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Wolf’s Notes

… about faith, life, technology, etc.

Der Fall Angela Carini – Imane Khelif

2024-08-02 Wolf Paul

Ein paar Gedanken, angestoßen von der Kausa Carini-Khelif, aber auch darüber hinausgehend, in willkürlicher Reihenfolge, die wahrscheinlich zu meiner Einstufung als rückständiger und “transphober” männlicher Chauvinist führen werden — sei’s drum, als “homophob” gelte ich ohnehin schon.[1]

  • Ich sage „Hut ab!“ vor Angela Carini, die sagte, „Wenn sie nach Meinung des IOC kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung. Diese Kontroversen haben mich traurig gemacht, und es tut mir leid für die Gegnerin, die auch nur hier ist, um zu kämpfen“, sagte Carini. Dass sie nach dem Ende des Kampfes den üblichen Handschlag verweigert habe, sei ein Missverständnis gewesen: „Das war keine absichtliche Geste, ich entschuldige mich bei ihr und bei allen. Ich war wütend, weil die Olympischen Spiele für mich vorbei waren. Ich habe nichts gegen Khelif, wenn ich sie noch einmal treffen würde, würde ich sie umarmen.“ Hochachtung!
  • Ich halte Boxen generell für untauglich als  Sportart, und erst recht für Frauen unpassend. Das ist eine Fähigkeit, die sicherlich in die Polizei- und Soldatenausbildung, sowie eventuell in Selbstverteidigungskurse, gehört, aber nicht in die olympischen Spiele.
  • J.K. Rowling setzt sich seit Jahren dafür ein, biologisches/genetisches Geschlecht (engl. Sex) und das davon möglicherweise abweichende soziale Geschlecht (Gender) auseinander zu halten, und tritt in diesem Zusammenhang lobenswerterweise dafür ein, mühsam erkämpfte Schutzräume für biologische/genetische Frauen zu erhalten. Beide Positionen unterstütze ich voll und ganz.
  • Ob es sich bei Imane Khelif tatsächlich um einen Mann oder eine Frau handelt, ist mir nicht klar. Imane scheint nicht in das typische Transgender-Muster zu passen. Allerdings ist Khelifs (biologisch-genetisches) Geschlecht auch nicht ganz eindeutig.[2]
  • Wenn man sportliche Wettkämpfe nach Männern und Frauen, das heißt nach biologisch-genetischem Geschlecht, getrennt durchführt, wofür es ja auch gute, wissenschaftliche Gründe gibt,[3]  dann muß es fairerweise objektive Kriterien dafür geben, wer Mann und wer Frau ist, und die müssen im Zweifelsfall auch überprüft werden. 

Soweit spezifisch zum Fall Carini-Khelif. Aber die Diskussion  über diesen Fall berührt und wirft auch weitere Themen auf.

  • Ich unterscheide einerseits zwischen religiösen Überzeugungen, die in meinem Privatleben und im Leben meiner Glaubensgemeinschaft gelten, und andererseits der Gesetzgebung und den gesellschaftlichen Konventionen unserer größtenteils sekularen Gesellschaften und Staaten. Im Gegensatz zu vielen meiner Glaubensgenossen bestehe ich nicht darauf, daß Menschen mit anderen oder gar keinen religiösen Überzeugungen sich entsprechend meiner Überzeugungen verhalten.
  • In einem demokratisch regierten Staat muß es legitim sein, daß Personen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Wertevorstellungen diese im Einklang mit den geltenden Gesetzen politisch vertreten und umzusetzen versuchen. Dieses Recht steht sowohl Konservativen als auch “Progressiven” zu, Rechten und Linken, Religiösen und Atheisten.
  • Ich respektiere das Recht jedes Menschen, im Einklang mit den geltenden Gesetzen nach seinen Vorstellungen zu leben und zu lieben. Ich behalte mir aber die freie Meinungsäußerung zu den Lebensstil-Entscheidungen Anderer vor und wehre mich gegen die zwanghafte, teilweise sogar gesetzliche erzwungene, Erwartung, diese Entscheidungen gut und richtig zu finden
  • Mit Ausnahme bestimmter physischer Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht halte ich Diskriminierungsverbote nur im Bereich der öffentlichen Hand sowie bei lebensnotwendigen Einrichtungen, eventuell auch bei sogenannten Anonymgesellschaften[4], für legitim; ich denke, daß sie dort zu weit gehen, wo sie  in das Recht individueller Bürger eingreifen, selbst zu bestimmen, mit wem sie arbeiten oder Geschäfte treiben wollen, indem sie ihnen vorschreiben, wen sie z.B. anstellen oder für welche Kunden sie ihre Dienstleistungen erbringen sollen. 
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  1. Die Anwendung von Begriffen wie “homophob” und “transphob”auf Alle, die nicht mit der gerade politisch korrekten Meinung zu Homo- oder Transsexualität übereinstimmen, impliziert, daß solche Meinungen keine rationale Grundlage haben können, und ist daher sowohl unwissend als auch einer vernünftigen, zivilisierten Debatte wenig zuträglich.[]
  2. Einer der großen Trugschlüsse in der aktuellen Gender-Debatte ist die Annahme, daß sich Dinge wie Gender-Dysphorie, Intersexualität, und rein psychologische Probleme, wie das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, ganz einfach und problemlos durch Hormonbehandlung und/oder chirurgische Eingriffe, oder sogar einfach durch rechtliche Vorschriften, lösen lassen. Umso länger Medizin, Psychologie, und Gesetzgebung diesen Ansatz verfolgen, umso mehr unerwartete, schädliche Nebenwirkungen tauchen auf.[]
  3. Neben den individuellen Unterschieden zwischen einzelnen Menschen es gibt wissenschaftlich nachgewiesene Unterschiede in der körperlichen Leistungsfähigkeit zwischen Menschen mit männlicher DNA und Menschen mit weiblicher DNS.[]
  4. Anonymgesellschaften heißen bei uns Aktiengesllschaften. Es sind Firmen oder Organisationen, die nicht einzelnen, namentlich bekannten Personen gehören oder zuzuordnen sind, und die daher auch nicht in demselben unmittelbaren Zusammenhang stehen mit den Überzeugungen der Eigentümer, wie es bei Personengesellschaften der Fall ist,[]

Die Niederlande sind schon weit unten auf einer schiefen Bahn …

2024-07-27 Wolf Paul

Während meiner Kindheit hatte ich Kontakte zu flämischen (belgischen) und niederländischen Menschen, die mich sehr beeindruckten; in meinen späten Teenagerjahren kam ich durch eine Gruppe, die mehrere Niederländer umfasste, zu einem lebendigen Glauben an Christus, und in den folgenden Jahren beeinflussten mich niederländische Menschen, darunter die verstorbene Autorin Corrie ten Boom, eine niederländische jüdische Holocaust-Überlebende, in vielerlei Hinsicht. Ich wurde ein “Holland-Fanboy”, so sehr, dass ich Niederländisch lernte (was, zugegeben, keine allzu schwierige Aufgabe für einen sprachlich begabten Deutschsprecher ist).

In den letzten Jahrzehnten hat das Land, das einst gegen die unmenschlichen Nazi-Ideologien, einschließlich Euthanasie und Antisemitismus, aufstand, die Euthanasie angenommen und kürzlich eine beunruhigende Toleranz gegenüber sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern gezeigt.

Der 29-jährige niederländische Beachvolleyballspieler Steven van de Velde wurde 2016 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er gestanden hatte, 2014 in Großbritannien ein 12-jähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Unter einem Abkommen zwischen Großbritannien und den Niederlanden wurde er in die Niederlande überstellt, um seine Strafe zu verbüßen, wo seine Verurteilung in “Unzucht” geändert und seine Strafe auf ein Jahr reduziert wurde, das er in einem niederländischen Gefängnis verbüßte. Etwa ein Jahr nach seiner Freilassung nahm van de Velde seine Sportkarriere wieder auf und trat im Beachvolleyball an. Heuer wurde er ausgewählt, die Niederlande bei den Olympischen Spielen in Paris zu vertreten.

Als Reaktion auf Proteste gegen seine Teilnahme von Opfervertretern sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden selbst erklärte das niederländische Olympische Komitee, dass “Steven kein Pädophiler ist”, dass er kein Rückfalltäter ist und dass alle notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen wurden.

Aber Rückfall ist hier nicht das Problem.

Erstens, angesichts der quasi-religiösen Rolle und Bedeutung des Wettkampfsports in unserer Kultur – etwas, das durch den Prunk und das Ritual sowohl bei den Olympischen Spielen als auch bei anderen internationalen Wettbewerben sowie durch die Verehrung erfolgreicher Athleten belegt wird – kommt die Aufstellung eines Athleten bei einem großen internationalen Wettbewerb wie den Olympischen Spielen einer Art Heiligsprechung gleich, einer Darstellung dieses Athleten als Heiliger und Vorbild, als jemand, der nachahmenswert ist. Ist das wirklich angemessen im Fall von jemandem, der wegen dreimaliger Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens verurteilt wurde?

Zweitens beweist dies enormen Respektlosigkeit gegenüber den Opfern sexuellen Missbrauchs, von denen die meisten jahrelang mit den negativen Auswirkungen kämpfen, oft körperlich, aber immer psychologisch, während Täter, selbst wenn sie lange Gefängnisstrafen verbüßen, und noch mehr, wenn ihre Inhaftierung wie im Fall von van der Velde nur sehr kurz war, die Situation psychologisch überwunden und sogar erfolgreiche Karrieren haben. Sie auf ein Podest zu stellen, verschärft die den Opfern zugefügte Gewalt.

Ich bin sehr enttäuscht, dass das niederländische Rechtssystem die Dreistigkeit besaß, eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zu “Unzucht” zu umzuwandeln und eine vierjährige Strafe auf ein Jahr zu reduzieren; ich bin enttäuscht, dass es in den Niederlanden keinen Massenprotest gegen die Aufstellung eines verurteilten Kinderschänders gibt, und dass der Rest des niederländischen Teams offenbar auch kein Problem mit der Anwesenheit dieses Mannes in ihren Reihen hat.

Schließlich finde ich die Behauptung, dass van der Velde kein Pädophiler sei, ebenfalls sehr beunruhigend. Pädophilie wird als Pathologie definiert, als krankhafte,  abnormale, fast süchtig machende oder zwanghafte sexuelle Anziehung zu Kindern; und obwohl es definitiv schuldhaft ist, dieser Anziehung nachzugeben, und die Auswirkungen für die Opfer verheerend sind, impliziert die Einstufung als Erkrankung zumindest eine gewisse Milderung der Schuld. Wenn jedoch jemand Kinder missbraucht, insbesondere sie sexuell missbraucht und bis zur Vergewaltigung geht, ohne an der Krankheit der Pädophilie zu leiden, dann ist diese Tat nur durch reines, unvermitteltes Böses zu erklären.

Natürlich gehen wir davon aus, dass ein Straftäter, der seine Gefängnisstrafe verbüßt hat damit für seine Tat bezahlt hat, oder in einem christlichen Kontext, seine Sünde bereut und Vergebung von Christus empfangen hat, und daß seine Tat ihm nicht länger vorgehalten werden sollte; aber es spricht viel dafür, dass bestimmte Verbrechen, selbst nachdem sie gebüßt und vergeben wurden, eine Person für bestimmte Rollen disqualifizieren. Dies gilt für Pastoren, Priester, Lehrer und andere, die unsere Kultur zu Vorbildern erhebt. Sühne (weltlich und religiös) und Vergebung implizieren nicht, dass es keine bleibenden Konsequenzen gibt.

Übersetzt aus meinem ursprünglichen englischen Text mit Hilfe von ChatGPT.

Geschlecht vs Gender?

2024-07-03 Wolf Paul

idea (Nr. 27.2024, S. 7) zitiert aus einem taz-Interview mit Alexander Korte, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, der sich darin zu der Aussage äußert, Geschlechtsidentität sei angeboren:

«Das ist abstrus. Die neurobiologische Forschung ist definitiv den Beleg schuldig, dass Geschlechtsidentität genetisch bedingt sein könnte. Auch aus der Sicht der Entwicklungspsychologie ist es abwegig, davon auszugehen, dass Identität etwas ist, mit dem man zur Welt kommt. Aus meiner Sicht ist Identität stets das Resultat einer individuellen Bindungs- und Beziehungsgeschichte – und auch Körpergeschichte.»[1]

Politisch gesehen stimme ich dieser Aussage zu, halte sie aber für den Großteil der kontroversen Genderdebatte für irrelevant. Da geht es nämlich gar nicht primär um Identität, sondern um Biologie. Separate sportliche Bewerbe für Frauen und Männer begründen sich durch die biologischen Unterschiede zwischen (biologischen) Frauen und Männern; das Gleiche gilt für nach Geschlecht getrennte Toiletten, Duschen, Umkleideräume, usw. All das hat nichts mit Identität zu tun.

Und ganz ehrlich: Abstrus ist auch die Annahme, daß die empfundene Geschlechtsidentität (Gender) in jeder Hinsicht und in allen Situationen Vorrang vor dem biologischen Geschlecht haben soll. Das ist postmoderner, postwissenschaftlicher Unsinn, und ist dort, wo z.B. die Rechte der kleinen, aber sehr lautstark auftretenden Anzahl von “Trans-Menschen” die Rechte der großen Mehrheit der “Cis-Menschen”[2] übertrumpfen sollen, zutiefst undemokratisch.

Auch für die Einschätzung dieses Themas in der (traditionellen[3] ) christichen Theologie ist diese Frage nicht besonders relevant: Die theologische Beurteilung von gesellschaftlichen Phänomenen und menschlichen Verhaltensweisen richtet sich weder nach der Genetik noch danach, ob etwas angeboren ist, sondern danach, was Gottes Wort, die Bibel, dazu sagt. Schließlich sagt die Bibel ganz klar, daß wir alle eine angeborene Neigung zur Sünde haben (Römer 3, 10-18[4]), die sich in verschiedenen Menschen unterschiedlich manifestiert. Trotzdem ist Sünde nie gerechtfertigt.

Ob und wie weit die Bibel eine vom biologischen Geschlecht abweichende Identität als Folge der gefallenen und deshalb sündhaften Natur des Menschen darstellt, darüber kann man natürlich diskutieren. Klar ist, daß die Bibel zwar Männer in Frauenkleidung (und umgekehrt) als “Greuel” bezeichnet (2. Mose 22,5[5]), aber weit mehr  Zeit und Worte dafür aufbringt, andere Verhaltensweisen und Einstellungen als Sünde, “Greuel” und “Frevel” zu verurteilen. Und wie hat es Jesus ausgedrückt? “Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.”

(Das Bild oben auf dieser Seite ist ein Screenshot aus dem “Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg.)

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  1. Dr. Korte steht der Gender-Ideologie übrigens durchaus kritisch gegenüber, wie eine schnelle Google-Suche klar macht.[]
  2. Der Begriff Trans-(Männer, Frauen, Menschen) bezeichnet Menschen, deren empfundene Geschlechtsidentität (Gender) nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt, im Gegensatz zu Cis-(Männern, Frauen, Menschen), Menschen, deren Geschlechtsidentität und biologisches Geschlecht übereinstimmen. Ergänzend dazu gibt es die Adjektive transgender und cisgender bzw eingedeutscht, transgeschlechtlich und  cisgeschlechtlich . Das sind Wort-Neuschöpfungen (spätes 20. Jahrhundert) auf der Basis der lateinischen Worte trans (jenseits von) und cis (diesseits von) sowie des englischen gender (grammatikalisches Geschlecht).[]
  3. Das ist eine Theologie, unabhängig von der Konfession, die davon ausgeht, daß die Bibel Gottes Selbstoffenbarung ist, deren lehrmäßige Aussagen auch heute noch maßgeblich sind für Theologie und Glauben.[]
  4. «Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer (Psalm 14,1-3). Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen betrügen sie (Psalm 5,10), Otterngift ist unter ihren Lippen (Psalm 140,4); ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit (Psalm 10,7). Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist lauter Zerstörung und Elend, und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Jesaja 59,7-8). Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen (Psalm 36,2).» Paulus zitiert hier verschiedene Stellen in der hebräischen Bibel (“Altes Testament”), welche die angeborene Neigung des Menschen zur Sünde beschreiben. Text aus der Lutherbibel 2017.[]
  5. «Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll keine Frauenkleider anziehen; denn wer dies tut, der ist dem HERRN, deinem Gott, ein Greuel.» Text aus der Lutherbibel 2017.[]

Aktuelle Gedanken zum Ukraine-Krieg

2024-01-11 Wolf Paul

FPÖ-Chef Herbert Kickl  sagte gestern in der ZiB2, daß die FPÖ den Angriff Rußlands auf die Ukraine verurteile, aber neutral bleiben wolle, und man „Verständnis für beide Seiten entwickeln“ müsse. Diese Aussage voll logischer Widersprüche ist Unsinn:

  • Entweder man verurteilt etwas; dann ist man nicht neutral.
  • Oder man will neutral sein und beiden Seiten Verständnis entgegenbringen; dann ist die Verurteilung eine leere Worthülse, politisch korrekte Augenauswischerei ohne Substanz.

Im Gespräch mit dem ehemaligen australischen Premierminister John Anderson sagt der amerikanische Politologe John Mearsheimer, daß die stufenweise Osterweiterung der NATO, und insbesondere die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der westlichen Allianz, die Ursache des Ukrainekriegs ist, und daß viele Politiker sowohl in Amerika als auch in Europa genau davor gewarnt hätten. Das mag ja stimmen, aber es ist höchstens eine (zumindest teilweise) Erklärung für Moskaus Angriff auf, und fortdauernden Krieg gegen, sein Nachbarland, aber sicherlich keine Entschuldigung. Letztlich muß auch die Ukraine ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben dürfen, ohne gewalttätige Intervention des Nachbarn.

Stellen wir uns eine Straße mit Wohnhäusern vor. Die Bewohner der Hausnummern 1 und 9 kommen nicht sehr gut miteinander aus, und Hausnummer 1 ist mit den Bewohnern der Häuser Nr. 3, 5, und 7 mehr oder weniger eng befreundet. Im Lauf der Zeit kommen diese jedoch zu dem Schluß, nicht zuletzt aufgrund des Verhaltens des Hausherrn von Nr. 1, daß eine Freundschaft mit Haus Nr. 9 besser für sie wäre und sie nähern sich Nr. 9 an: zuerst Nr. 7, etwas später Nr. 5, und schließlich auch Nr. 3.

Der Hausherr von Nr. 1 regt sich fürchterlich darüber auf, bricht in Haus Nr. 3 ein, und beginnt, alles kurz und klein zu schlagen. Würden wir das gerechtfertigt finden und sagen, Wenn nur Nr. 9 sich nicht mit Nr. 7, 5, und 3 angefreundet hätte, dann wär das ja gar nicht passiert?

Leider neigen viele von uns dazu, Verhaltensweisen, die im zwischenmenschlichen Umgang völlig inakzeptabel wären, im zwischenstaatlichen Umgang zu entschuldigen — zumindest, so lange sie uns selbst nicht direkt und unmittelbar betreffen.

Aber früher oder später werden sie uns betreffen:

Hamish de Bretton-Gordon, ehemaliger britischer und NATO-Kommandant für chemische und biologische Waffen und jetzt Gastprofessor für Sicherheitsfragen, schreibt im Daily Telegraph,

«Wie Stalin hat auch Putin ein unersättliches Ego und ein Verlangen nach Größe, koste es, was es wolle. Diejenigen im Westen, die glauben, dass ein Waffenstillstand von einer Rückkehr zur „Normalität“ gefolgt werden könnte, sind völlige Narren. Niemand, der das Kreml versteht, glaubt, dass es sicher ist, dass Putin seinen Marsch nach Westen stoppen wird. Die zunehmende Militarisierung des russischen Staates und die wachsenden Forderungen nach einer größeren Offensive müssen als Warnung dienen, dass der Westen aufwachen muss, bevor er handelt. Wir müssen die Ukraine voll unterstützen und bewaffnen. Wenn wir das nicht tun, wird die NATO, wie vom polnischen Sicherheitschef vorausgesagt, innerhalb weniger Jahre im Krieg mit Moskau sein.»

Reichtum und Demokratie

2024-01-10 Wolf Paul

Gestern hab ich über mein fehlendes Verständnis für Superreiche vom Schlag eines Dmitri Rybolowlew geschrieben. Heute berichtet ORF Online über die Millionenerbin Marlene Engelhorn, die mir wesentlich sympathischer erscheint.

Sie ist fest davon überzeugt, daß großer Reichtum mit großem Einfluß einhergeht; daß aber in einer demokratischen Gesellschaft niemand aufgrund ererbtem Reichtum mehr Einfluß und mehr Macht haben sollte, als alle anderen. Deshalb will sie ihr Millionenerbe im Lauf diesen Jahres “rückverteilen”, mit Hilfe eines, nach dem Zufallsprinzip ausgewählten “Bürgerrates.”

Einerseit ehrt sie diese Überzeugung und Absicht; andererseits gebe ich zu bedenken:

  • “Absolute” Demokratie ist nicht unproblematisch, weil das Wahlvolk erfahrungsgemäß sehr leicht zu manipulieren ist, und dann nicht nach vernünftigen, fakten-basierenden und ethischen Kriterien und im Sinne des Gemeinwohls abstimmt.
  • Ganz realistisch gesehen, läßt sich ererbter Reichtum, und Reichtum überhaupt, nur in einem autokratisch oder diktatorisch regierten Staat abschaffen, und wie die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt, kommt dieser Reichtum dann größtenteils nicht der Bevölkerung zugute, sondern einer privilegierten Funktionärsklasse[1].
  • Reiche Menschen mit moralischen und ethischen Überzeugungen und einem wachen Gewissen, die ihren überproportionalen Einfluß bewußt nicht mißbrauchen wollen, können mit ihrem Reichtum selbst wesentlich längerfristiger und nachhaltiger Gutes bewirken, als durch eine “Rückverteilung” nach dem Gießkannenprinzip (und genau das ist ein nach Zufallsprinzip ausgewählter „Bürgerrat“)[2].

Deshalb: Hut ab vor Frau Engelhorn, aber sie sollte ihre Entscheidung noch einmal überdenken — wir brauchen mehr Reiche von ihrem Schlag.


Cover Photo:
Friedrich.Kromberg
Potograpo: W.J.Pilsak

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  1. Auch nach einem Wechsel zur Demokratie – siehe Putins Rußland[]
  2. Ein nach dem Zufallsprinzip ausgewählter „Bürgerrat“ ist auch nicht gerade ein demokratisch legitimiertes Gremium[]

Obszöner Reichtum

2024-01-09 Wolf Paul

ORF Online berichtet über den russischen Oligarchen Dmitri Rybolowlew, der von 2003 bis 2014 mehr als zwei Milliarden Dollar ausgab, um 38 Meisterwerke von einem Schweizer Kunsthändler zu kaufen, und der sich jetzt “abgezockt” fühlt.

Ich muß gestehen daß ich nur sehr wenig Mitgefühl habe für Menschen, die es sich leisten können, z.B. 45 Millionen Dollar[1] für ein Gemälde auszugeben, das eigentlich in einem Museum hängen sollte.

Angeblich waren die 45 Millionen “überhöht” — aber dann hat Rybolowlew das Gemälde für 450 Millionen Dollar versteigert.

Das besonders skurrile dabei ist, daß es sich um das Gemälde Salvador Mundi von Leonardo da Vinci handelt: Christus mit zum Segen erhobener rechter Hand, in der Linken eine Kristallkugel.

Rybolowlew und seinesgleichen, die Milliarden horten und auch Kunst primär unter dem Gesichtspunkt des Profits sehen, sind Paradebeispiele für all die Warnungen, die sich in der Bibel zum Thema materieller Reichtum finden — manches davon in den Worten eben dieses Erlösers der Welt.

 

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  1. 45 Millionen steht in dem verlinkten ORF-Bericht. Laut Wikipedia waren es 127,5 Millionen Dollar. Dann hat er es also um den dreifachen Preis weiterverkauft statt um den zehnfachen — immer noch obszön.[]

Multikulti und Integration

2023-11-30 Wolf Paul

Derzeit macht wieder einmal ein mehr als zwanzig Jahre alter Text die Runde auf Facebook, Instagram, X (Twitter), etc., der im Lauf der Jahre schon verschiedenen Promis zugeschrieben wurde, darunter Donald Trump und der ehemaligen australischen Premierministerin Julia Gillard.[1]

Es geht in dem Text um die Integration von Asylanten und anderen Zuwanderern aus unterschiedlichen Kulturen, und ich glaube, viele, vor allem konservativere, Menschen in unserem Land würden ihm inhaltlich im Großen und Ganzen zustimmen.
 

Aber es gibt ein Problem: sowohl die falsche Zuschreibung als auch die Teils provozierenden und reißerischen Textteile, die klar gegen Muslime gerichtet sind, lassen es nicht als empfehlenswert erscheinen, diesen Text weiterzuverbreiten.

Dennoch enthält der Text etliche Aussagen, denen ich ohne Vorbehalt zustimmen kann:

  • In unseren westlichen Ländern gelten unsere demokratisch beschlossenen Gesetze, nicht die Scharia oder irgendwelche anderen, ausländischen oder fremden Rechtsnormen.
  • Einwanderer haben eine Bringschuld, sich ihrem neuen Heimatland und dessen Kultur möglichst weit anzupassen, nicht umgekehrt.
  • Einwanderer haben eine Bringschuld, möglichst schnell die Landessprache zu lernen.
  • Wer in unseren westlichen Ländern rechtliche Veränderungen herbeiführen will, muß dies über die bestehenden demokratischen Mechanismen tun. Diese stehen im Allgemeinen nur Staatsbürgern zur Verfügung. Bis sie also die neue Staatsbürgerschaft erhalten haben, müssen Einwanderer daher die bestehenden politischen Realitäten akzeptieren; jegliche Agitation gegen das neue Heimatland oder für politische Parteien im Herkunftsland sind zu unterlassen.

Andererseits gibt es auch einige Dinge, die man der einheimischen Bevölkerung ins Stammbuch schreiben sollte:

  • Bei uns herrscht Religionsfreiheit, nicht nur für Christen und andere “heimische” Religionen. Das bedeutet auch, Andersgläubigen selbst die Definition zu überlassen, was Teil ihrer Religion ist. Es ist z.B durchaus legitim, bei Behörden und in Schulen, usw., das Tragen von Kleidungsstücken wie dem Tschador zu verbieten; in der freien Öffentlichkeit sind solche Verbote fragwürdig.
  • Ja, es gibt eine Integrationspflicht, das heißt aber nicht, daß Einwanderer all ihre Gepflogenheiten ablegen müssen. Es gibt ja auch unter der einheimischen Bevölkerung genug Bräuche und Gepflogenheiten, die anderen auf die Nerven gehen; das muß man einfach aushalten.

Und den “progressiven” Kräften in unseren Ländern sei gesagt:

  • Von Zuwanderern jeder Art zu verlangen, daß sie sich an die im jeweiligen Land herrschenden Gesetze halten und die Sprache lernen müssen, und sie bei hartnäckiger Integrationsverweigerung auch des Landes zu verweisen, ist nicht ausländerfeindlich.
  • Eine multikulturelle Gesellschaft kann nur dann ohne größere Konflikte entstehen und auch funktionieren, wenn sich niemand überrollt und überfordert fühlt. Das erfordert Geduld. Alle, die Probleme mit Zuwanderern oder fremden Kulturen haben, ins rechte Eck zu stellen, überzeugt niemanden, sondern erzeugt Ressentiments und Märtyrer; da feiern dann Politiker wie Victor Orban, Geert Wilders, Marie Le Pen, Giorgia Meloni, Herbert Kickl, oder Donald Trump Wahlsiege.
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  1. Der Text stammt ursprünglich aus den USA um das Jahr 2001, und wird immer wieder leicht bearbeitet, um in den jeweiligen zeitlichen und geografischen Kontext zu passen. Ein deutliches Indiz für den US-Ursprung gibt es im Text selbst: die Aussage “Die meisten Menschen glauben an Gott, das Land wurde auf christlichen Prinzipien aufgebaut” ist etwas, was ein konservativer amerikanischer Politiker über die USA behaupten würde, aber sicher nicht eine linke, atheistische, australische Politikerin über eines der sekularsten westlichen Länder, das nicht auf christlichen Prinzipien aufgebaut wurde sondern eine ehemalige Sträflingskolonie ist.

    Und die deutsche Version ist eine miserable Übersetzung, wechselt ständig zwischen “sie” und “du”, und enthält so Unsinn wie “Recht auf Ausflug” für “right to leave“.[]

Die Krise der nachchristlichen Kultur

2023-11-11 Wolf Paul

in sehr interessantes und provokantes Video des katholischen Podcasters und ehemaligen anglikanischen Priesters Gavin Ashenden[1]:

«Der große Fehler in der Verteidigung der westlichen Zivilisation scheint zu sein, dass sie den Glauben, der sie geschaffen hat, aufgegeben hat: das Christentum. Sie hat sich freiwillig und energisch vom Christentum losgesagt. Christen und liberale Säkularisten werden am kommenden Gedenkwochenende vor einer ernsten Herausforderung stehen, wenn, wie es wahrscheinlich ist, islamische Proteste “überkochen” und sich mit den Überresten der Erinnerungskultur konfrontieren.

Werden all die Säkularisten erkennen, dass der genussorientierte Konsumismus ideologisch nicht stark genug ist, um Grenzen zu setzen, um die islamische Expansion und den missionarischen Ehrgeiz einzudämmen? Sie haben sich bisher geweigert, dies zu glauben. Und wenn die Säkularisten zu ihren eigenen Grenzen und ihrer existentiellen Instabilität erwachen, wohin werden sie sich dann wenden?

Sie werden nur drei Möglichkeiten haben:

  • Mehr säkularen Pseudofortschritt, bei dem der Drache seinen eigenen Schwanz frisst und in immer größere Inkohärenz und Widerspruch gerät, während die DIE-Agenda (Diversity, Inclusion and Equity) ihn in einen wachsenden totalitären Wahnsinn saugt;
  • oder den Islam selbst, der wieder  andere Formen totalitärer Kontrolle verspricht, wie wir am Beispiel des Iran sehen;
  • oder drittens das Christentum und die christliche Kultur, in der Freiheit des Gewissens, Freiheit der Wahl, die Würde des Einzelnen als Ebenbild Gottes, der Vorrang der Vergebung und das Versprechen jener grundlegenden Freiheiten, die wir für selbstverständlich gehalten haben, angeboten werden.»

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  1. Gavin Ashenden ist ein ehemaliger anglikanischer Priester, der vor vier Jahren zur römisch-katholischen Kirche konvertierte, nachdem er von dem zunehmenden Revisionismus der Church of England desillusioniert war. Heute ist er Laie und schreibt und podcastet über aktuelle Themen in Kirche und Welt.[]

Der Westen: Fehlende Überzeugungen

2023-11-10 Wolf Paul

In einer Podiumsdiskussion auf der ARC-Konferenz in London in diesem Monat wies Greg Sheridan darauf hin, dass alle diejenigen auf der Weltbühne, die dem demokratischen Westen feindlich gesinnt sind, von Menschen mit tiefen Überzeugungen geführt werden, und dass wir von ihren Handlungen überrascht sind, weil wir diese Überzeugungen nicht verstehen.

In seiner Antwort traf der Historiker Niall Ferguson den Nagel auf den Kopf, indem er unter anderem sagte:

„Ein Teil der Schwierigkeit, die wir haben, um ideologische Überzeugungen zu verstehen, ist, daß wir selbst keine haben. Es ist sehr schwer, diese Art von Motivation zu verstehen, wenn unser Glaubenssystem so erodiert ist, daß es bestenfalls ein Kosten-Nutzen-Analyse-Problem wird.“

Ich bin sicher nicht mit allem einverstanden, was auf dieser Konferenz gesagt wurde, aber die Vorträge und Panels sind sehr interessant und hörenswert.

Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

2023-10-23 Wolf Paul

Ein Gastbeitrag von Heinrich Arnold[1] von der Bruderhof-Gemeinschaft

Anmerkung: Dieser Artikel eines Leiters der Bruderhof-Gemeinschaft[2], Heinrich Arnold, ist ein wertvoller Gedankenanstoß und Beitrag zu unseren Überlegungen zum Themenkomplex Feindesliebe/Selbstverteidigung/staatliche Gewalt/Gerechter Krieg (bellum iustum), der durch die Ereignisse in Israel brandaktuell geworden ist.[3]

Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

Ein Bruderhof-Pastor über die Frage, wie Christen auf die Hamas-Attacke auf Israel und essen Folgen reagieren sollen.

von Heinrich Arnold
12. Oktober 2023

Am Freitag, den 6. Oktober 2023 strömten Scharen von Menschen in die Synagogen Israels, um das Ende von Sukkot und den Beginn von Simchat Tora, „Freude an der Tora“, zu feiern. Während dieser freudige Festtag am Samstag anbrach, wurde unvorstellbares Unheil entfesselt. Tausende von Raketen schlugen in dem Gaza-Streifen nahegelegenen Städten, auch in Tel Aviv und Jerusalem ein. Maskierte Bewaffnete durchbrachen eine der am stärksten überwachten Grenzen der Welt, töteten ganze Familien, die noch im Bett lagen, vergewaltigten Frauen und nahmen schätzungsweise 150 Geiseln gefangen.

Inzwischen hat jeder von den schockierenden Gräueltaten gehört, die die Hamas in der letzten Woche in Israel verübt hat. Wie sollen wir Christen angesichts dieses Grauens reagieren?

Das Neue Testament fordert uns auf, mit den Trauernden zu trauern (Röm. 12,14). In einer Zeit wie dieser müssen wir mit dem israelischen Volk trauern, insbesondere mit den Überlebenden des Hamas-Angriffs. Und wir müssen auch mit den Zivilisten in Gaza trauern, die bereits als Kollateralschaden unter der militärischen Reaktion leiden. Wir müssen für den Frieden beten. Dies hört sich an wie eine Floskel. Aber wenn wir an die Macht Gottes glauben, in die Geschichte einzugreifen, bleibt das Gebet enorm wichtig.

Was sollten wir außer trauern und beten noch tun?

Aus vielen Ecken werden von den führenden Politikern der Welt strenge Maßnahmen gefordert. Dies ist mehr als verständlich angesichts der tiefen Wut, Angst und Panik, die die Israelis empfinden, wenn sie auf so schreckliche Weise von einer Organisation verletzt werden, die sich verpflichtet hat, ihr Land auszurotten. Der Wunsch nach einer raschen und heftigen Reaktion ist der Kern unserer menschlichen Reaktion auf das Böse. Wie viele andere bin ich mehrmals nach Israel und ins Westjordanland gereist, zuletzt im vergangenen Jahr, und habe auf beiden Seiten des langjährigen Konflikts in der Region enge Freundschaften geschlossen. Viele dieser Freunde haben Jahre damit verbracht, sich für Frieden und Dialog einzusetzen, um den tiefsitzenden Hass in ihrer Gesellschaft zu überwinden. Als ich in den letzten Tagen mit einigen von ihnen gesprochen habe, schilderten sie ihren unglaublichen Schmerz. Sie erleben ein Ausmaß an Wut und Angst vor der Zukunft, dass ich mir nicht vorstellen kann.

In meiner Gemeinschaft, dem Bruderhof, hat uns der Terror unter anderem durch die Massaker in Kibbuz-Gemeinden wie Kfar Aza und Be’eri, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden, darunter auch Kleinkinder und Säuglinge, besonders aufgewühlt. Die Freundschaftsbande zwischen den Kibbuzim und dem Bruderhof als zwei Gemeinschaftsbewegungen reichen neunzig Jahre zurück. Obwohl der Bruderhof eine christliche Gemeinde ist und die Kibbuzim jüdisch sind, teilen wir das Engagement für eine gemeinschaftliche Lebensweise und haben gemeinsame historische Wurzeln. Im Herzen sind wir mit diesen Gemeinschaften und mit allen, die in den letzten Tagen so viel Leid erfahren haben, verbunden.

Als Seelsorger kann ich nicht sagen, welche Maßnahmen die betroffenen Regierungen ergreifen sollten. Ich habe auch keinen Vorschlag, wie andere Weltmächte reagieren sollten. Die Regierungschefs werden ohnehin tun, was sie für das Beste halten. Hoffen wir, dass ihre Entscheidungen in den kommenden Tagen und Wochen dem Wohlergehen und dem Schutz aller betroffenen Menschen dienen, insbesondere der Schwächsten.

Aber auch wenn ich nicht sagen kann, was die Regierungen tun sollen, so weiß ich doch, wozu die Nachfolger Jesu aufgerufen sind.

Was wir Christen auf jeden Fall tun können: das Evangelium des Friedens bezeugen. Unsere Berufung ist es, für den Frieden und für alle Opfer von Gewalt zu beten, uns zu weigern, selbst Gewalt zu unterstützen, und Friedensstifter zu sein. Als Mitglieder seiner weltweiten Kirche auf Erden sollen wir in der gegenwärtigen Welt eine Botschaft des zukünftigen Friedensreiches sein.
Jesus sagte: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden­“ (Mt 5,9). Er lehrte: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen‘. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.“ (Mt 5,43-45).

Wir müssen jeden Krieg beklagen; wir dürfen niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Wir Christen müssen gegen die unmenschlichen Angriffe auf Israel protestieren – die kaltblütigen Angriffe auf Zivilisten, die Vergewaltigungen, das Massaker an Kindern, Frauen und älteren Menschen. Wir müssen uns auch gegen den Entzug von Wasser und Strom für die Zivilbevölkerung und die Bombardierung von Wohngebieten aussprechen. Wir müssen jeden Krieg beklagen. Das ist unsere Pflicht; zu schweigen ist eine Sünde. Vor allem in Momenten, in denen die öffentliche Stimmung blutrünstig und rachsüchtig wird, dürfen wir niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Welche Kraft kann solch ein Übel überwinden? Wieder lehrt uns Jesus die Antwort: Nur die Liebe kann wirklich über Feinde siegen.

Der Apostel Paulus griff die Lehre Jesu über das Friedenstiften auf und schrieb in seinem Brief an die Römer: „Ihr Lieben, rächt euch nicht, sondern überlasst es dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.‘ Ganz im Gegenteil: Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, wirst du brennende Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Wir können allzu leicht die Lehre Jesu über die Feindesliebe aus den Augen verlieren. Es ist verlockend, stattdessen nach Antworten zu greifen, die „realistischer“ erscheinen. Harte Antworten auf Feindseligkeit sind jedoch keine Garantie für Sicherheit; in der Tat lassen sich leicht Beispiele dafür finden, wie sie nach hinten losgehen können. Wir Christen glauben jedenfalls, dass der Weg Jesu, Frieden zu stiften, die einzige wirklich realistische Antwort auf das Böse ist.

Wir, die wir uns zu Christus bekennen, müssen zuversichtlich sein Gebot bezeugen, zu lieben und nicht auf Waffengewalt zu vertrauen. Wir müssen an seiner Verheißung festhalten, dass sein Friedensreich kommen wird und dass darin die Hoffnung der Welt liegt. Das ist die Zukunft, die der Psalmist verheißt:

Kommt und seht, was der Herr getan hat …
Er lässt die Kriege aufhören
bis an die Enden der Erde.
Er zerbricht den Bogen und zerschmettert den Speer;
er verbrennt die Schilde mit Feuer.
Er sagt: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin;
Ich will hoch erhoben werden unter den Völkern,
Ich bin hoch erhaben auf der Erde.“

Der Herr, der Allmächtige, ist mit uns;
der Gott Jakobs ist unsere Festung.


Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Plough.com als The Gospel of Peace in a Time of Terror. Copyright ©2023 by Plough Quarterly. Diese Übersetzung von Aidan Manke erscheint hier mit freundlicher Genehmigung.

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  1. Heinrich Arnold ist Senior Pastor der Bruderhof -Gemeinschaft in den USA und weltweit. Heinrich ist ein Urenkel des Bruderhof-Gründers und ist ein Vater, Großvater, Lehrer in den Schulen des Bruderhofs, und Heilpraktiker. Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift des Bruderhofs, Plough Quarterly, und bringt jeden Sonntag eine Evangeliumsbotschaft auf seinem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/c/JHeinrichArnold/featured). Er wohnt mit seiner Frau und Familie auf dem Woodcrest Bruderhof (https://www.bruderhof.com/en/where-we-are/united-states/woodcrest). Twitter: @JHeinrichArnold (https://twitter.com/JHeinrichArnold[]
  2. Die Bruderhof-Gemeinschaft ist eine Bewegung in der Tradition der Täufer, die eine am Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde orientierte Gütergemeinschaft praktiziert. Ihre Entstehung geht unter anderem auf die Eheleute Eberhard und Emmy Arnold zurück, die 1920 in Hessen die erste Bruderhof-Gemeinschaft gründeten. Nach der Vertreibung durch die Nationalsozialisten 1937 fanden sie zunächst Zuflucht im Fürstentum Liechtenstein und später in England. Heute gibt es Niederlassungen der Bruderhöfer in Australien, Großbritannien, Paraguay, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Österreich (in Retz und Stein/Furth) []
  3. Ich habe in den Tagen seit dem schrecklichen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zwei Beiträge hier auf dem Blog und viele weitere auf Facebook gepostet, in denen ich das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont habe. Wegen der unmenschlichen Strategie der Hamas, Terroreinrichtungen (die ein legitimes Ziel israelischer Angriffe sind) in Wohngebieten, Spitälern, Schulen, usw., unterzubringen, kommt es bei dieser legitimen Verteidigung zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung, und ich bleibe dabei: das ändert letztlich nichts an Israels Recht zu Selbstverteidigung.
    Ich weiß auch, daß es in der israelischen Armee (Israeli Defense Force, IDF) nicht wenige Menschen gibt, die an Jesus als den jüdischen Messias glauben. Ich weiß von einer solchen Familie, die fünf Kinder an der Front hat, drei eigene und zwei Schwiegerkinder, und nach meinem Verständnis des Neuen Testaments ist das legitim.
    Es gibt allerdings in der Kirche, der Gemeinde Jesu, von allem Anfang an, d.h. seit den Aposteln und frühen Kirchenväter, eine Tradition des Pazifismus, der Überzeugung, daß Jünger Jesu unter keinen Umständen zu irgendeiner Gewalt greifen sollen, sei es als Soldaten oder auch als Polizisten. Im Mittelalter ist diese Tradition etwas in der Versenkung verschwunden, und wurde dann, während der Reformationszeit, von den Täufern (oft als „Radikale Reformation“ oder als der dritte Flügel der Reformation, neben Lutheranern und Reformierten, bezeichnet) wieder entdeckt und aufgenommen. Heute lebt die Täuferbewegung in Form der Mennoniten, Amischen, und Hutterer weiter. Die Bruderhof-Gemeinschaft, die in der Zwischenkriegszeit des 20.Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist, steht ganz in dieser Tradition und war auch eine Weile sehr eng mit den Hutterern verbunden.
    Ich empfinde diese Tradition als sehr wertvoll, und vor allem heute als wichtiges Gegengewicht zu Strömungen in der Gemeinde Jesu, die staatlicher Gewalt zu kritiklos gegenüberstehen.[]