Untersuchungs­aus­schüsse und Korruptionsvorwürfe

Wolf Paul, 2022-04-21

Seit Monaten laufen nun in Österreich Korruptionsermittlungen. Angefangen hat es mit dem Ibiza-Video mit den Herren Strache und Gudenus, zu dem dann, trotz des Rücktritts dieser beiden FPÖ-Politiker, auf Verlangen der Opposition ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingerichtet wurde. Dieser Ausschuß begann ziemlich schnell, auch andere Vorwürfe zu untersuchen, die weder mit dem Ibiza-Video noch mit der FPÖ und ihren Politikern zu tun hatten, sondern die sich vornehmlich gegen ÖVP-Politiker richteten.

Seither ermitteln sowohl der Ausschuß als auch die Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen alle möglichen aktiven und ehemaligen ÖVP-Politiker und ihnen nahestehende Personen, wobei alle möglichen fragwürdigen Vorgänge aufgedeckt wurden, größtenteils durch SMS und andere Chatverläufe dokumentiert.

Vor Kurzem nun stellte einer meiner Facebook-Freunde die Frage, wie weit solche Untersuchungen, die ja sehr viel Geld und Zeit kosten, von Verantwortungsbewußtsein getrieben sind, und wie weit von anderen Motiven.

Es macht natürlich schon nachdenklich und betroffen, mit welcher Selbstverständlichkeit und Unbekümmertheit sich unsere “Oberen” über die Regeln und Gesetze, die sie ja selbst beschlossen haben, hinwegsetzen1, und zwar entweder ohne jedes Schuldbewußtsein, denn sonst würden sie ja diese Aktivitäten nicht schriftlich festhalten, oder aber mit beispielloser Naivität, falls ihnen nicht bewußt ist, daß auch ein elektronischer “Paper Trail” nachverfolgbar ist.

Momentan triffts die Türkisen, weil sie an der Macht und die anderen in Opposition sind; ich glaube jedoch keinen Augenblick, daß es bei umgekehrtem Vorzeichen wirklich anders aussehen würde. Es gibt ja nicht ohne Grund im Deutschen den Begriff “Parteibuchwirtschaft“, und zwar nicht erst seit sich die ÖVP von Schwarz nach Türkis umgefärbt hat.

Und genau deshalb glaube ich nicht, daß es beim Ibiza-Ausschuß und den daraus resultierenden strafrechtlichen Untersuchungen um Verantwortungsbewußtsein geht; vielmehr geht es darum, den politischen Gegner auflaufen zu lassen, und ihn, sozusagen am Pranger, vorzuführen.

Politik ist und war immer schon ein schmutziges Geschäft, auf allen Seiten, und wer sich darauf einläßt, auch mit den besten Motiven, bekommt unweigerlich einiges von dem Dreck ab, und sei es auch nur durch die unvermeidlichen Loyalitätsbezeugungen gegenüber Kollegen und Parteiführer, denen irgendwann mal Dreck am Stecken nachgewiesen wird.

Und Politik wird auch ein schmutziges Geschäft bleiben: der jugendliche Wunderwuzzi, der “eine andere Art der Politik” verspricht, bringt letztlich nur weniger Lebenserfahrung2, mehr Unbedarftheit, und sehr viel jugendliche Arroganz zu seiner Aufgabe, wie unser kurzer Kanzler anschaulich demonstriert hat.

Christen waren ja immer schon gespalten über der Frage, ob und wie weit sich Christen politisch engagieren dürfen oder sollen. Ich glaube, daß wir uns nicht beschweren dürfen, daß unsere Gesellschaft immer weltlicher wird, wenn wir Christen uns nicht in allen Bereichen engagieren, wo ein solches Engagement nicht in sich gegen Gottes Gebote verstößt. Deshalb habe ich auch durchaus Verständnis für Christen, die sich in der Politik engagieren uns sich z.B. als Kandidaten aufstellen lassen, auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene, damit sie in diesen Institutionen christliche Werte vertreten und verteidigen können. Sie haben meine Sympathie, mein Verständnis, und meine Gebete.

Und ein wesentliches Gebet ist, daß solche christlichen Politiker nicht nur dem Dreck ausweichen können, den es in der Politik unweigerlich gibt, sondern daß sie auch vor jeder Versuchung bewahrt bleiben, das schmutzige Spiel nach den schmutzigen Regeln mitzuspielen. Die Wiederwahl ist nicht alles wert.

 

__________
  1. Das ist kein rein österreichisches Phänomen, darum geht es derzeit auch im britischen Partygate-Skandal, betreffend ranghohe Politiker und Beamte, bis hinauf zu Premierminister Boris Johnson, die sich über die Covid-19 Lockdownbestimmungen hinwegsetzten und Parties veranstalteten, für die normalsterbliche Bürger von der Polizei streng abgestraft wurden[]
  2. Mangelnde Politikerfahrung gilt ja als Vorteil[]

Österreich, Rußlands Tunnel ins Herz Europas?

Wolf Paul, 2022-04-20

In einem Artikel im “New Statesman” mit dem Titel “Austria is Russia’s tunnel into the heart of Europe” (“Österreich ist Rußlands Tunnel in das Herz Europas“) schreibt Liam Hoare, “The country’s attachment to neutrality has led it to cultivate obsequious relations with Russian energy and espionage,” auf Deutsch, “Das Festhalten an der Neutralität hat Österreich dazu geführt, unterwürfige Beziehungen mit Russland in den Bereichen Energie und Spionage zu kultivieren,” und beschreibt dann weiter die engen Beziehungen zwischen Österreich und zunächst der Sowjetunion und dann der Russischen Föderation.

Nachdem ich von einigen Leuten gefragt wurde, was ich davon halte, hier meine Meinung dazu:

Das österreichische Neutralitätsgesetz 1955 (ein Verfassungsgesetz) definiert Österreichs Neutralität ausschließlich militärisch, und verbietet lediglich (a) die Mitgliedschaft in Militärbündnissen sowie (b) die Errichtung ausländischer Militärstützpunkte auf österreichischem Staatsgebiet.

Auszug aus dem Bundesgesetzblatt, “Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs”

Im Verlauf der Geschichte der Zweiten Republik hat Österreich immer wieder betont, daß wir nicht politisch neutral sind (und auch nicht sein müssen) sondern eindeutig zum westlichen Lager gehören – wenn es denn opportun war, also z.B. im Gespräch mit westlichen Regierungen und Politikern. Andererseits hat Österreich auch immer wieder eine wesentlich breiter verstandene Neutralität betont, wenn diese opportun war, also z.B. im Gespräch mit der Sowjetunion/Rußland und den Ländern des Ostblocks.

Österreichische Regierungen beider Couleurs (ÖVP und SPÖ) haben nach innen, dem österreichischen Volk gegenüber, immer betont, “Wir sind natürlich nicht moralisch neutral,” und russische Aggressionen wie die Einmärsche in Ungarn 1956 und Tschechoslowakei 1968, oder das angedrohte Eingreifen in Polen 1988 wurden ebenso offiziell verurteilt wie der Krieg gegen die Ukraine 2022. Es wurde auch betont, daß unsere Neutralität uns zu Vermittlern in diversen Konflikten prädestiniert. Gleichzeitig hat Österreich während und trotz dieser Aktionen profitable Geschäftsbeziehungen zur Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten unterhalten. Und wie alle anderen westlichen Staaten hat auch Österreich nach dem Zerfall der Sowjetunion russische Oligarchen und ihr Geld willkommen geheißen, obwohl jedem denkenden Menschen klar sein mußte, daß so kurz nach dem Ende der Sowjetwirtschaft solche Vermögen nur durch die korrupte Aneignung von Staatsvermögen der Nachfolgestaaten zustande gekommen sein konnten.

In einer Situation, in der es nie ein Risiko feindseliger Handlungen gegen Österreich von Seiten westlicher Staaten oder der NATO gab, wohl aber ein solches Risiko von Seiten der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, war die offizielle Position, die den Bürgern kommuniziert wurde, daß jeder der beiden Blöcke unsere Sicherheit vor den Aggressionen des jeweils anderen Blocks garantieren würde, und daß das Bundesheer, so klein und schwach es ist, neben seiner Funktion als Katastrophenhilfsorganisation, lediglich als symbolischer Beweis für unsere Bereitschaft dient, unsere Neutralität zu verteidigen, während die eigentliche Verteidigung in den Händen der Signatarmächte des Staatsvertrags lag.

Heute ist in der österreichischen Bevölkerung die Idee weit verbreitet, daß Kritik an der russischen Invasion der Ukraine durch das offizielle Österreich unsere Neutralität verletzt und daher problematisch ist; angesichts von Meldungen, daß Finnland und Schweden angesichts der russischen Aggression bereit sind, ihre Neutralität aufzugeben und der NATO beizutreten, ist der Prozentsatz der österreichischen Bevölkerung, der davon überzeugt ist, daß eine wesentlich breiter als nur militärisch verstandene Neutralität für Österreichs Existenz und Wohlergehen unabdingbar ist, auf 91% gestiegen, und zwar quer durch das ganze politische Spektrum.

Österreichs opportunistische Einstellung zur Neutralität ist aus dem gleichen Stoff geschneidert wie die langjährige Fiktion, daß Österreich das erste Opfer der Nazis war, und nicht ein integraler Teil des Dritten Reiches oder eine Nation williger Mittäter des Nazi-Regimes. Ein Lieblingsspruch meines Vaters war, “In Österreich war Hitler ein erfolgloser Anstreicher; erst die Deutschen haben ihn zum Führer gemacht” – eine Einstellung, die den Deuschen die Schuld an Hitler und den Nazis zuschiebt und dabei ignoriert, daß Hitlers Ideen sich im fruchtbaren Boden des politischen und intellektuellen Klimas der Ersten Republik entwickelt haben, und daß ein Gutteil der österreichischen Bevölkerung den Anschluß durchaus willkommen geheißen hat.

Erst 1991 hat der damalige Bundeskanzler die Rolle der Österreicher im Terror-Regime der Nazis, sowohl im Inland als auch im Ausland, offiziell eingestanden und sich dafür entschuldigt, und damit auch die Mär von Österreich als Hitlers erstem Opfer aufgegeben – ein Eingeständnis und eine Entschuldigung, die durchaus nicht von allen Österreichern goutiert wurden.

Meiner Meinung nach beschreibt der Artikel im New Statesman also durchaus die Realität, wie sie heute und bereits seit 1955 existiert.

Herbert Kickls blühende Phantasie …

Wolf Paul, 2022-04-11

Ich persönlich bin nicht sicher, was ich von BK Nehammer’s Besuchen in Kyiv und Moskau halten soll; wie weit es sich bei den Besuchen in der Ukraine um leeres “Virtue Signalling” handelt, bzw. ob und was es bringt, mit dem Wahnsinnigen im Kreml zu reden; daneben steht auch noch im Raum, daß die Besuche sehr naïv und nicht mit den EU-Partnern koordiniert waren, und daß die ukrainische Führung verärgert ist über Nehammers Besuch bei Putin.

Eines aber ist ganz sicher: Herbert Kickls Kritik an den Besuchen beim ukrainischen Präsidenten Selenskyj und dem Kyiver Bürgermeister Klitschko als “mit der Neutralität in Widerspruch stehend” ist zwar haarsträubender Unsinn, steht aber durchaus im Einklang mit dem sonderbaren Weltbild der FPÖ, deren verflossener Chef auch schon mal mit Hilfe einer vermeintlichen russischen Oligarchin die österreichische Innenpolitik beeinflussen wollte.

Wie der maßgebliche Artikel des Neutralitätsgesetzes sehr klar zum Ausdruck bringt, und wie ich bereits am 26. Februar diesen Jahres ausgeführt habe1 , ist die österreichische Neutralität ausschließlich militärischer Art:

“Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.”

Bündnisfreiheit und keine fremden militärischen Stützpunkte – that’s it. Alles, was darüber hinausgeht, entspringt der blühenden Phantasie von Herbert Kickl

Österreich war auch zur Zeit des kalten Krieges zwischen Ost und West nie politisch neutral, und moralisch erst recht nicht; moralische Neutralität müßte ja richtiger “Feigheit” heißen.

https://orf.at/stories/3259243/

__________
  1. Damals gings um die skurrile Idee, daß humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung im Widerspruch zur österreichischen Neutralität steht[]

Die plötzliche moralische Entrüstung über russische Oligarchen

Wolf Paul, 2022-04-07

In den letzten Wochen gibt es immer wieder Berichte über das schwierige Leben, das russische Oligarchen aufgrund der Sanktionen haben, welche EU und USA und etliche andere Staaten nach dem illegalen und nicht zu rechtfertigenden Angriff Putins auf die Ukraine verhängt haben. Die meisten dieser Berichte sind von einem Grad an moralischer Entrüstung und Schadenfreude über das Jammern dieser Oligarchen, die sich plötzlich in ihrem Lebensstil einschränken müssen, gekennzeichnet.

Ein Beispiel dafür ist dieser Bericht in der Londoner Daily Mail, den die deutsche Kreiszeitung aufgegriffen hat. Darin wird ein “persönlicher Assistent russischer Oligarchen” zitiert, der seiner moralischen Entrüstung über das Jammern seiner Klienten und deren mangelndes Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine Ausdruck verleiht.

Seine moralische Entrüstung in Ehren, aber wie soll man das einordnen, wenn er einfach auflegt, wenn seine Klienten ihn jammernd anrufen und diverse Wünsche äußern? Wieviel von seiner Arbeitsverweigerung hat letztlich damit zu tun, daß seine Klienten aufgrund ihrer sanktionsbedingt eingefrorenen Konten sein Honorar nicht mehr zahlen können?

Denn es war ja denkenden Menschen immer schon klar, daß der einzige Weg, wie Russen nach dem Kollaps der Sowjetunion zu plötzlichen Reichtum kommen konnten, so lief, daß sie sich im Zuge der Privatisierung der ehemals verstaatlichten Sowjetwirtschaft mit Duldung bzw tatkräftiger Unterstützung durch die Herren Gorbachev, Yeltsin, Putin, usw., auf korrupte Weise deren Filetstücke unter den Nagel gerissen haben – sie haben sich also russisches Volksvermögen angeeignetund sind, genau betrachtet, nichts anderes als Diebe im großen Stil.

Das hat diesen “persönlichen Assistenten” offenbar nicht gestört, genausowenig wie die Vielen im Westen, darunter individuelle Politiker, politische Parteien, und sogar Regierungen, die lange Zeit ohne Skrupel lukrative Geschäfte mit diesen Verbrechern machten, getreu dem alten Motto, “Pecunia non olet.”

Ukraine: NATO und Rußland, beide schuld?

Wolf Paul, 2022-03-07

Es ist für mich unverständlich und in keiner Weise nachvollziehbar, daß es nach wie vor Menschen bei uns im Westen (Westeuropa, USA, Australien/NZ) gibt, welche die Schuld für den aktuellen Ukraine-Krieg bei den USA und der NATO sehen, bzw. USA/NATO und Rußland gleichermaßen dafür verantwortlich machen.

Auch wenn man den USA und deren Außenpolitik in den letzten 75 Jahren kritisch gegenübersteht, und die NATO bzw. Militärbündnisse allgemein ablehnt, muß man schon sehr mit Blindheit geschlagen sein, um gewisse Unterschiede nicht zu sehen.

Ich habe in den letzten Tagen Kommentare auf FB und Artikel in einschlägigen Medien gelesen, welche die NATO-Mitgliedschaft westeuropäischer Staaten unter amerikanischer Führung einerseits, und den von Russland dominierten Ostblock andererseits, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg politisch und moralisch gleichsetzen.

Aber man muß sich nur die sehr unterschiedliche Entwicklung der Länder auf den zwei Seiten des “Eisernen Vorhangs” ansehen, politisch, wirtschaftlich, kulturell, um jede Äquivalenz ins Reich von Fantasie und Lügenmärchen zu verbannen:

  • Auf der einen Seite blühende Demokratien, Wohlstand, Reisefreiheit, ein lebendiges und vielfältiges kulturelles Leben mit Religions-, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit;
  • auf der anderen Seite Ein-Parteien-Herrschaft, stagnierende Wirtschaftssysteme, Kultur und Presse unter strenger staatlicher Reglementierung, Menschen, die für abweichende Meinungen und sogar für religiöse Betätigung durch vielfältige Maßnahmen bis hin zu Gefängnis bestraft wurden.

Erst ab 1989 und nach dem Ende der Sowjetunion konnten sich die osteuropäischen Staaten größtenteils von der russischen Vorherrschaft befreien.

Ja, die USA haben des öfteren möglicherweise ungerechtfertigt “Weltpolizist” gespielt; diese Rolle hat sich gewissermaßen aus der Situation nach dem 2. Weltkrieg entwickelt, wo sie ja gemeinsam mit der Sowjetunion für das Ende der Nazi-Schreckensherrschaft gesorgt hatten; in der Folge waren sie in Korea und Vietnam spektakulär erfolglos. Seither beschränken sich amerikanische Militäraktionen größtenteils auf Situationen, wo es tatsächlich um Strafaktionen als Antwort auf konkrete Angriffe auf die USA geht oder um die Unterstützung angegriffener Partner oder Verbündeter. In allen Fällen haben sich die USA nach Beendigung der militärischen Operationen wieder zurückgezogen, statt sich das entsprechende Territorium einzuverleiben.

Offiziell behauptet Putin, daß sich Rußland dadurch bedroht fühlt, daß sich die osteuropäischen Staaten der NATO (und auch der EU) angeschlossen haben, bzw. im Fall der Ukraine, dies anstreben; wer wirklich davon ausgeht, daß die NATO einen Angriffskrieg mit Russland beginnen könnte, beweist damit nur, daß er weder das amerikanische noch die europäischen Völker versteht.

Und Vladimir Putin glaubt das auch nicht wirklich.

In mindestens zwei Reden in den letzten Wochen hat er sehr klar gemacht, daß es vielmehr darum geht, daß er die Ukraine als integralen Teil Rußlands sieht, der von Lenin dummerweise als eigene Sowjetrepublik abgetrennt wurde, was es der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion erlaubt hat, in die Unabhängigkeit zu rutschen. Putin möchte diesen historischen Fehler beheben, und zwar möglichst bevor das durch eine eventuelle Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO unmöglich oder zumindest riskanter wird.

Er hat sich dabei allerdings mehrfach verrechnet, hier ist eine teilweise Liste seiner Fehlkalkulationen:

  1. Der Schauspieler und Komiker Voldodymyr Zelenskyy hat sich nicht als “Push-Over” erwiesen, der beim ersten Anzeichen von Gefahr mit der wohlgefüllten Portokasse ins Ausland flieht,sondern als standfester ukrainischer Patriot, der sein Volk zu mutigem Widerstand inspiriert.
  2. Die ukrainische Bevölkerung, einschließlich weiter Teile der russischsprachigen Minderheit, hat die russischen Truppen nicht als Befreier, sondern als Angreifer und Feinde empfangen, und leistet wesentlich mehr Widerstand als erwartet.
  3. Nachdem der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill Putins Krieg in der Ukraine unterstützt, haben ihm immer mehr Bischöfe und Priester der ukrainisch-orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) die Gefolgschaft aufgekündigt.
  4. Die Weltöffentlichkeit hat schärfer, und nach dem ersten Schock auch mit größerer Einmütigkeit reagiert, und hat Sanktionen verhängt, die Rußland hart treffen, teilweise auch mit hohem Kostenrisiko für die eigene Wirtschaft.
  5. Auch in Rußland selbst regt sich zunehmend Widerstand gegen diesen Krieg, den Putin eigentlich vor der russischen Bevölkerung verheimlichen wollte.

Die Tatsache, daß auch eine Woche nach Beginn der russischem Invasion der Ukraine keine NATO-Truppen in der Ukraine sind, und soweit man das abschätzen kann, die NATO auch nicht vorhat, militärisch einzugreifen, stellt den besten Beweis dafür dar, daß die NATO keine militärische Bedrohung Rußlands darstellt. Allerdings würde ein wirtschaftlich erfolgreiches und freies EU-Mitglied Ukraine an der Grenze zum immer noch autokratisch regierten Russland eine politische Bedrohung für Putins Regime darstellen. Deshalb ist davon auszugehen, daß Putins Ziel in der Ukraine die Errichtung eines Vasallenstaates ist, der als Buffer zwischen dem russischen Kernland und der EU dienen soll, so wie das weiter nördlich auch Belarus ist – und ebenso wie in Belarus würde das in der Ukraine die Abschaffung der Demokratie und ein repressives Regime von Rußlands Gnaden bedeuten.

Niemand weiß derzeit, wie das alles ausgehen wird, aber diejenigen, die diesen Krieg und Vladimir Putin verteidigen, sind mit moralischer und politischer Blindheit geschlagen.

„Die Russen“ sind nicht der Feind!

Wolf Paul, 2022-03-03

In den sozialen Medien gibt es neben vielen positiven Postings und Kommentaren der Unterstützung für die Ukraine, und den ärgerlichen Kommentaren von Putin-Verteidigern, leider auch Kommentare, die “die Russen” verurteilen und beschimpfen, und für die Katastrophe in der Ukraine verantwortlich machen.

Leute, denkt daran, daß Russland immer noch keine wirkliche funktionierende Demokratie ist; daß auch, wenn es **relativ** freie Wahlen gibt, die Information der Wähler im Vorfeld der Wahl sehr eingeschränkt ist und Kandidaten willkürliche von der Wahl ausgeschlossen oder unter verschiedenen Vorwänden in Straflagern landen.

Und im Gegensatz zu unseren westlichen Staaten unterliegt in Russland ein einmal gewählter Präsident fast keiner Kontrolle und kann praktisch tun und lassen, was er will.

Der Krieg in der Ukraine wird von Vladimir Putin und einem relativ kleinen Kreis von einflußreichen Leuten direkt verantwortet; ein weiterer Kreis, zu dem viele der bekannten Oligarchen gehören, unterstützt dieses System, weil sie es ausgenutzt haben, um ihre Millionen anzuhäufen.

Die normalen Bürger Russlands, einschließlich der meisten Soldaten im Feld in der Ukraine, haben keinerlei Einfluß auf diese Entscheidungen; wenn sie sich dagegen aussprechen, riskieren sie den Verlust ihrer Existenz und landen sogar im Gefängnis.

Deshalb sollten wir sehr vorsichtig sein mit Schuldzuweisungen an “die Russen.” Und die Ukrainer sind uns da ein Vorbild.

Dieses Foto ist aus einem Video-Clip, der auf Telegram und Twitter verbreitet wurde. Man sieht hier einen gefangengenommenen russischen Soldaten, der Tee trinkt und einen Snack ißt, während eine Frau mit dem Handy eine Video-Verbindung zu seiner Frau herstellt. Sobald die Verbindung steht, bricht der Soldat in Tränen aus; er ist zu bewegt, um zu sprechen, aber er bläst Küsschen zur Kamera, während ihm Leute auf den Rücken klopfen, um ihn zu beruhigen. In dem Video hört man einen Mann sagen, “Diese jungen Männer, das ist nicht ihre Schuld. Sie wissen nicht, warum sie hier sind.” Ein anderer Mann sagt, “Sie haben veraltete Landkarten, sie haben sich verirrt.”

Ist humanitäre Hilfe Neutralitätsverletzung? Natürlich nicht!

Wolf Paul, 2022-02-26

Die Niederösterreichischen Nachrichten haben auf Facebook einen Artikel mit dem Titel, Nehammer: Österreich steht Ukrainern zur Seite, verlinkt, mit der Beschreibung,

Die Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu. Kanzler Karl Nehammer verurteilt die russischen Angriffe – und sagt der ukrainischen Bevölkerung Unterstützung zu.

Unter diesem Post der NÖN gibt es haufenweise Kommentare, die Bundeskanzler Nehammer in teilweise beleidigender Wortwahl Neutralitätsverletzung vorwerfen, unter anderem mit der Forderung an  Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, dem Bundeskanzler Nachhilfeunterricht in Sachen Neutralität zu erteilen, da er in der Sonderschule offenbar nicht genug gelernt hat.

Das ist Nonsense; Nachhilfeunterricht, nicht nur in politischer Bildung sondern vor allem auch in Anstand und Umgangston, brauchen die Verfasser dieser Kommentare.

Die österreichische Neutralität, zu der wir uns im Vorfeld des Staatsvertrages verpflichet haben, und die im Neutralitätsgesetz festgeschrieben ist, ist eine ausschließlich militärische Neutralität – weder eine politische noch eine moralische. Dem österreichischen Staat und seiner Regierung steht es durchaus zu, in der aktuellen Situation eine Meinung zu haben und auch zu äußern.

Außerdem hat BK Nehammer ausdrücklich von medizinischer und humanitärer Hilfe für das ukrainische Volk gesprochen, was eindeutig NICHT der militärischen Neutralität widerspricht. Drum hats auch gar nichts mit der Verteidigungsministerin zu tun.

Im übrigen wurde die österreichische Neutralität im Zuge des EU-Beitritts Österreichs und der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages noch weiter eingeschränkt und besteht derzeit im wesentlichen in einer rein militärischen Bündnisfreiheit.

Viel Lärm um nichts: der koalitionäre Side-Letter

Wolf Paul, 2022-01-31

UPDATE: Meine Reaktion auf das ZiB-Interview mit dem Korruptionsexperten Martin Kreutner am Abend des 31. Januar.

Ich halte die Aufregung über den “Side Letter” der türkis-grünen Koalition für gekünstelt, übertrieben und absolut verzichtbar.

Natürlich werden in Koalitionsverhandlungen auch Absprachen über Personalbesetzungen getroffen, das war bei türkis-grün genauso wie bei türkis-blau, und natürlich auch bei rot-schwarz, und ist auch bei allen anderen Koalitionen, in Österreich und anderswo, genauso.

Daß das in den Koalitionen unter dem sich modern und mondän gebenden Sebastian Kurz dann “Side Letter” heißt, ist ein rein kosmetisches Detail und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das ein völlig normaler Teil von Koalitionsabkommen ist. Ebenso ist inzwischen klar, trotz gegenteiliger Ankündigungen bei seinem Amtsantritt an der ÖVP-Spitze, daß diese Koalition im wesentlichen genauso funktioniert, wie jede andere.

Das einzige, was bei der ÖVP nach dem Farbwechsel von schwarz nach türkis anders ist: bei der ehemals christlich-sozialen Volkspartei ist nun von “christlich” fast nichts mehr zu bemerken (die Handvoll von gläubigen Christen unter den Abgeordneten hat leider nicht viel Einfluß auf die Politik), und auch das Soziale muß man länger suchen.

UPDATE am 1. Februar:

In der gestrigen ZiB dazu befragt, weist der Korruptionsexperte Martin Kreutner darauf hin,

  • daß es bei Vereinbarungen natürlich darauf ankommt, ob ihre Inhalte gesetzeskonform sind;
  • daß geheime Vereinbarungen nicht nur zu Zweifeln daran führen, sondern auch zur steigenden Politikverdrossenheit in der Bevölkerung beitragen;
  • daß bei manchen der angesprochenen Personalentscheidungen eine Ausschreibung gesetzlich vorgeschrieben ist, welche durch solche Vereinbarungen zu teuren Alibiaktionen verkommen, die letztlich nichts als Verschwendung von Steuermitteln sind;
  • und daß der Hinweis, es hätte derartige Vereinbarungen zu Personalentscheidungen immer schon gegeben und sie wären Teil jedes Koalitionsabkommens, gerade dann besonders problematisch ist, wenn man sich Transparenz und “eine andere Art der Politik” (und damit auch die Abkehr vom üblichen Postenschacher) auf die Fahnen geschrieben hat.

All dem kann ich durchaus zustimmen; dennoch halte ich vor allem die Empörung von Oppositionspolitikern für unehrlich und gekünstelt, weil sie aufgrund der langen Geschichte von Koalitionen in diesem Land erst einmal beweisen müßten, daß ihre Parteien das jetzt radikal anders machen. Die Herren Kickl und Co von der FPÖ waren schließlich alle Teil der türkis-blauen Koalition, in der es ebenfalls einen “Side Letter” gab, und die SPÖ hat ja gemeinsam mit der ÖVP “große Koalitionsgeschichte” geschrieben, wo es auch nur so gewimmelt hat von nicht-öffentlichen Absprachen.

Daß die größere Transparenz und “andere Art der Politik” in der ÖVP unter Kurz nur Augenauswischerei war und vielmehr einher ging mit einer Abkehr von den traditionellen christlich-sozialen Wurzeln/Werten dieser Partei habe ich ja auch geschrieben.

Männlein und Weiblein sind nun mal nicht austauschbar …

Wolf Paul, 2021-07-12

… so sehr das auch diversen derzeit modernen Ideologien zuwider läuft.

In der “profil Morgenpost” von heute berichtet Isabel Russ, daß Bundeskanzler Sebastian Kurz demnächst Vater wird:

Sebastian Kurz wird Vater. Es passiert selten, dass eine Nachricht aus dem Bundeskanzleramt durchwegs mit positiven Reaktionen aufgenommen wird. Auch wir gratulieren zu diesem neuen Lebensabschnitt.

Hat sich eigentlich schon jemand gefragt, was das für die Karriere des Kanzlers bedeutet? Als Annalena Baerbock, Spitzenkandidatin der Grünen bei der Bundestagswahl in Deutschland, noch als potentielle Kanzlerkandidatin galt, stellten viele Medien die Frage, ob eine Mutter denn Kanzlerin werden kann. Bei Männern spielt Nachwuchs oft gar keine Rolle. Wussten Sie zum Beispiel, dass Finanzminister Gernot Blümel letztes Jahr Vater wurde? Frauen und Männer werden leider heute noch mit zweierlei Maß gemessen.

Und so holt die biologische Realität die ideologischen Fantasien wieder mal ein. Es liegt nun mal in der Biologie begründet, daß ein Baby im Leben der Mutter einschneidendere Veränderungen mit sich bringt, als im Leben des Vaters.

Ob diese Veränderungen die Ausübung einer hohen politischen Funktion beeinträchtigen oder gar unmöglich machen, ist natürlich eine andere Frage, bei deren Beantwortung sowohl gesellschaftliche Erwartungen an Eltern und an Politiker beiderlei Geschlechts, als auch die gegenseitigen Erwartungen und die Beziehung der Eltern eine Rolle spielen.

Aber die leicht verblüffte Feststellung, daß das Kinderkriegen bei Männlein und Weiblein in politischer Funktion unterschiedlich beurteilt, “mit zweierlei Maß gemessen”, wird, verblüfft mich etwas und zeigt mir, wie weit sich die feministische Mär von der völligen Austauschbarkeit der Geschlechter, die inzwischen auch noch die noch phantasievollere Idee hervorgebracht hat, daß man sein Geschlecht nach Belieben wechseln kann, in unserer Kultur durchgesetzt hat.

Letztlich hat aber noch immer die Biologie die Oberhand – und damit der Schöpfer, der die Dinge und auch die Menschen eben so geschaffen hat, als Mann und Frau, im Ebenbild Gottes.

Wem gebührt Respekt? Und wofür?

Wolf Paul, 2021-06-06

In der vergangenen Woche sind auf nicht ganz legale und faire Weise private1 Textnachrichten zwischen dem suspendierten Sektionschef im Justizministerium, Christian Pilnacek, und dem Richter am Verfassungsgerichtshof, Wolfgang Brandstetter, an die Presse weitergegeben und in der Folge veröffentlicht worden. Diese Textnachrichten enthalten respektlose Äußerungen von Pilnacek, sowohl über einzelne Verfassungsrichter, als auch über die Institution als solche. Brandstetter selbst hat zwar keine solchen Äußerungen getätigt, sich aber  in seinen Antworten auf Pilnaceks Äußerungen auch nicht klar von ihnen distanziert; aufgrund des Drucks der Oppositionsparteien hat er inzwischen seinen Rückzug aus den VfGH mit Ende Juni angekündigt.

Pilnacek hat seine Äußerungen gestern als „unverzeihbar, nicht zu rechtfertigen und völlig unangemessen“ bezeichnet und sich dafür entschuldigt.

Diese Vorfälle haben mich zum Nachdenken über “Respekt” angeregt.

Ich bin davon überzeugt, daß jedem Menschen Respekt gebührt, weil er oder sie als Geschöpf im Ebenbild Gottes erschaffen wurde. Von vielen wurde beklagt, daß Pilnaceks Äußerungen Respekt von den Institutionen des Rechtsstaats  vermissen ließen, und vielleicht gebührt diesen Institution, sowie auch den Amtsträgern des Rechtsstaats als solchen, der Respekt der Staatsbürger und wahrscheinlich noch mehr der Beamten, die diesem Staat dienen.

Ich glaube jedoch nicht, daß jede Entscheidung oder Handlung, egal ob von einem einzelnen Menschen, von einem staatlichen Amtsträger oder von einer Institution wie dem Verfassungsgerichtshof, von mir als Staatsbürger respektiert werden muß. Klar muß ich mich im Normalfall daran halten bzw. die Folgen akzeptieren, wenn ich das nicht tue, aber respektieren?

Wenn der Verfassungsgerichtshof moralisch verwerfliche Entscheidungen trifft, wie jüngst im Fall Sterbehilfe, dann respektiere ich das nicht, dann respektiere ich weder den VfGH noch die einzelnen Richter, die so entschieden haben, für diese Entscheidung.

Wenn der Bundeskanzler die moralisch verwerfliche Entscheidung trifft, keine minderjährigen Flüchtlinge von den griechischen Inseln nach Österreich zu lassen, dann respektiere ich Sebastian Kurz als Mensch, der im Ebenbild Gottes geschaffen ist; ich respektiere das Amt des Bundeskanzlers an sich, aber für seine unbarmherzige Haltung gegenüber den Flüchtlingen und die daraus resultierenden Entscheidungen kann ich weder Sebastian Kurz als Person noch den Bundeskanzler der Republik Österreich respektieren. Bestenfalls nehme ich sie zur Kenntnis.

Wenn der amerikanische Präsident für das Recht eintritt, ungeborene Kinder umzubringen, dann respektiere ich Joe Biden als Mensch im Ebenbild Gottes, und ich respektiere grundsätzlich das Amt, das er ausübt, aber seine Unterstützung von Kindstötung und die Entscheidungen, die daraus resultieren, muß ich zwar zur Kenntnis nehmen, aber respektieren muß ich sie sicher nicht. Genausowenig muß ich ihn dafür respektieren, daß er sich zwar als Katholik bezeichnet, aber unmoralische Positionen einnimmt, die dieser Selbstbezeichnung widersprechen.

Das gilt übrigens nicht nur für Politiker und andere Prominente, sondern für uns alle: Wir alle können Respekt erwarten und verlangen als Geschöpfe im Ebenbild Gottes; Respekt für unsere Meinungen und Handlungen sind ein anderes Kapitel, und selbst in unserem liberalen Rechtsstaat steht uns dafür bestenfalls Toleranz zu, aber nicht Respekt – den müssen wir uns erst verdienen, und durch falsche Entscheidungen und verwerfliche Handlungen können wir ihn auch wieder verlieren.

_____________________

  1. Das Handy wurde in einem Strafverfahren beschlagnahmt, und die Textnachrichten im Zuge des Ibiza-Ausschusses ans Parlament übergeben; diese Textnachrichten sind weder für das Strafverfahren noch für den Ibiza-Komplex relevant und waren als “vertraulich” eingestuft; die Weitergabe durch NEOS-Abgeordnete war daher höchst irregulär. Es handelte sich dabei um eine private Unterhaltung, bei der man eben nicht immer jedes Wort auf die Goldwaage legt; die Veröffentlichung derselben und die daraus resultierende öffentliche Be- und Verurteilung von Pilnacek und Brandstetter ist daher eine Verletzung ihrere Privatspäre, für die den verantwortlichen NEOS-Abgeordneten kein Respekt gebührt, was immer für Rechtfertigungen sie jetzt anführen.