„Ich denke, daß der Glaube an Gott eine gesündere Lebensweise ist“

Wolf Paul, 2025-01-15

Ich lese gerade Faye Kellermans Roman Habgier, der Teil ihrer Peter Decker & Rina Lazarus“-Serie ist.

Rina ist lebenslang praktizierende, orthodoxe Jüdin. Der Polizist Peter „Akiva“ Decker aus Los Angeles ist zwar gebürtiger Jude, wurde jedoch von nichtjüdischen Pflegeeltern adoptiert und hat erst durch seine Liebe zu Rina zum praktizierten Judentum gefunden.

Hier ist ein interessanter Dialog über Glauben und Zweifel im Zusammenhang mit der Frage nach der ultimativen Gerechtigkeit:

„Ich hoffe es sehr. Es macht mich wütend, dass ein Mörder der Gerechtigkeit entkommen ist.“

„Er wird sich irgendwann für seine Taten verantworten müssen. Vielleicht nicht vor dir oder vor der Strafjustiz, aber ganz sicher vor einer höheren Instanz. Was man sät, das wird man ernten: Middah keneged middah.“

„Ich wünschte, ich könnte das glauben.“

„Manchmal weiß ich selbst nicht, ob ich das glauben kann. Aber das ist die Grundlage des Glaubens, und ich bin eine gläubige Frau.“ Rina legte ihr Buch zur Seite. „Diese ungelösten Fälle müssen frustrierend sein. … Ich weiß, es macht dich fertig, dass jemand mit Mord davonkommt, aber am Ende sterben wir alle, und dann sehen wir, dass letztlich jemand anderes die Kontrolle hat.“

„Und was, wenn man stirbt und das war’s?“ fragte Decker. „Ich meine, das war’s wirklich! Man endet als Futter für die Würmer.“

„Vielleicht ist das so“, sagte Rina. „Da niemand es wirklich weiß, entscheide ich mich, anders zu glauben. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass ich einer Täuschung aufgesessen bin, denke ich, dass der Glaube an Gott eine gesündere Lebensweise ist. Glaube ist für die Lebenden, Akiva, nicht für die Toten.“[1]

Faye & Jonathan Kellerman

Ich selbst bin Nichtjude und evangelikaler Christ, kein praktizierender Jude, aber ich finde es faszinierend, wie solche „jüdischen“ Gespräche mit meinen eigenen Erfahrungen als Gläubiger im Einklang stehen. Und ich finde generell „weltliche“ Romane mit glaubensbezogenen Figuren – ob jüdisch oder christlich – interessanter, auch wenn diese Figuren nicht perfekt oder heilig dargestellt werden. Solche Romane gefallen mir besser als explizit „christliche“ Bücher, in denen Gläubige oft wie „brave Musterkinder“ wirken – denn seien wir ehrlich: Wir sind nicht alle perfekt oder heilig, und auch in unseren Reihen gibt es Schurken. Aber wir neigen dazu, ihre Fehler zu übersehen oder sie zu verleugnen, wenn sie uns zu blamabel werden.

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  1. Dieser deutsche Text stammt nicht aus der deutschen Ausgabe des Romans, auf die ich keinen Zugriff habe, da ich das Buch auf Englisch lese. Stattdessen habe ich den englischen Text mit Hilfe von ChatGPT selbst übersetzt.[]

Warum hat Trump die Wahl gewonnen?

Wolf Paul, 2024-11-10

Ich mache seit acht Jahren kein Hehl daraus, daß ich Donald Trump nicht für qualifiziert halte, Staats- und Regierungschef der mächtigsten Nation der westlichen Welt zu sein — vor allem charakterlich und aufgrund seines Temperaments — und bin daher von vielen meiner amerikanischen, evangelikalen Freunde kritisiert worden. Amerikanische Politik ginge mich nichts an, da ich weder US-Bürger wäre, noch in den USA wohnen würde. Ich habe dem immer — mehr uder weniger scharf — widersprochen und darauf beharrt, daß es mir sehr wohl zustünde, eine Meinung zur US-Politik zu haben und auch zu äußern, da Amerika als mächtigstes Land (zumindest der “westlichen” Welt) unser aller Leben mitbestimmt. Außerdem war ich zeitlebens ein Amerika-Fan, der nie vergessen hat, daß ich heute, ohne die maßgebliche Mitwirkung der USA, wahrscheinlich nicht in einem demokratischen Land leben würde , und auch nicht in einem, vom Marshall-Fund finanzierten Elternhaus aufgewachsen wäre, und daß mir daher das Schicksal dieses Landes sehr am Herzen liegt.

Leider hat in den letzten Jahren meine Begeisterung und Sympathie für das Land stark abgenommen, weil ich nicht nachvollziehen konnte, daß es ein Land von mit rund 300 Millionen Staatsbürgern, von denen etwas mehr als die Hälfte wahlberechtigt sind, bei den letzten drei Präsidentenwahlen keine besseren Kandidaten aufstellen konnte, als Hillary Clinton, Donald Trump, Joe Biden, und Kamala Harris — ein echtes Armutszeugnis. Und auch andere Schwachpunkse sind immer mehr in den Fokus gerückt: die Unfähigkeit, die Waffenpandemie und die daraus resultierenden Amokläufe in Schulen und anderswo einzudämmen, die Unfähigkeit, ein erschwingliches Gesundheitssystem gerade auch für die ärmeren und benachteiligteren Teile der Gesellschaft sicherzustellen, und die Häufung von rassistischen Übergriffen von Seiten der Polizei sind nur ein paar Beispiele dafür.

Auch von der evangelikalen Bewegung, die ein ganz wichtiger Einfluß auf mein Leben und meine Entwicklung hatte, bin ich sehr enttäuscht: Es ist mir unbegreiflich, wie rund 82 Prozent der amerikanischen Evangelikalen, ermutigt von vielen ihrer prominentesten Führungspersönlichkeiten, für einen vulgären Serien-Ehebrecher stimmen konnten, der damit prahlt, Frauen sexuell belästigt zu haben, seine politischen Gegner dämonisiert und seine entmenschlichende Verachtung gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Frauen, Menschen mit Behinderung, Mitgliedern der LGBT-Community und Einwanderern zur Schau stellt.

Ich habe mir bei alledem nie eingebildet, daß meine Ablehmung irgendeine Auswirkung auf den Ausgang der Wahl haben würde, und so kam es auch: Donald Trump hat die Wahl haushoch gewonnen, und wenn nichts unvorhersehbares geschieht, wird er vier Jahre lang  als 47. Präsident die Geschicke der USA lenken, und damit auch sehr viel Einfluß auf die restliche Welt ausüben.

Ich bin Trump-Unterstützern sowohl unter meinen Freunden, aber vor allem auch untet christlichen Leitern, lange Zeit mit großem Unverständnis gegenübergestanden, und bei einigen meiner Freunde war ich stark versucht, den Kontakt abzubrechen. Ich habe jedoch meine Haltung diesbezüglich revidiert, vor allem was normale Wähler angeht — christlichen Leitern, die Trump’s charakterliche Defizite mit teils theologisch sehr skurrilen Argumenten beiseite wischen (Charakter ist offensichtlich nur beim politischen Gegner wichtig, nicht bei unseren eigenen Kandidaten) stehe ich nach wie vor sehr enttäuscht und kritisch gegenüber.

Dieser langwierige Prozess der Einstellungsänderung ist schwierig zu beschreiben und wohl auch noch nicht abgeschlossen, aber am Montag vor der Wahl, und dann drei Tage danach, bin ich auf ein paar Artikel gestoßen, die meine Überlegungen besser reflektieren, als ich sie selbst beschreiben könnte, und die mir auch noch einen weiteren Anstoß gegeben haben.

Zunächst gab es am Montag im Nachrichtenmagazin profil einen Leitartikel von Robert Treichler mit dem Titel, “Amerika will träumen“, in dem er Trumps Attraktivität für die Wähler beschreibt:

Worin besteht das große Versprechen von Kamala Harris? Nein, ich meine nicht eine Liste von Vorschlägen aus allen möglichen Bereichen, sondern einen großen Gedanken, von dem sich 150 Millionen Menschen tief drin angesprochen fühlen können.

Ich fürchte, so einen gibt es nicht. Das einzige Thema, das Harris im Wahlkampf auf emotional aufrüttelnde Weise auf den Punkt gebracht hat, ist das Recht auf Abtreibung. Aber das ist keine übergreifende Idee für die ganze Nation.

Trump hat ein solches Versprechen: “Make America Great Again.” In diesem simplen Slogan, mit dem Trump den nunmehr dritten Wahlkampf bestritten hat, sind enorm viele Beweggründe enthalten, die ein politisches Lebensgefühl erzeugen. Der Wunsch nach Stärke, die Rückbesinnung auf alte, in Verruf geratene Vorstellungen, das Bekenntnis zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Widersachern, der Trotz gegenüber moralisierenden Einwänden …

Trump verknüpft seine Parole mit seinen zahllosen charakterlichen Defiziten. Aber der Schwur, Amerika wieder großartig zu machen, überstrahlt offenbar immer noch alle Unsäglichkeiten.

In der gleichen Ausgabe beantworten Siobhán Geets  und Robert Treichler unter dem Titel, “Verstehen Sie Amerika?” 47 Fragen zur US-Präsidentenwahl. Hier ist der Beginn dieses Artikels:

Würden Sie bei einer Präsidentenwahl eher für eine schwarze Frau stimmen oder für einen wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Mann, der zudem im Verdacht steht, sich des versuchten Wahlbetrugs und der Anstiftung zu einem Aufstand schuldig gemacht zu haben? Durchaus möglich, dass Sie nicht lange nachdenken müssen. Die kniffligere Frage lautet: Warum hat der oben genannte verurteilte Straftäter – Sie haben ihn längst erkannt, es handelt sich um Donald Trump – am kommenden Dienstag gute Chancen, zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt zu werden?

Die anhaltende Popularität und der politische Erfolg Trumps machen ratlos. Doch es gibt Erklärungen: Es ist eine Tatsache, dass Trump frühzeitig das Problem der illegalen Migration erkannt und daraus ein politisches Megathema geschmiedet hat, ähnlich wie rechte Parteien in Europa. In seinem unnachahmlichen Stil grotesker Übertreibungen verteufelt er Migranten als Mörder, Vergewaltiger, und er verstieg sich gar zu der Behauptung, Einwanderer aus Haiti würden „die Haustiere anderer Leute essen“. Dennoch: Auch wenn die Demokraten seither restriktive Maßnahmen gegen illegale Einwanderung verhängen, gesteht ihnen ein großer Teil der Bevölkerung keinerlei Glaubwürdigkeit bei diesem zentralen Thema zu.

Dazu kommt die politisch aufgeladene Frage der Identitätspolitik. Die Demokraten kämpfen für Diversität, LGBTQ-Rechte und das Recht auf Abtreibung. John Della Volpe, Direktor am Harvard Kennedy Institut für Politik und früherer Berater von Joe Biden, warnt, dass sie damit die Männer vernachlässigen. Diese wenden sich prompt wieder stärker den Republikanern zu, die ein unbeschwertes Rollenbild mit eingeschränkter Nachsicht gegenüber patriarchalischen und sexistischen Verhaltensweisen propagieren. Dass die eine Hälfte der Bevölkerung etwas anderes will als die andere, ist völlig normal.

Problematisch ist jedoch, dass die beiden Hälften einander auf keiner Ebene mehr zu begegnen scheinen – nicht einmal im übertragenen Sinn. Trumps Anhänger halten die Wahl 2020 für geschoben, nehmen die Richtersprüche nicht ernst, schlagen die Warnungen seiner ehemaligen Mitarbeiter, wonach Trump gefährlich oder gar ein Faschist sei, in den Wind. So gehen alle Vorwürfe der Gegenseite ins Leere.

Auch wenn Trump selbst haarsträubende Dinge sagt, wie etwa, dass es gegen die „Feinde von innen“ – also seine Widersacher innerhalb der USA – mithilfe des Militärs vorgehen wolle, tun das seine Anhänger als typische Übertreibung ab. Während sich die andere Hälfte des Landes vor Entsetzen schaudert.

Ähnliche Überlegungen im Lauf der letzten Monate haben dazu geführt, daß ich versuche, normale Trump-Wähler besser zu verstehen und ihnen mit mehr Toleranz zu begegnen.

Am Freitag nach der Wahl landete schießlich der aktuelle Newsletter von Jonah Goldberg in meiner Inbox, mit dem Titel, “Stop Bashing Democracy!” (“Hört auf, die Demokratie schlechtzureden!”), in dem er unter anderem schreibt,

Und das ist im Kern der schwerwiegende Fehler, den die Menschen machen. Menschen wählen Kandidaten—irgendeinen Kandidaten—aus den unterschiedlichsten Gründen. Wenn du denkst, dass Trump ein Faschist ist, in Ordnung. Darüber können wir reden. Aber nur weil du ihn für einen Faschisten hältst, bedeutet das nicht, dass jemand, der für ihn gestimmt hat, dir zustimmt und trotzdem für ihn gestimmt hat. Ich kenne Dutzende Menschen, die für Trump gestimmt haben. Keiner von ihnen ist ein Idiot oder ein Faschist oder ein faschistischer Idiot.

Dieses Argument funktioniert genauso in die andere Richtung. Du magst denken, dass Kamala Harris eine „Kommunistin“ oder „Marxistin“ ist usw. Ob sie es ist oder nicht, ist ein diskutierbares Thema, im Sinne davon, dass es diskutiert werden kann. Aber wenn du möchtest, dass die Leute dir zustimmen, musst du das Argument bringen und nicht nur die Anschuldigung aussprechen. Wenn du sicher bist, dass sie eine Kommunistin ist, kann dir niemand das Recht nehmen, das zu sagen—aber zu sagen, dass es so ist, bedeutet nicht, dass alle dir zustimmen müssen. Nur sehr wenige der 68 Millionen Menschen, die für Harris gestimmt haben, taten dies, weil sie dachten, sie sei eine Marxistin oder Kommunistin.

Ich bin natürlich immer noch der Meinung, daß ich mit meiner Einschätzung von Donald Trump recht habe, und Trumps Unterstützer verkehrt liegen, aber ich habe inzwischen mehr Verständnis für sie, vor allem, da mit Kamala Harris (genauso wie vor acht Jahren mit Hillary Clinton) nur eine marginal weniger problematische Kandidatin zur Wahl stand.

Und damit springe ich jetzt zurück über den Atlantik, in unser Land Österreich. Vieles, was Robert Treichel und Siobhán Geets schreiben, läßt sich fast eins zu eins auf unsere Sitiation anwenden, wo mit Herbert Kickl  ein meiner Meinung nach absolut ungeeigneter Kandidat bei der Nationalratswahl die meisten Stimmen gewonnen hat. Zum Glück hat er keine regierungsfähige Mehrheit erhalten, und niemand will mit ihm koalieren, sodaß eine gute Chance besteht, daß wir eine Koalitionsregierung, aus ÖVP und SPÖ, möglicherweise mit den NEOS, bekommen werden.

Aber es Eines ist klar: wenn die neue Regierung so weitermacht, wie bisher, dann wird Kickl in vier Jahren noch mehr Stimmen, und möglichetweise eine “Absolute”. bekommen und dann regieren. Sich auf die dummen Wähler auszureden wird dann auch nicht mehr helfen. Denn das Problem ist hier bei uns das gleich wie auch in Amerika (und vielen anderen Ländern): eine politische Klasse= eine Möchtegern-Elite, die zu sehr ihren eigenen Interessen und ideologischen Lieblingsthemen verpflichtet ist, um sich um die Sorgen und Ängste von normal sterblicher Bürger zu kümmern. Das mag in Aerika und bei uns andere Formen annehmen, aber im Kern ist es dasselbe.


Fußnoten:

    1. geschätzte Zahlen aus 2020 ↩️
    2. Robert Treichler wurde 1968 in Graz geboren, studierte Französisch und Philosophie und ist seit 1997 Journalist beim Nachrichtenmagazin profil, seit 2021 in der Funktion des stellvertretenden Chefredakteurs. Bei Zsolnay erschien 2024 gemeinsam mit Gernot Bauer das Buch “Kickl und die Zerstörung Europas”. ↩️
    3. Siobhán Kathleen Geets, geboren 1984 in Wien. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, Fokus auf Genderstudies, Internationale Entwicklung, Philosophie and Religionswissenschaften. Diplomarbeit über Ladyboys in Thailand, Verleihung des akademischen Grades im Mai 2008. Von Oktober 2008 bis September 2009 Besuch des Lehrgangs an der Fotoschule Wien. Jänner bis Februar 2008 sowie Februar bis März 2009 Feldforschung in Thailand, Interviews mit Ladyboys für Diplomarbeit und Radio-Feature für Ö1. Seit 2020 bei profil im Außenpolitik-Ressort. ↩️

Wenn Terroristen Geiseln töten, dann ist das Mord, keine Hinrichtung

Wolf Paul, 2024-11-09

ORF Online berichtet, daß Katar Mitglieder der Terrororganisation Hamas aufgefordert habe, das Land zu verlassen, angeblich auf dringendes Ersuchen der USA.

Unter anderem enthält der Bericht diesen Absatz:

«Zu der jüngsten US-Entscheidung beigetragen habe unter anderem die Hinrichtung des amerikanisch-israelischen Staatsbürgers Hersh Goldberg-Polin und fünf weiterer Geiseln durch die Hamas Ende August, erklärte ein US-Beamter der „Times of Israel“.»
 
Ich finde es problematisch, daß der Begriff, “Hinrichtung“, der im engeren Sinn die Vollstreckung eines legalen Todesurteils beschreibt,[[Egal, was man von der Todesstrafe hält, gibt es einen haushohen Unterschied zwischen der Vollstreckung eines von einem ordentlichen Gericht ausgesprochenen Urteils einerseits, und der willkürlichen Ermordung von Geiseln durch Kriminelle und Terroristen (nicht, daß ich da einen großen Unterschied sehe zwischen diesen beiden Gruppen).]] immer wieder, genauso wie der englische Begriff “execution“, für die illegale Tötung von Menschen verwendet wird — dabei handelt es sich in Wirklichkeit um Mord. Die Tötung von Geiseln ist nichts anderes als feiger Mord.

Solche Taten als  “Hinrichtung” zu bezeichnen, verleiht sowohl der Tat als auch den Tätern einen Anschein der Respektabilität und Legitimität, der ihnen nicht zusteht.

Die Sprache, die wir verwenden, ist  genauso wie die Worte die wir wählen, sehr wichtig.

Was ist die demokratische Pflicht der Parteien?

Wolf Paul, 2024-10-25

Herbert Kickl behauptet, daß es die demokratische Pflicht der ÖVP wäre, ihm als dem Erstplatzierten der Nationalratswahl zu einer Regierungsmehrheit zu verhelfen und mit der FPÖ eine Koalition einzugehen. Viele seiner Wähler sind der gleichen Meinung, und empfinden es als unfair und undemokratisch, daß Bundespräsident Van der Bellen nicht Kickl, sondern Karl Nehammer mit der Regierungsbildung beauftragt hat.

Aber sehen wir das ganze mal genauer an.

  • Die FPÖ unter Herbert Kickl wurde mit 28,85% der gültigen Stimmen von etwas mehr als einem Viertel der Wahlbeteiligten gewählt – das heißt, 71,15% haben sie nicht gewählt. Er hat also bestenfalls eine relative Mehrheit, und genaugenomnen eine „absolute“, bzw. sogar eine „Zweidrittel“-Minderheit“ – weit entfernt von einer regierungsfähigen Mehrheit.
  • Die Parteiführungen sind ihrem Gewissen, ihren Wählern, und dem Wohl des Staates verpflichtet. Sie haben keinerlei Verpflichtung gegenüber den anderen Parteien oder deren Wählern. Entscheidungen über mögliche Koalitionen sind daher Gewissensentscheidungen, je nach dem, wie sie das Wohl des Staates und den Willen ihrer Wähler einschätzen.
  • Der Bundespräsident ist seinem Gewissen, den Gesetzen, und dem Wohl des Staates verpflichtet; erst danach kommt, wenn überhaupt, eine Verpflichtung, etablierte Gepflogenheiten („Des hamma scho imma so gmacht“) einzuhalten. Außer dem Wahlergebnis ist bei der Überlegung, wen er mit der Regierungsbildung beauftragen soll, die Wahrscheinlichkeit einer regierungsfähigen Mehrheit ein wesentlicher Faktor – schließlich würde ein Scheitern der Regierung nach kurzer Zeit und eine Neuwahl enorme Kosten verursachen.
  • Alle zahlenmäßig relevanten Parteien haben eine Zusammenarbeit mit der FPÖ unter Herbert Kickl ausgeschlossen, weil ihr Gewissen und das Wohl des Staates, wie sie es verstehen, dies nicht zulassen. Herbert Kickl hat seinerseits einen Rückzug seiner Person dezidiert ausgeschlossen. Also war und ist es klar, daß die FPÖ keine regierungsfähige Mehrheit zustande bringen würde, und deshalb war die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Auftrag zur Regierungsbildung an Karl Nehammer zu geben, durchaus logisch und rechtens.
  • Die klare Weigerung von ÖVP, SPÖ, NEOS, und Grünen mit der FPÖ zu koalieren impliziert allerdings, im Hinblick auf das Wohl des Staates, der eine stabile Regierung braucht, die grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit, einschließlich einer möglichen Koalition. Und nachdem die FPÖ ihren (relativen) Wahlsieg zu einem großen Teil nicht ihrer ideologischen Ausrichtung verdankt, sondern der Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit den vielen Themen, die dank ständigem Parteien-Hickhack seit Jahren oder sogar Jahrzehnten ungelöst dahindümpeln, gibt es da auch eine moralische Verpflichtung, diese Themen konstruktiv anzugehen.
  • Aufgrund der Zahlen liegt die Verantwortung dabei primär auf ÖVP und SPÖ, ihre Differenzen zu überwinden und dann einer der beiden kleineren Parteien ein akzeptables Angebot zu machen, damit eine stabile, regierungsfähige Mehrheit zustande kommt, die in erster Linie nicht Parteiinteressen im Auge hat, sondern das Wohl des Staates und seiner Menschen. Eine ÖVP/SPÖ/NEOS Koalition hätte eine Wählerstimmen-Mehrheit von 56,55%, eine ÖVP/SPÖ/Grüne Koalition hätte 55,65%. In Parlamentssitzen wären das 110 oder 108 Sitze von 183 – beides wären durchaus demokratisch legitime Regierungen mit einer absoluten Mehrheit.
  • Die primäre moralische Verantwortung von ÖVP und SPÖ ergibt sich aus aus der historischen Tatsache, daß es Regierungen unter Führung dieser beiden Parteien waren, welche die fehlende Aufarbeitung und Lösung dieser lange anstehenden Mißstände zu verantworten haben.

Wenn sie das nicht zustandebringen, und die vielen Mißstände im Land nicht produktiv in Angriff nehmen, dürfen sie sich nicht beschweren und jammern, wenn die FPÖ bei der nächsten NR-Wahl, oder bei der BP-Wahl 2029, noch mehr Wähler überzeugt.

Darmol wird nicht mehr produziert

Wolf Paul, 2024-09-09

Bis vor Kurzem habe ich Darmol Abführschokolade zur Regulierung meines Stuhlgangs verwendet; seit ein paar Monaten ist das Medikament in den Apotheken (sowohl vor Ort als auch Online) „derzeit nicht verfügbar,“ ohne Hinweis darauf, warum, bzw. wann es wieder verfügbar sein wird. Diese Woche wurde mir diese Situation zu dumm und ich habe dem Hersteller eine E-Mail geschrieben mit der Bitte um eine Erklärung.

Heute kam nun die Antwort:

Der Artikel Darmol Abführschokolade wird leider nicht mehr produziert.

Ich poste das hier, damit wer in Hinkunft im Internet nach „Darmol Verfügbarkeit“ sucht, erfährt, daß Darmol Abführschokolade nicht nur „derzeit nicht verfügbar“ ist, sondern eigestellt wurde und daher nie wieder verfügbar“ sein wird.

Hier die e-Mail des Herstellers::

Vaterland – ein Roman

Wolf Paul, 2024-08-04

Ich habe gerade „Vaterland“ von Robert Harris fertig gelesen, einen Kriminalroman, der 1964 in einem Deutschland spielt, das den Krieg gewonnen hat. Die Idee zu diesem Buch kam Harris, als er als Journalist über die „Hitler-Tagebücher“-Affäre berichtete. Hier ist die Buchbeschreibung von Amazon:

Berlin, 1964. Deutschland hat den Krieg gewonnen, und das Großdeutsche Reich erstreckt sich vom Rhein bis zum Ural und hält einen unsicheren Frieden mit seinem nuklearen Rivalen, den Vereinigten Staaten. Während das Vaterland sich auf eine große Feier zu Adolf Hitlers fünfundsiebzigstem Geburtstag vorbereitet und einem versöhnlichen Besuch des US-Präsidenten Joseph Kennedy und des Botschafters Charles Lindbergh entgegensieht, wird ein Kriminalpolizei-Ermittler mit der Untersuchung einer Leiche in einem See nahe Berlins vornehmstem Vorort beauftragt.

Doch als Xavier March die Identität der Leiche entdeckt, stößt er auch auf Anzeichen einer Verschwörung, die bis in die höchsten Kreise des Deutschen Reiches reichen könnte. Und während die Gestapo ihm dicht auf den Fersen ist, geraten March und die amerikanische Journalistin Charlotte Maguire in einen Wettlauf, um die Wahrheit aufzudecken – eine Wahrheit, die bereits gemordet hat, eine Wahrheit, die Regierungen stürzen könnte, eine Wahrheit, die die Geschichte verändern wird.

Das Buch war eine faszinierende Lektüre mit historischen Akteuren, die zu jener Zeit außerhalb der Fiktion bereits unterschiedlich lange tot waren. Der Roman verfälscht die Geschichte nicht: Keine historisch bösen Figuren wurden beschönigt, und keine historisch guten Figuren wurden zu Monstern gemacht. Der überraschendste Aspekt des Buches ist, daß die Welt offenbar noch immer nicht weiß, was aus den Juden Europas geworden ist – es wird angenommen, daß sie irgendwo in den weiten Gebieten im Osten verschwunden sind.

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen und war beeindruckt von der Sorgfalt, mit der der Autor die deutschen Wörter im Buch verwendet hat – er ist der erste englischsprachige Autor, den ich kenne, der den korrekten Plural von „Autobahn“ benutzt: „Autobahnen“, nicht „Autobahns“.

Das Buch wurde in der englischsprachigen Welt sofort ein Bestseller; seine Rezeption in Deutschland war zunächst recht negativ. Es wurde weithin als anti-deutsch angesehen (Der Spiegel: eine „Dämonisierung der Bundesrepublik“), und kein deutscher Verlag wollte es veröffentlichen; es erschien in der Schweiz, und erst Jahre später wurde das Taschenbuch von einem deutschen Verlag herausgebracht. Ich empfand das Buch weder als anti-deutsch noch als Dämonisierung, aber dies zeigt, wie schwierig und schmerzhaft es für Deutsche und Österreicher immer noch ist [1]), sich an ihre schuldhafte nationale Geschichte zu erinnern. Letztendlich setzte sich eine objektivere Rezeption durch.

Die Filmversion werde ich mir nicht ansehen: Laut Wikipedia hält sie sich nicht getreu an die Vorlage und hat ein völlig anderes Ende.

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  1. (ich erwähne Österreich hier ausdrücklich, weil entgegen dem populären Mythos in diesem Land, daß Österreich das erste Opfer der Nazis war, viele Österreicher an den Gräueltaten des Dritten Reiches beteiligt waren, angefangen bei Hitler selbst. Eine der Hauptfiguren des Buches ist der Kärntner Odilo Globocnik, Gauleiter in Wien und später SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des Generalgouvernements (Polen).[]

Der Fall Angela Carini – Imane Khelif

Wolf Paul, 2024-08-02

Ein paar Gedanken, angestoßen von der Kausa Carini-Khelif, aber auch darüber hinausgehend, in willkürlicher Reihenfolge, die wahrscheinlich zu meiner Einstufung als rückständiger und “transphober” männlicher Chauvinist führen werden — sei’s drum, als “homophob” gelte ich ohnehin schon.[1]

  • Ich sage „Hut ab!“ vor Angela Carini, die sagte, „Wenn sie nach Meinung des IOC kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung. Diese Kontroversen haben mich traurig gemacht, und es tut mir leid für die Gegnerin, die auch nur hier ist, um zu kämpfen“, sagte Carini. Dass sie nach dem Ende des Kampfes den üblichen Handschlag verweigert habe, sei ein Missverständnis gewesen: „Das war keine absichtliche Geste, ich entschuldige mich bei ihr und bei allen. Ich war wütend, weil die Olympischen Spiele für mich vorbei waren. Ich habe nichts gegen Khelif, wenn ich sie noch einmal treffen würde, würde ich sie umarmen.“ Hochachtung!
  • Ich halte Boxen generell für untauglich als  Sportart, und erst recht für Frauen unpassend. Das ist eine Fähigkeit, die sicherlich in die Polizei- und Soldatenausbildung, sowie eventuell in Selbstverteidigungskurse, gehört, aber nicht in die olympischen Spiele.
  • J.K. Rowling setzt sich seit Jahren dafür ein, biologisches/genetisches Geschlecht (engl. Sex) und das davon möglicherweise abweichende soziale Geschlecht (Gender) auseinander zu halten, und tritt in diesem Zusammenhang lobenswerterweise dafür ein, mühsam erkämpfte Schutzräume für biologische/genetische Frauen zu erhalten. Beide Positionen unterstütze ich voll und ganz.
  • Ob es sich bei Imane Khelif tatsächlich um einen Mann oder eine Frau handelt, ist mir nicht klar. Imane scheint nicht in das typische Transgender-Muster zu passen. Allerdings ist Khelifs (biologisch-genetisches) Geschlecht auch nicht ganz eindeutig.[2]
  • Wenn man sportliche Wettkämpfe nach Männern und Frauen, das heißt nach biologisch-genetischem Geschlecht, getrennt durchführt, wofür es ja auch gute, wissenschaftliche Gründe gibt,[3]  dann muß es fairerweise objektive Kriterien dafür geben, wer Mann und wer Frau ist, und die müssen im Zweifelsfall auch überprüft werden. 

Soweit spezifisch zum Fall Carini-Khelif. Aber die Diskussion  über diesen Fall berührt und wirft auch weitere Themen auf.

  • Ich unterscheide einerseits zwischen religiösen Überzeugungen, die in meinem Privatleben und im Leben meiner Glaubensgemeinschaft gelten, und andererseits der Gesetzgebung und den gesellschaftlichen Konventionen unserer größtenteils sekularen Gesellschaften und Staaten. Im Gegensatz zu vielen meiner Glaubensgenossen bestehe ich nicht darauf, daß Menschen mit anderen oder gar keinen religiösen Überzeugungen sich entsprechend meiner Überzeugungen verhalten.
  • In einem demokratisch regierten Staat muß es legitim sein, daß Personen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Wertevorstellungen diese im Einklang mit den geltenden Gesetzen politisch vertreten und umzusetzen versuchen. Dieses Recht steht sowohl Konservativen als auch “Progressiven” zu, Rechten und Linken, Religiösen und Atheisten.
  • Ich respektiere das Recht jedes Menschen, im Einklang mit den geltenden Gesetzen nach seinen Vorstellungen zu leben und zu lieben. Ich behalte mir aber die freie Meinungsäußerung zu den Lebensstil-Entscheidungen Anderer vor und wehre mich gegen die zwanghafte, teilweise sogar gesetzliche erzwungene, Erwartung, diese Entscheidungen gut und richtig zu finden
  • Mit Ausnahme bestimmter physischer Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht halte ich Diskriminierungsverbote nur im Bereich der öffentlichen Hand sowie bei lebensnotwendigen Einrichtungen, eventuell auch bei sogenannten Anonymgesellschaften[4], für legitim; ich denke, daß sie dort zu weit gehen, wo sie  in das Recht individueller Bürger eingreifen, selbst zu bestimmen, mit wem sie arbeiten oder Geschäfte treiben wollen, indem sie ihnen vorschreiben, wen sie z.B. anstellen oder für welche Kunden sie ihre Dienstleistungen erbringen sollen. 
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  1. Die Anwendung von Begriffen wie “homophob” und “transphob”auf Alle, die nicht mit der gerade politisch korrekten Meinung zu Homo- oder Transsexualität übereinstimmen, impliziert, daß solche Meinungen keine rationale Grundlage haben können, und ist daher sowohl unwissend als auch einer vernünftigen, zivilisierten Debatte wenig zuträglich.[]
  2. Einer der großen Trugschlüsse in der aktuellen Gender-Debatte ist die Annahme, daß sich Dinge wie Gender-Dysphorie, Intersexualität, und rein psychologische Probleme, wie das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, ganz einfach und problemlos durch Hormonbehandlung und/oder chirurgische Eingriffe, oder sogar einfach durch rechtliche Vorschriften, lösen lassen. Umso länger Medizin, Psychologie, und Gesetzgebung diesen Ansatz verfolgen, umso mehr unerwartete, schädliche Nebenwirkungen tauchen auf.[]
  3. Neben den individuellen Unterschieden zwischen einzelnen Menschen es gibt wissenschaftlich nachgewiesene Unterschiede in der körperlichen Leistungsfähigkeit zwischen Menschen mit männlicher DNA und Menschen mit weiblicher DNS.[]
  4. Anonymgesellschaften heißen bei uns Aktiengesllschaften. Es sind Firmen oder Organisationen, die nicht einzelnen, namentlich bekannten Personen gehören oder zuzuordnen sind, und die daher auch nicht in demselben unmittelbaren Zusammenhang stehen mit den Überzeugungen der Eigentümer, wie es bei Personengesellschaften der Fall ist,[]

Die Niederlande sind schon weit unten auf einer schiefen Bahn …

Wolf Paul, 2024-07-27

Während meiner Kindheit hatte ich Kontakte zu flämischen (belgischen) und niederländischen Menschen, die mich sehr beeindruckten; in meinen späten Teenagerjahren kam ich durch eine Gruppe, die mehrere Niederländer umfasste, zu einem lebendigen Glauben an Christus, und in den folgenden Jahren beeinflussten mich niederländische Menschen, darunter die verstorbene Autorin Corrie ten Boom, eine niederländische jüdische Holocaust-Überlebende, in vielerlei Hinsicht. Ich wurde ein “Holland-Fanboy”, so sehr, dass ich Niederländisch lernte (was, zugegeben, keine allzu schwierige Aufgabe für einen sprachlich begabten Deutschsprecher ist).

In den letzten Jahrzehnten hat das Land, das einst gegen die unmenschlichen Nazi-Ideologien, einschließlich Euthanasie und Antisemitismus, aufstand, die Euthanasie angenommen und kürzlich eine beunruhigende Toleranz gegenüber sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern gezeigt.

Der 29-jährige niederländische Beachvolleyballspieler Steven van de Velde wurde 2016 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er gestanden hatte, 2014 in Großbritannien ein 12-jähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Unter einem Abkommen zwischen Großbritannien und den Niederlanden wurde er in die Niederlande überstellt, um seine Strafe zu verbüßen, wo seine Verurteilung in “Unzucht” geändert und seine Strafe auf ein Jahr reduziert wurde, das er in einem niederländischen Gefängnis verbüßte. Etwa ein Jahr nach seiner Freilassung nahm van de Velde seine Sportkarriere wieder auf und trat im Beachvolleyball an. Heuer wurde er ausgewählt, die Niederlande bei den Olympischen Spielen in Paris zu vertreten.

Als Reaktion auf Proteste gegen seine Teilnahme von Opfervertretern sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden selbst erklärte das niederländische Olympische Komitee, dass “Steven kein Pädophiler ist”, dass er kein Rückfalltäter ist und dass alle notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen wurden.

Aber Rückfall ist hier nicht das Problem.

Erstens, angesichts der quasi-religiösen Rolle und Bedeutung des Wettkampfsports in unserer Kultur – etwas, das durch den Prunk und das Ritual sowohl bei den Olympischen Spielen als auch bei anderen internationalen Wettbewerben sowie durch die Verehrung erfolgreicher Athleten belegt wird – kommt die Aufstellung eines Athleten bei einem großen internationalen Wettbewerb wie den Olympischen Spielen einer Art Heiligsprechung gleich, einer Darstellung dieses Athleten als Heiliger und Vorbild, als jemand, der nachahmenswert ist. Ist das wirklich angemessen im Fall von jemandem, der wegen dreimaliger Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens verurteilt wurde?

Zweitens beweist dies enormen Respektlosigkeit gegenüber den Opfern sexuellen Missbrauchs, von denen die meisten jahrelang mit den negativen Auswirkungen kämpfen, oft körperlich, aber immer psychologisch, während Täter, selbst wenn sie lange Gefängnisstrafen verbüßen, und noch mehr, wenn ihre Inhaftierung wie im Fall von van der Velde nur sehr kurz war, die Situation psychologisch überwunden und sogar erfolgreiche Karrieren haben. Sie auf ein Podest zu stellen, verschärft die den Opfern zugefügte Gewalt.

Ich bin sehr enttäuscht, dass das niederländische Rechtssystem die Dreistigkeit besaß, eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zu “Unzucht” zu umzuwandeln und eine vierjährige Strafe auf ein Jahr zu reduzieren; ich bin enttäuscht, dass es in den Niederlanden keinen Massenprotest gegen die Aufstellung eines verurteilten Kinderschänders gibt, und dass der Rest des niederländischen Teams offenbar auch kein Problem mit der Anwesenheit dieses Mannes in ihren Reihen hat.

Schließlich finde ich die Behauptung, dass van der Velde kein Pädophiler sei, ebenfalls sehr beunruhigend. Pädophilie wird als Pathologie definiert, als krankhafte,  abnormale, fast süchtig machende oder zwanghafte sexuelle Anziehung zu Kindern; und obwohl es definitiv schuldhaft ist, dieser Anziehung nachzugeben, und die Auswirkungen für die Opfer verheerend sind, impliziert die Einstufung als Erkrankung zumindest eine gewisse Milderung der Schuld. Wenn jedoch jemand Kinder missbraucht, insbesondere sie sexuell missbraucht und bis zur Vergewaltigung geht, ohne an der Krankheit der Pädophilie zu leiden, dann ist diese Tat nur durch reines, unvermitteltes Böses zu erklären.

Natürlich gehen wir davon aus, dass ein Straftäter, der seine Gefängnisstrafe verbüßt hat damit für seine Tat bezahlt hat, oder in einem christlichen Kontext, seine Sünde bereut und Vergebung von Christus empfangen hat, und daß seine Tat ihm nicht länger vorgehalten werden sollte; aber es spricht viel dafür, dass bestimmte Verbrechen, selbst nachdem sie gebüßt und vergeben wurden, eine Person für bestimmte Rollen disqualifizieren. Dies gilt für Pastoren, Priester, Lehrer und andere, die unsere Kultur zu Vorbildern erhebt. Sühne (weltlich und religiös) und Vergebung implizieren nicht, dass es keine bleibenden Konsequenzen gibt.

Übersetzt aus meinem ursprünglichen englischen Text mit Hilfe von ChatGPT.

Aktueller Status

Wolf Paul, 2024-07-17

Kürzlich hat mich jemand auf Facebook nach meinem Gesundheitszustand gefragt, daher hier ein kurzes Update:

Im April 2022 hatte ich eine Operation wegen eines Abszesses an der Innenseite meines rechten Oberschenkels und war mehrere Monate mit einem “vacuum-assisted closure” Gerät ans Bett gefesselt. Als dieses nach etwa drei Monaten entfernt wurde, waren meine Beinmuskeln so stark verkümmert, dass ich nicht mehr aufstehen oder auch nur mein Gesäß vom Bett heben konnte.

Nach viel Arbeit war ich im Oktober 2023 fast wieder in der Lage, mit Hilfe einer stabilen Gehhilfe aufzustehen, als ich wegen einer Lungenentzündung für zwei Wochen im Krankenhaus lag. Als ich entlassen wurde, war ich wieder am Ausgangspunkt, und seitdem geht es nur sehr langsam voran.

Dank meines Kindle, YouTube und live gestreamten Gottesdiensten im Gefolge von Covid, sowie gelegentlichen Besuchen und regelmäßigen Anrufen von Freunden habe ich mir meinen Verstand bewahrt, während ich auf die 2 Quadratmeter meines Bettes beschränkt bin.

Großer Dank gebührt meiner Frau Geraldine, die mich die ganze Zeit hindurch hingebungsvoll gepflegt und versorgt hat.

Predigen mit einem Mühlstein um den Hals?

Wolf Paul, 2024-07-16

Es ist fast zu einem wöchentlichen Ereignis geworden: Ein weiterer langjähriger Pastor einer evangelikalen Gemeinde in den USA wurde wegen Kindesmissbrauchs festgenommen.

Ich möchte nicht darüber spekulieren, ob dies ein typisch amerikanisches Problem ist; ich vermute eher nicht, denn wir hatten hier vor einigen Jahren den massiven Missbrauchsskandal in der römisch-katholischen Kirche. [1] Wenn wir in  evangelikalen Gemeinden hier weniger von solchen Skandalen hören, liegt das wahrscheinlich an soziologischen Gründen wie der vergleichsweise geringen Größe der Bewegung und ihrem Minderheitenstatus in den meisten Teilen Europas und nicht daran, dass die europäischen Evangelikalen heiliger sind als die amerikanischen.

Ich möchte auch nicht mit dem Finger auf diese Männer zeigen; wir alle haben unsere Versuchungen, und wenn meine nicht so abscheulich sind wie ihre, dann ist es rein durch die Gnade Gottes.

Aber ich möchte auf etwas eingehen, das ich nicht nachvollziehen kann, nicht in einer verurteilenden Weise, sondern weil es mich verwirrt.

Wenn ich auch nur einmal solche Taten begangen hätte, und besonders wenn ich sie kontinuierlich begehen würde, könnte ich nicht am Sonntagmorgen vor die Gemeinde treten, das Evangelium predigen und den Gottesdienst leiten. Ich würde mich selbst als disqualifiziert betrachten, ständig bewusst und niedergedrückt von dem Mühlstein um meinen Hals, den Jesus in Matthäus 18:6 erwähnt. [2] Tatsächlich habe ich mich immer als disqualifiziert betrachtet, zu predigen, und zögerte,  Gottesdienst zu leiten, wegen meiner eigenen Kämpfe mit menschlich gesprochen kleineren und gesellschaftlich akzeptableren Versuchungen und meinem Versagen, ihnen zu widerstehen.

In 1. Timotheus 4:1-2 spricht Paulus von “Heuchlern, die Lügen reden und in ihrem eigenen Gewissen gebrandmarkt sind,” und vielleicht erklärt das einiges. Und jeder von uns, dessen Gewissen nicht gebrandmarkt ist, oder zumindest nicht in diesem Ausmaß, sollte Gott für seine Bewahrung danken.

Im Englischen gibt es einen bekannten Ausspruch der dem englischen Reformator und Märtyrer John Bradford zugeschrieben wird. Er sah Verurteilte auf dem Weg zur Hinrichtung und sagte, “Nur aus Gottes Gnade bin ich nicht einer von ihnen!”

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  1. Diese Welle von missbrauchenden Pastoren sollte auch diejenigen nachdenklich stimmen, die den R.C. Skandal auf das Zölibatsgebot für römisch-katholische Geistliche zurückführen – all diese evangelikalen Pastoren sind verheiratet.[]
  2. Der Abschnitt spricht davon, Kindern ein Anstoß zu sein, und der jüngste Fall, auf den ich mich bezog, betrifft Kindesmissbrauch, aber ich möchte keineswegs implizieren, dass der Missbrauch von Jugendlichen oder Erwachsenen weniger abscheulich ist.[]