er Jahren aus demselben Teil von Mississippi hierher. Ich habe viel Zeit mit den älteren Mitgliedern dieser Bevölkerungsgruppe verbracht, die im segregierten Süden aufgewachsen waren und dann nach Norden gezogen waren. Sie sagten mir immer wieder: „Der Rassismus hier ist nicht besser als dort.“ Milwaukee wählte bereits vor einem Jahrhundert Sozialisten in den US-Kongress. Aber diese Männer sagten mir: „Sehen Sie, der Rassismus ist hier anders. Der Rassismus im Süden war sehr offen und direkt. Hier geschieht er hinter Ihrem Rücken – sie reden nur schön, aber sie tun es nicht.“ In ihren Augen waren sie immer noch auf Nebenjobs und ein Nebenviertel beschränkt, wobei hohe Barrieren die jungen Menschen an ihrem Platz hielten.

Eine Taglöhnerin in Selma, Alabama

Einer der eindringlichsten Abschnitte Ihres Buches beschreibt Selma, Alabama, das vor allem für seine Rolle in der Bürgerrechtsbewegung bekannt ist. Sie schreiben, wie Sie wunderschön erhaltene historische Denkmäler der Selma-Märsche von 1964 vorfanden, umgeben von heruntergekommenen Wohnprojekten.

Ich liebe Selma – die Leute dort waren sehr herzlich zu mir. Aber sie sind nicht glücklich. Es gibt schöne Teile von Selma, aber sie sind klein und zurückhaltend. Die Realität für die meisten Menschen dort, für die meisten Afroamerikaner, ist Entmündigung, nicht nur rechtlicher, sondern auch wirtschaftlicher Art. An allen Orten, die ich besuchte, habe ich noch nie Menschen gesehen, die so offen Schusswaffen trugen oder so offen und lässig mit Drogen handelten wie in Selma.

Unter den Menschen dort herrscht eine Wut, eine berechtigte Wut, und eine stille Bitterkeit und ein Zynismus darüber, ob politisches Handeln irgendetwas ändern kann. (Natürlich hat Alabama es den Schwarzen sehr leicht gemacht, nicht zu wählen – tatsächlich haben sie alles getan, um sie davon abzuhalten, zu wählen.) Die Realität von Selma heute legt nahe, dass die Bürgerrechtssiege der 1960er Jahre weitgehend symbolischer Natur waren. Es muss noch viel mehr getan werden.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie den Menschen zunächst helfen wollten, dann jedoch gelernt haben, dass Sie sie zuerst verstehen müssen. Aber wie hilft man jemandem, der in einem negativen Muster gefangen zu sein scheint?

Ich denke, das Beste, was man tun kann, ist, für Momente der Würde zu sorgen – ihnen zuzuhören und sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Wenn jemand eine saubere Mahlzeit braucht, geben Sie ihm eine saubere Mahlzeit; Wenn jemand ins Krankenhaus muss, bringen Sie ihn hin.

Ich werde oft gefragt: „Nun, in meiner Nähe ist ein Obdachloser. Was soll ich machen?” Behandeln Sie ihn oder sie einfach wie einen normalen Menschen. Setzen Sie sich hin und reden Sie mit ihr oder ihm. Laden Sie sie wirklich zum Kaffee ein. Wenn Sie gemeinsame Interessen haben, sprechen Sie darüber. Seien Sie nicht vorgetäuscht freundlich.

Eines der Dinge, die ich gelernt habe, ist, jeden zu umarmen. Es ist mir egal, wie schmutzig sie sind – ich habe Menschen umarmt, die seit zwei oder drei Monaten nicht gebadet haben. Es ist ein Zeichen dafür, dass Sie bereit sind, sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Sie sollten jeden mit Würde behandeln, aber insbesondere für Menschen, die an der Schwelle stehen, ist das vielleicht das Wichtigste.

Gehört dazu auch, Bettlern Geld zu geben?[7]

Ja. Ich habe immer einen Fünf-Dollar-Schein in meiner Tasche – Leute, die betteln, schauen mich oft komisch an, weil ich tausend Dollar aus meiner Brieftasche herausziehe, alles in Fünfer-Scheinen. Die meisten Drogen kosten neun Dollar, also gebe ich weniger. Wenn ich jemandem fünf Dollar gebe und er vier Dollar mehr verlangt, weiß ich genau, was los ist. Vielleicht lade ich sie zu McDonald’s ein und spendiere ihnen eine Mahlzeit.

Was hoffen Sie, was die Leute tun werden, nachdem sie Ihr Buch gelesen haben?

Schauen Sie sich an, was über materielle Dinge hinaus wertvoll ist. Viele Menschen finden die Welt schrecklich, aber es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt als jetzt, um ein Leben jenseits des Kapitalismus zu gestalten.

In Hunts Point lernte ich eine Süchtige kennen – sie hieß Millie. Sie starb. Das weiß ich nur, weil sie verschwunden ist und ich mehrere Wochen damit verbracht habe, sie aufzuspüren. Wenn man in New York City ohne Papiere oder Ausweis stirbt, wird man nach Hart Island geschickt, wo eine Million Leichen begraben sind. Sie werden in eine Sperrholzkiste gesteckt, in einen Graben gesteckt und von Gefängnisinsassen von Rikers Island begraben. Grundsätzlich ist es nicht gestattet, die Gräber zu besuchen.

Als ich schließlich erfuhr, dass Millie tot war und wo sie begraben lag, kam ich zum Nachdenken. Es gibt ein Sprichwort: „Du stirbst nicht wirklich, bis die Leute aufhören, über dich zu reden.“ Wenn das wahr ist und Sie auf Hart Island in einer Sperrholzkiste begraben sind und es keine Möglichkeit gibt, das Grab zu besuchen, werden Sie viel schneller sterben. Die Erinnerung an Sie wird einfach verschwinden.

Also half ich schließlich dabei, Millies Leiche zu exhumieren und ordnungsgemäß zu begraben. Ich hab mich darauf eingelassen und dachte: „Als Atheist, warum mache ich das? Wen kümmert es, wo du begraben bist? Du bist tot.” Aber diese symbolische Aktion war für Millies Straßenfamilie von großer Bedeutung. Es gab eine Gedenkstätte, die man besichtigen konnte. Es gab einen Grabstein. Ihre Erinnerung würde noch ein wenig in Erinnerung bleiben.

Machen Sie aus Armut keinen Fetisch. Aber seien Sie etwas eher bereit, in Gegenden zu gehen, in die “man” eigentlich nicht geht. Nehmen Sie sich Zeit, den Menschen zuzuhören. Schenken Sie ihnen Respekt.


Das englische Original dieses Artikels erschien  im Juli 2019 im Plough-Magazin[8], der Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft. Deutsche Übersetzung und Fußnoten von Wolf Paul mit Erlaubnis von Plough.

Die Bruderhof-Gemeinschaft entstand im Deutschland der Zwischenkriegszeit.  Wegen ihrer pazifistischen Überzeugungen und ihrer Gegnerschaft zum Nazi-Regime aus Deutschland vertrieben, migrierten sie über Liechtenstein und England nach Paraguai und landeten schließlich in den USA. Inzwischen gibt es Niederlassungen auf jedem Kontinent außer Afrika, und seit 2019 (Retz) und 2021 (Furth/Maria Anzbach) auch in Österreich. Die Bruderhof-Gemeinschaft sieht sich in der Tradition der ersten Christen sowie der aus Habsburg-Österreich stammenden Täufer-Bewegung der Hutterer. In Österreich haben sich die Niederlassungen der Bruderhof-Gemeinschaft der Mennonitischen Freikirche angeschlossen und sind daher Teil der gesetzlich anerkannten Freikirchen in Österreich.

Der Autor, Chris Arnade, wuchs in Florida auf, studierte Physik an der John Hopkins University und arbeitete für eine Bank an der Wall Street, bevor er freischaffender Schriftsteller und Fotograf wurde.

 

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  1. Die South Bronx ist ein Stadtteil von New York City, unmittelbar nördlich von Manhattan, dem Zentrum der Finanzindustrie[]
  2. die Upper East Side ist das Nobelviertel von Manhattan[]
  3. Kaufhaus-Kette, deren Filialen wie auch die meisten Supermärkte teilweise rund um die Uhr geöffnet sind []
  4. Ladenkirchen, engl. Storefront Churches, sind Gemeinden, die in einem Geschäftslokal untergebracht sind, umgeben von anderen Geschäften, oder von leerstehenden, zugenagelten Geschäftslokalen.[]
  5. Community Colleges bieten “halb-universitäre” Lehrgänge an, oft mit dem Schwerpunkt auf beruflichen Qualifikationen. Im Gegensatz zu normalen Colleges und Unis dauern die Lehrgänge nur zwei statt vier Jahre und schließen mit einem Associate Diplom ab, statt mit einem Bachelor. Sie sind auch wesentlich billiger.[]
  6. Soziaeinrichtungen, oft von Kirchengemeinden betrieben, die an sozial Schwache Essen verteilen[]
  7. Es gibt die weit verbreitete Meinung, daß man Bettlern kein Geld geben soll, weil sie es nur für Alkohol und Drogen ausgeben würden, oder Teil einer sogenannten Bettler-Mafia sind.[]
  8. Plough erscheint auch auf Deutsch[]
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Ein interessantes Video zu einem wichtigen Thema

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Als Christ, der in der Bibel die Selbstoffenbarung Gottes sieht, bin ich überzeugt davon, daß Sex nur in der lebenslangen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, und nur wenn beide es wollen, optimal ist. Alles andere widerspricht der Schöpfungsordnung Gottes, ist daher sub-optimal und bringt nur Probleme mit sich.

Aber auch außerhalb des von der Bibel vorgegebenen Rahmens gibt es Einschränkungen, die teils allgemein akzeptiert und teils sehr umstritten sind. Die wenigsten Menschen finden z.B. Sex mit Kindern oder mit Tieren akzeptabel, und die meisten würden zustimmen, daß jede Form von sexuellem Kontakt nur dann erlaubt ist, wenn es beide wollen — sogenannter konsensualer Sex.

Dieses Video illustriert eine leider immer noch (vor allem unter Männern) weit verbreitete Meinung:

Daß nämlich die Zustimmung einer Frau nicht ausdrücklich erteilt werden muß, sondern von bestimmten Signalen abgeleitet werden kann. Eine Frau, die sich sexy oder sehr leicht bekleidet, oder sich an bestimmten Orten aufhält, oder die einem Mann scheinbar bestimmte Blicke zuwirft, oder die auch nicht ausdrücklich sagt, daß sie nicht belästigt werden will, die will ja sexuell angegangen werden, die drückt ja damit Zustimmung aus.

Wie der Vergleich mit einem Mann, der angeblich einen Überfall provoziert hat, weil er gut gekleidet und offenbar wohlhabend unterwegs war, klar macht, ist das absoluter Schwachsinn. Konsens besteht nur dann, wen er ausdrücklich ausgesprochen wird, selbst zwischen Eheleuten.

Man kann also Frauen, die sexuell belästigt oder gar vergewaltigt wurden, keine gewisse Mitschuld zuweisen, weil sie (nach welchen Standards auch immer) zu aufreizend gekleidet war, freundlich gelächelt hat, oder sich z.B. spät nachts an gewissen Oten aufgehalten hat. Wenn sich ein Mann nicht beherrscht, und stattdessen seinem Sexualtrieb nachgibt, mit einer Frau, die das nicht ausdrücklich will, ist das ausschließlich seine Schuld.

Andererseits leben wir in einer gefallenen Welt, d.h. in einer Welt, wo sich die meisten von uns nicht immer so verhalten, wie wir sollten, und genauso wie es Menschen gibt, die ihren Neid nicht beherrschen und daher rauben, einbrechen und stehlen (weshalb wir z.B. unsere Wohnungs- und Autotüren verschließen und sogar oft mit Sicherheitsanlagen zu schützen versuchen), gibt es auch Menschen, die ihren Sexualtrieb nicht beherrschen (wollen oder können, ist egal) und daher sexuell übergriffig werden. Das ist natürlich eindeutig ihre Schuld, und “das Kleid war zu kurz” ist genausowenig eine Entschuldigung, wie “die Haustür war offen.”

Aber genauso, wie ein kluger Mensch seine Wohnung abschließt, bevor er das Haus verläßt, paßt ein kluger Mensch auch sein Aussehen und seine Kleidung an die realen Gegebenheiten an, und spaziert z.B. nicht im Minirock oder im Armani-Anzug durch den nächtlichen Prater.

Wenn man darauf hinweist, wird das sehr schnell als Verteidigung der Täter interpretiert — als “Enabling“, wie das englische Modewort lautet. Aber das ist genauso unlogisch, wie das Zusperren der Wohnungstür als Verteidigung bzw Enabling von Einbrechern zu bezeichnen.

Als meine Tochter jünger war, war ich als Vater natürlich um ihre Sicherheit besorgt und habe ihr daher entsprechende Ratschläge gegeben, was Kleidung und gewisse Stadtteile, vor allem nachts, angeht. Wildfremde Männer zu erziehen war zu diesem Zeitpunkt nicht mein Fokus und ist auch nicht meine Aufgabe. Ich wollte einfach, daß sie sicher nach Hause kommt; eine Grabsteininschrift “Sie hatte das Recht, so angezogen nachts durch den Prater zu laufen” hätte sie mir und ihrer Mutter im schlimmsten Fall nicht wiedergebracht, genausowenig wie die Inschrift “Er hatte Vorrang” auf dem Grabstein einer Verkehropfers.

Manchmal ist es weiser, nicht alles zu tun, was man tun darf. Um nocheinmal die Bibel zu zitieren: Mir ist alles erlaubt, aber nicht alles tut mir gut.

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