Die plötzliche moralische Entrüstung über russische Oligarchen

Wolf Paul, 2022-04-07

In den letzten Wochen gibt es immer wieder Berichte über das schwierige Leben, das russische Oligarchen aufgrund der Sanktionen haben, welche EU und USA und etliche andere Staaten nach dem illegalen und nicht zu rechtfertigenden Angriff Putins auf die Ukraine verhängt haben. Die meisten dieser Berichte sind von einem Grad an moralischer Entrüstung und Schadenfreude über das Jammern dieser Oligarchen, die sich plötzlich in ihrem Lebensstil einschränken müssen, gekennzeichnet.

Ein Beispiel dafür ist dieser Bericht in der Londoner Daily Mail, den die deutsche Kreiszeitung aufgegriffen hat. Darin wird ein “persönlicher Assistent russischer Oligarchen” zitiert, der seiner moralischen Entrüstung über das Jammern seiner Klienten und deren mangelndes Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine Ausdruck verleiht.

Seine moralische Entrüstung in Ehren, aber wie soll man das einordnen, wenn er einfach auflegt, wenn seine Klienten ihn jammernd anrufen und diverse Wünsche äußern? Wieviel von seiner Arbeitsverweigerung hat letztlich damit zu tun, daß seine Klienten aufgrund ihrer sanktionsbedingt eingefrorenen Konten sein Honorar nicht mehr zahlen können?

Denn es war ja denkenden Menschen immer schon klar, daß der einzige Weg, wie Russen nach dem Kollaps der Sowjetunion zu plötzlichen Reichtum kommen konnten, so lief, daß sie sich im Zuge der Privatisierung der ehemals verstaatlichten Sowjetwirtschaft mit Duldung bzw tatkräftiger Unterstützung durch die Herren Gorbachev, Yeltsin, Putin, usw., auf korrupte Weise deren Filetstücke unter den Nagel gerissen haben – sie haben sich also russisches Volksvermögen angeeignetund sind, genau betrachtet, nichts anderes als Diebe im großen Stil.

Das hat diesen “persönlichen Assistenten” offenbar nicht gestört, genausowenig wie die Vielen im Westen, darunter individuelle Politiker, politische Parteien, und sogar Regierungen, die lange Zeit ohne Skrupel lukrative Geschäfte mit diesen Verbrechern machten, getreu dem alten Motto, “Pecunia non olet.”

Chad Bird: Die wagemutige Geduld des Weinbergbesitzers

Wolf Paul, 2022-04-03

Ein Gastbeitrag von Chad Bird[1]. Dieser Artikel ist am 2. April 2022 unter dem Titel The Parable of the Audaciously Patient Vineyard Owner auf Facebook erschienen und wurde von Wolf Paul ins Deutsche übersetzt. Copyright © 2022 by Chad Bird.

Kennst Du das Gleichnis von den bösen Weinbergpächtern? Den Pächtern, welche die Knechte, die der Besitzer des Weinbergs zu ihnen sandte, um die Pacht einzuheben, verprügelten, verspotteten und verwundeten? Die dann, als er seinen Sohn zu ihnen sandte, Pläne schmiedeten, ihn umzubringen, und diese Bluttat dann auch vollbrachten? (Lukas 20, 9-16)

Weißt Du, was an dieser Geschichte gar nicht erstaunlich ist? Die Bosheit der Pächter. Die ist überhaupt nicht erstaunlich. Die ist einfach eine weitere Schlagzeile nach dem Motto, “Blut verkauft Zeitungen!

Wenn Du von Habsucht, Geldgier, Raubgier, und Mord schockiert bist, dann bist Du ein Neuling was die habgierige, sündenkranke Natur der Menschheit angeht (und Du solltest wirklich mehr Geschichte studieren!).

Weißt Du, was erstaunlich ist? Daß es überhaupt jemand durch das Leben schafft, ohne jemanden umzubringen. Schockierend ist die Tatsache, daß wir, angesichts all der Härte und Bitterkeit des Lebens, nicht alle rund um die Uhr besoffen oder berauscht sind, in unserem Verlangen, dem Schmerz zu entfliehen. Erstaunlich ist, daß es tatsächlich Ehen gibt, die fünfzig Jahre oder länger halten, ohne Ehebruch und Untreue.

Und was ist noch viel erstaunlicher, ja schockierender? Daß der Weinbergbbesitzer in diesem Gleichnis, das Jesus erzählt, seine Knechte wieder und immer wieder zu Pächtern schickt, die sie ablehnen und zusammenschlagen. Und daß er, angesichts ihres “Strafregisters”, es wagt, seinen Sohn zu diesen unverschämten Verbrechern zu senden.

Was hat er sich dabei nur gedacht?
Warum hat er sie nicht einfach alle festnehmen und hinrichten lassen?
Warum hat er ihnen immer wieder noch eine Chance gegeben?
Warum hat er nicht gleich kurzen Prozess gemacht mit ihnen?

Das Erstaunlichste ist nicht die Pervertiertheit und Bosheit der Pächter, sondern die Geduld des Weinbergbesitzers. Seine Langmut. Sein barmherziger Wunsch, daß sie Buße tun mögen.

Das Erstaunliche ist nicht ihre Bosheit, sondern seine Güte.

Es kann schon sein, daß dieses Gleichnis das schwarze Herz der Sünder illustriert, aber im Grunde ist es eine Offenbarung des guten und gnädigen Herzens Gottes — dieses Gottes der zweiten, und dritten Chancen, und ja, auch der vierten und noch viel mehr.

Er wird uns hier als Geschäftsmann gezeigt, aber er handelt nicht wie ein weltlicher Geschäftsmann. Er ist nicht ein Handelsherr, sondern ein barmherzige Vater.

Veilleicht sollten wir daher nicht mehr vom Gleichnis von den ungerechten Pächtern reden, sondern vom Gleichnis von der wagemutigen Geduld des Weinbergbesitzesr, dieses göttlichen Besitzers, der sich, in seinen eigenen Worten, so beschreibt:

„HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. (2. Mose/Exodus 34, 6-7 LUT2017)

(Das Bild zu diesem Beitrag ist “Le fils de la vigne” (Der Sohn des Weinbergs) von James Tissot.

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  1. Chad Bird ist lutherischer Autor und Redner in Texas und Mitarbeiter bei 1517, einer Plattform theologischer und apologetischer Ressourcen.[]

Pastor, was hast Du Dir eigentlich dabei gedacht?

Wolf Paul, 2022-03-18

Dieser Beitrag wurde angeregt durch drei Dinge, auf die mir bei meiner Lektüre in den letzten zwei Tage untergekommen sind.

Den Titel des Beitrags habe ich von einem Artikel von Joe McKeever in Christianity Todays ChurchLeaders Website ausgeborgt, den ich gestern gelesen habe. Er zählt eine Reihe von Fehltritten ungenannter Pastoren auf, die durchaus den realen Situationen entsprechen, von denen man in den letzten Monaten und Jahren in den Medien lesen konnte, und fragt jedesmal, “Pastor, was hast Du Dir dabei eigentlich gedacht?”

Dann, als ich heute Nacht wachlag und und durch Facebook blätterte stieß ich auf Beiträge mit Kommentaren von Freunden in Australien über Medienberichte, die einen größeren Skandal in der Hillsong-Gemeinde[1] andeuteten und dann auch im Detail über zwei “unpassende Vorfälle” mit Hillsong-Gründungspastor Brian Houston berichteten:

  • Vor zehn Jahren hat eine Hillsong-Mitarbeiterin gekündigt, nachdem Houston ihr eine Reihe von SMS-Nachrichten sexueller Natur geschickt hatte. Houston räumte diese Verfehlung ein, und als die Mitarbeiterin danach Schwierigkeiten hatte, eine neue Stelle zu finden, zahlte ihr Houston privat zwei Monatsgehälter.
  • Vor zwei Jahren saßen eine Reihe von Teilnehmern an der Hillsong-Jahreskonferenz 2019 nach der Abendveranstaltung in der Hotelbar zusammen und tranken etwas zu viel Alkohol. Spätabends wollte Houston, der außerdem auch Tabletten für Panikattacken nahm, auf sein Zimmer gehen und fand seinen Zimmerschlüssel nicht. Er klopfte an eine nahegelegene Tür; diese führte in das Zimmer einer anderen Konferenzteilnehmerin, die ebenfalls zu viel getrunken hatte. Die Frau hat nie Vorwürfe gegen Houston erhoben, und Houston sagt, daß nichts Sexuelles vorgefallen ist, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß Houston 40 Minuten mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet war, nachts in einem Hotelzimmer allein war. Nach einer Untersuchung durch den globalen Hillsong-Vorstand sowie dann auch durch die Gemeinde-Ältesten wurde Houston angewiesen, drei Monate lang keine öffentlichen Dienste zu übernehmen; er hat sich nicht daran gehalten und hat scheinbar auch weiterhin Alkohol getrunken.

Mein australischer Freund schrieb in seinem Beitrag von einem “schlimmeren Skandal, als man sich vorstellen kann”, und die darauf folgende Diskussion, die sich vor allem um den zweiten Vorfall drehte, handelte z.B. davon, ob dieser Skandal wirklich “schlimmer, als man sich vorstellen kann” ist, ob die Berichte überhaupt stimmen, ob Christen solche Berichte weitergeben sollen, der Mangel an Rechenschaft in Mega-Gemeinden, usw. Was praktisch überhaupt nicht zu spüren war oder zur Sprache kam, war Entrüstung oder Befremden über die Tatsache, daß hier die Teilnehmer an einer christlichen Konferenz, nachdem sie tagsüber Themen des christlichen Lebens und geistlichen Wachstums besprochen hatten, am Abend zusammensaßen und sich betranken.

Und schließlich stieß ich heute morgen auf diesen Artikel im Daily Mirror über eine Frau in Greater Manchester (England), die, nachdem sie bei einer Geburstagsfeier zu viel getrunken hatte, und unter anderem die Moglichkeit diskutiert hatte, daß im Falle eines Kriegseintritts Großbritanniens in der Ukraine, ihr Freund, der Soldat ist, dorthin entsandt werden könnte,  auf die glorreiche Idee kam, sich ein Uber-Taxi für eine Fahrt in die Ukraine zu bestellen. Zu ihrem Glück verweigerte ihre Bank die Zahlung, sodaß ihr eine völlig unnötige Ausgabe von £4500 (derzeit rund € 5300) erspart blieb.

All das ließ mich über das Problem des Betrunkenseins nachdenken.

Hier muß ich zwei Eingeständnisse machen:

  • Ich genieße es durchaus, zu einer Mahlzeit oder danach, oder auch einfach beim Gespräch mit Freunden ein Glas Wein zu trinken, oder abends ein Glas Gurktaler Kräuterlikör oder Southern Comfort zum besseren Einschlafen[2].
  • Ich habe mich noch nie betrunken – nicht aus irgendeiner besondern Tugendhaftigkeit heraus, auch nicht aufgrund religiöser Überzeugungen, sondern weil mich die Vorstellung zu Tode erschreckt, ich könnte die Kontrolle über meine Worte oder Taten verlieren und irgendetwas absolut unverzeihliches tun oder sagen.

Ich blicke also einerseits diese Frau in England, oder Brian Houston, oder auch Andere in meiner näheren Umgebung, die hin und wieder zu viel trinken, nicht mit einem überheblichen Gefühl an, ich wäre irgendwie besser als sie, sondern eigentlich mit Mitleid und Unverständnis, das die gleiche Frage stellt wie Joe McKeever, “Was, um alles in der Welt, hast Du Dir dabei gedacht?”

Andererseits frage ich mich auch, was der Mangel an Entrüstung und Befremden angesicht von Trunkenheit bei einer christlichen Konferenz über den Zustand unserer christlichen Subkultur aussagt.

Seit etwa zehn Jahren, und bis die Covid-19 Pandemie und meine eigenen Gesundheitsprobleme dem ein Ende setzten, besuchte ich jedes Jahr zwei christliche Konferenzen. Ein fixer Programmpunkt jeden Abend nach der Abendveranstaltung war das “Z’sammsitzen”[3] mit einem Glas Wein oder einem Bier; ich habe nie erlebt, daß sich dabei jemand betrunken hätte, und glaube auch nicht, daß die Veranstalter es toleriert hätten, wenn es dazu gekommen wäre. Daher bin ich wirklich erstaunt über die Situation, die zu Brian Houstons betrunkenem Abenteur geführt hat: sowohl darüber, daß diese Konferenzteilnehmer so viel getrunken haben, als auch darüber, daß dieser Umstand den Leuten aus verschiedenen christlichen Traditionen, die darüber auf Facebook diskutierten, scheinbar nicht der Rede wert war. Die Frage, die ich sowohl den Veranstaltern der Hillsong-Konferenz, den Teilnehmern der “lustigen” Trinkerrunde, als auch den Diskutanten auf Facebook stellen möchte, ist wiederum: “Was, um alles in der Welt, habt Ihr Euch dabei gedacht?”

Denn eines scheint mir ziemlich klar zu sein: in all diesen Situationen haben die handelnden Personen nicht gedacht, zumindest nicht mit dem Verstand, mit dem Gott sie für diesen Zweck ausgestattet hat.

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  1. Die Hillsong Church ist eine Pfingsgemeinde in Sydney, Australien, mit Tochtergemeinden an rund vierzig Orten in rund fünfzehn Ländern; auch einem weiteren christlichen Publikum bekannt durch ihre Anbetungslieder[]
  2. Anders als die meisten Österreicher bin ich kein Biertrinker, bin nie auf den Geschmack gekommen[]
  3. Zusammensitzen[]

Weihe an das “Unbefleckte Herz Mariens”?

Wolf Paul, 2022-03-16

Die katholische Nachrichtenagentur CNA Deutsch berichtet, daß Papst Franziskus am 25. März die Ukraine und Rußland dem Unbefleckten Herzen Mariens weihen wird, und erläutert in einem weiteren Beitrag, was das genau bedeutet.

Nachdem in den letzten Jahrzehnten viele protestantische Kirchen zunehmend wesentliche Teile des biblisch bezeugten christlichen Glaubens aufgegeben bzw relativiert haben, hat es zwischen der Katholischen Kirche und weiten Teilen der evangelikalen Bewegung eine ebenfalls zunehmende Annäherung gegeben, aus der Erkenntnis heraus, daß diese beiden Traditionen, trotz aller Unterschiede, wenigstens die alten Glaubensbekenntnisse noch mit gutem Gewissen gemeinsam rezitieren können[1]. Gleichzeitig entstanden in der Katholischen Kirche eine Reihe von Erneuerungsbewegungen, deren Frömmigkeit der evangelikalen Frömmigkeit nahe steht. Auch das hat eine Annäherung und Versöhnung gefördert.

Als Evangelikaler mit römisch-katholischen Wurzeln, der Familie und viele Freunde in der Katholischen Kirche hat, stimmt mich diese geplante Aktion traurig, weil sie die immer noch bestehenden, schwerwiegenden Unterschiede zwischen unseren Traditionen und Glaubensauffassungen unterstreicht.

Angesichts dessen, was der Schreiber des Hebräerbriefes über die Wolke von Zeugen sagt,  die uns umgibt[2], habe ich als Evangelikaler relativ wenig Probleme mit der Vorstellung, die Heiligen, d.h. gläubige Menschen, die uns im irdischen Tod vorausgegangen sind, und die uns die Kirche aufgrund ihres vorbildlichen Lebens als Beispiele hinstellt, um ihre Fürbitte zu bitten. Ich  sehe die Bitte um Fürbitte an die verstorbenen Heiligen nicht viel anders, als die auch unter Evangelikalen übliche Bitte um Fürbitte an noch unter uns lebende Brüder und Schwestern.

Aber ich kann in der Heiligen Schrift keinerlei Rechtfertigung für eine Heiligen-Frömmigkeit finden, die den Heiligen, und damit auch der Mutter Jesu, Wunder zuschreibt; die Gebete an Heilige für wirksamer und mächtiger erachtet, als Gebete zu Gott selbst, und schon gar keine Rechtfertigung dafür, Menschen oder Länder irgendjemandem Anderen als Gott selbst zu weihen. Das ist meines Erachtens sehr, sehr nahe daran, die Grenze zwischen Verehrung, die man vorbildlichen Menschen entgegenbringen kann, und Anbetung, die nur Gott zusteht, zu überschreiten, wenn es sie nicht gar überschreitet, und das wäre Götzendienst. Die Frage, ob das Herz Mariens tatsächlich unbefleckt ist, obwohl die Heilige Schrift eher anderes sagt[3], kommt da noch dazu.

Ich finde diese Aktion umso bedauerlicher, als wir uns in der Pandemie zusammengefunden haben, über die konfessionellen Grenzen hinweg, um sowohl in Deutschland (Deutschland betet) als auch in Österreich (Österreich betet gemeinsam) für unsere Länder zu beten, und gerade eine Woche abschließen, wo wir europaweit und konfessionsüberschreitend für die Ukraine und Rußland gebetet haben (Europe prays together). Mit dieser Aktion wird die Gemeinsamkeit gebrochen: die Einen befehlen diese beiden Länder Gott an, und die Anderen befehlen sie der Mutter Jesu an, als wäre diese gewissermaßen auf gleicher Ebene mit dem dreieinigen Gott.

Und es legt noch einen Verdacht nahe: in der Katholischen Kirche steht die angebliche Offenbarung der Maria in Fatima über der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift.

Schade.

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  1. auch wenn das in der Mehrzahl evangelikaler Gemeinden kein fixer Bestandteil des sonntäglichen Gottesdienstes ist[]
  2. Heb. 12,1[]
  3. Markus 10, 18; Röm. 3, 10-12[]

Was bedeutet eigentlich “evangelikal”?

Wolf Paul, 2022-03-11

Im Gefolge der kürzlich ausgestrahlten, sehr tendenziösen ORF-Programme über die Evangelikalen (Ö1 Radiokolleg im November 2021 und Ö1 Logos-Folge  im Februar 2022) ist es mir zunehmend ein Anliegen, den Begriff evangelikal zu definieren, und zwar so, wie er sich mir im deutschen Sprachraum und insbesondere in Österreich darstellt.

Auf der Website Freikirchenatlas.AT, die ich betreibe, und die im Kern ein möglichst vollständiges Verzeichnis evangelikaler Freikirchen in Österreich sein soll, gibt es unter Information→Begriffserklärungen die folgende Definition des Begriffs:

Evangelikale Christen sind gekennzeichnet durch eine starke Bindung an die Bibel als die verlässliche und maßgebliche Selbstoffenbarung Gottes sowie durch die Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Entscheidung, Jesus Christus zu folgen (Bekehrung, Lebensübergabe). Näheres zu diesem Thema gibt es durch Klick auf Gott Kennen.

Neben den fünf Sola-Aussagen der Reformation: sola scriptura (nur die Hl. Schrift ist maßgeblich), sola fide, sola gratia und solus Christus (Erlösung erlangen wir allein aus der Gnade Gottes und durch den Glauben an Jesus Christus; kein weiterer Mittler zwischen Gott und den Menschen ist notwendig oder möglich), sowie soli Deo gloria (Gott allein gebührt alle Ehre), an denen Evangelikale festhalten, kann die Bewegung auch durch vier Punkte charakterisiert werden, die der britische Theologe David Bebbington formuliert hat, und die als “Bebbington Quadrilateral” (Bebbingtons Quadrat) bekannt sind:.

  • Biblizismus: eine starke Bindung an die Bibel als Maßstab des Glaubens
  • Crucizentrismus: das Kreuz, d.h. Christi Opfertod, ist zentral
  • Konversionismus: die Bekehrung zu Christus ist unumgänglich notwendig
  • Aktivismus: Christen sind aktiv in der Verbreitung des Evangeliums

Evangelikale Christen gibt es sowohl in den evangelischen (lutherischen und reformierten) Volkskirchen, wo sie heute zumeist eine Minderheit darstellen, als auch in den Freikirchen, die mehrheitlich evangelikal geprägt sind. Auch in anderen Kirchen gibt es Gläubige, die man weitgehend als evangelikal einstufen kann (z.B. etliche der Erneuerungsbewegungen oder Movimenti in der röm.-kath. Kirche). Der Begriff „evangelikal” ist eine Eindeutschung des englischen „evangelical”, da vor allem den Freikirchen die Verwendung des Begriffes „evangelisch” lange Zeit rechtlich unmöglich gemacht wurde. Evangelikale Christen aus Volkskirchen und Freikirchen arbeiten in der Evangelischen Allianz zusammen – nicht nur in Österreich, sondern auch auf europäischer Ebene und weltweit.

Diese Definition ist relativ kurz, und z.B. in der Aussage über die Differenzierung zwischen evangelisch und evangelikal als juristische Notwendigkeit wegen des Namensanspruchs der Evangelischen Kirche auf die Bezeichnung evangelisch auf die Situation in Österreich zugeschnitten.

Auf der Website Daniel Option der Schweizer Brüder Paul und Peter Bruderer habe ich eine Reihe von Aufsätzen von Roland Hardmeier mit dem Serien-Titel Holy Bible gefunden, in denen der Begriff evangelikal sowohl in seiner geschichtlichen Entstehung und Entwicklung als auch in seiner heutigen Bedeutung, weltweit und im deutschen Sprachraum, anhand des Bibelverständnisses erklärt und die Unterschiede zu anderen kirchlichen Traditionen aufzeigt werden. Ich fand diese Aufsätze sehr hilfreich und verlinke daher hier sowohl auf die Online-Versionen als auch auf die runterladbaren PDF-Dateien:

  1. Ein Grundsatzkonflikt (PDF)
  2. Geschichte der Evangelikalen Bewegung (PDF)
  3. Entstehung der modernen Bibelwissenschaft (PDF)
  4. Schriftverständnis der Evangelikalen (PDF)
  5. Auslegungsmethoden der modernen Bibelwissenschaft (PDF)
  6. Gibt es eine Lösung des Konflikts? (PDF)

Es gibt zwei Dinge, die ich, vor allem im zweiten Aufsatz anmerken würde:

  1. Hardmeier sagt, daß die moderne Bibelwissenschaft in Deutschland methodisch sehr radikal durchgeführt wurde, während sie im angelsächsischen Raum bis heute gemäßigter verläuft. Den Eindruck habe ich gerade in den letzten Jahren nicht mehr; die weltweite Anglican Communion zeigt immer mehr Zerfallserscheinungen, die durch den Konflikt zwischen konservativen und “progressiven” Kräften bestimmt werden, und die weltweite United Methodist Church  (zu der auch die deutschen und österreichischen Methodisten gehören) steht seit zwei Jahren vor einer offiziellen Spaltung in eine “progressive” und einen konservative  Kirche, die lediglich durch die Corona-Pandemie verzögert wurde, weil aufgrund der Reise- und Versammlungseinschränkungen die internationalen Delegiertenversammlungen nicht stattfinden und darüber abstimmen konnten.
  2. Ich hätte mir auch gewünscht, daß Hardmeier die Politisierung des Begriffs evangelical in den USA erwähnt und behandelt. Dieses Phänomen ist zwar bei uns in Europa noch nicht so stark ausgeprägt, wird aber durchaus von den hiesigen Medien wahrgenommen und von diesen auf die evangelikalen Bewegungen bei uns projiziert, wie man in den oben erwähnten ORF-Sendungen sehr gut beobachten konnte.

Eine weitere, sehr gute, wenn auch weniger detaillierte und ausführliche Beschreibung dessen, was evangelikal bedeutet, findet sich in der Rede von Dr. Thomas Schirrmacher anläßlich seiner Amtseinführung als Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz im Februar 2021, deren offizielle deutsche Übersetzung ich hier ebenfalls verlinke:

 

(Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv, Bild 194-0798-29 / Lachmann, Hans / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link)

Ukraine: NATO und Rußland, beide schuld?

Wolf Paul, 2022-03-07

Es ist für mich unverständlich und in keiner Weise nachvollziehbar, daß es nach wie vor Menschen bei uns im Westen (Westeuropa, USA, Australien/NZ) gibt, welche die Schuld für den aktuellen Ukraine-Krieg bei den USA und der NATO sehen, bzw. USA/NATO und Rußland gleichermaßen dafür verantwortlich machen.

Auch wenn man den USA und deren Außenpolitik in den letzten 75 Jahren kritisch gegenübersteht, und die NATO bzw. Militärbündnisse allgemein ablehnt, muß man schon sehr mit Blindheit geschlagen sein, um gewisse Unterschiede nicht zu sehen.

Ich habe in den letzten Tagen Kommentare auf FB und Artikel in einschlägigen Medien gelesen, welche die NATO-Mitgliedschaft westeuropäischer Staaten unter amerikanischer Führung einerseits, und den von Russland dominierten Ostblock andererseits, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg politisch und moralisch gleichsetzen.

Aber man muß sich nur die sehr unterschiedliche Entwicklung der Länder auf den zwei Seiten des “Eisernen Vorhangs” ansehen, politisch, wirtschaftlich, kulturell, um jede Äquivalenz ins Reich von Fantasie und Lügenmärchen zu verbannen:

  • Auf der einen Seite blühende Demokratien, Wohlstand, Reisefreiheit, ein lebendiges und vielfältiges kulturelles Leben mit Religions-, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit;
  • auf der anderen Seite Ein-Parteien-Herrschaft, stagnierende Wirtschaftssysteme, Kultur und Presse unter strenger staatlicher Reglementierung, Menschen, die für abweichende Meinungen und sogar für religiöse Betätigung durch vielfältige Maßnahmen bis hin zu Gefängnis bestraft wurden.

Erst ab 1989 und nach dem Ende der Sowjetunion konnten sich die osteuropäischen Staaten größtenteils von der russischen Vorherrschaft befreien.

Ja, die USA haben des öfteren möglicherweise ungerechtfertigt “Weltpolizist” gespielt; diese Rolle hat sich gewissermaßen aus der Situation nach dem 2. Weltkrieg entwickelt, wo sie ja gemeinsam mit der Sowjetunion für das Ende der Nazi-Schreckensherrschaft gesorgt hatten; in der Folge waren sie in Korea und Vietnam spektakulär erfolglos. Seither beschränken sich amerikanische Militäraktionen größtenteils auf Situationen, wo es tatsächlich um Strafaktionen als Antwort auf konkrete Angriffe auf die USA geht oder um die Unterstützung angegriffener Partner oder Verbündeter. In allen Fällen haben sich die USA nach Beendigung der militärischen Operationen wieder zurückgezogen, statt sich das entsprechende Territorium einzuverleiben.

Offiziell behauptet Putin, daß sich Rußland dadurch bedroht fühlt, daß sich die osteuropäischen Staaten der NATO (und auch der EU) angeschlossen haben, bzw. im Fall der Ukraine, dies anstreben; wer wirklich davon ausgeht, daß die NATO einen Angriffskrieg mit Russland beginnen könnte, beweist damit nur, daß er weder das amerikanische noch die europäischen Völker versteht.

Und Vladimir Putin glaubt das auch nicht wirklich.

In mindestens zwei Reden in den letzten Wochen hat er sehr klar gemacht, daß es vielmehr darum geht, daß er die Ukraine als integralen Teil Rußlands sieht, der von Lenin dummerweise als eigene Sowjetrepublik abgetrennt wurde, was es der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion erlaubt hat, in die Unabhängigkeit zu rutschen. Putin möchte diesen historischen Fehler beheben, und zwar möglichst bevor das durch eine eventuelle Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO unmöglich oder zumindest riskanter wird.

Er hat sich dabei allerdings mehrfach verrechnet, hier ist eine teilweise Liste seiner Fehlkalkulationen:

  1. Der Schauspieler und Komiker Voldodymyr Zelenskyy hat sich nicht als “Push-Over” erwiesen, der beim ersten Anzeichen von Gefahr mit der wohlgefüllten Portokasse ins Ausland flieht,sondern als standfester ukrainischer Patriot, der sein Volk zu mutigem Widerstand inspiriert.
  2. Die ukrainische Bevölkerung, einschließlich weiter Teile der russischsprachigen Minderheit, hat die russischen Truppen nicht als Befreier, sondern als Angreifer und Feinde empfangen, und leistet wesentlich mehr Widerstand als erwartet.
  3. Nachdem der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill Putins Krieg in der Ukraine unterstützt, haben ihm immer mehr Bischöfe und Priester der ukrainisch-orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) die Gefolgschaft aufgekündigt.
  4. Die Weltöffentlichkeit hat schärfer, und nach dem ersten Schock auch mit größerer Einmütigkeit reagiert, und hat Sanktionen verhängt, die Rußland hart treffen, teilweise auch mit hohem Kostenrisiko für die eigene Wirtschaft.
  5. Auch in Rußland selbst regt sich zunehmend Widerstand gegen diesen Krieg, den Putin eigentlich vor der russischen Bevölkerung verheimlichen wollte.

Die Tatsache, daß auch eine Woche nach Beginn der russischem Invasion der Ukraine keine NATO-Truppen in der Ukraine sind, und soweit man das abschätzen kann, die NATO auch nicht vorhat, militärisch einzugreifen, stellt den besten Beweis dafür dar, daß die NATO keine militärische Bedrohung Rußlands darstellt. Allerdings würde ein wirtschaftlich erfolgreiches und freies EU-Mitglied Ukraine an der Grenze zum immer noch autokratisch regierten Russland eine politische Bedrohung für Putins Regime darstellen. Deshalb ist davon auszugehen, daß Putins Ziel in der Ukraine die Errichtung eines Vasallenstaates ist, der als Buffer zwischen dem russischen Kernland und der EU dienen soll, so wie das weiter nördlich auch Belarus ist – und ebenso wie in Belarus würde das in der Ukraine die Abschaffung der Demokratie und ein repressives Regime von Rußlands Gnaden bedeuten.

Niemand weiß derzeit, wie das alles ausgehen wird, aber diejenigen, die diesen Krieg und Vladimir Putin verteidigen, sind mit moralischer und politischer Blindheit geschlagen.

„Die Russen“ sind nicht der Feind!

Wolf Paul, 2022-03-03

In den sozialen Medien gibt es neben vielen positiven Postings und Kommentaren der Unterstützung für die Ukraine, und den ärgerlichen Kommentaren von Putin-Verteidigern, leider auch Kommentare, die “die Russen” verurteilen und beschimpfen, und für die Katastrophe in der Ukraine verantwortlich machen.

Leute, denkt daran, daß Russland immer noch keine wirkliche funktionierende Demokratie ist; daß auch, wenn es **relativ** freie Wahlen gibt, die Information der Wähler im Vorfeld der Wahl sehr eingeschränkt ist und Kandidaten willkürliche von der Wahl ausgeschlossen oder unter verschiedenen Vorwänden in Straflagern landen.

Und im Gegensatz zu unseren westlichen Staaten unterliegt in Russland ein einmal gewählter Präsident fast keiner Kontrolle und kann praktisch tun und lassen, was er will.

Der Krieg in der Ukraine wird von Vladimir Putin und einem relativ kleinen Kreis von einflußreichen Leuten direkt verantwortet; ein weiterer Kreis, zu dem viele der bekannten Oligarchen gehören, unterstützt dieses System, weil sie es ausgenutzt haben, um ihre Millionen anzuhäufen.

Die normalen Bürger Russlands, einschließlich der meisten Soldaten im Feld in der Ukraine, haben keinerlei Einfluß auf diese Entscheidungen; wenn sie sich dagegen aussprechen, riskieren sie den Verlust ihrer Existenz und landen sogar im Gefängnis.

Deshalb sollten wir sehr vorsichtig sein mit Schuldzuweisungen an “die Russen.” Und die Ukrainer sind uns da ein Vorbild.

Dieses Foto ist aus einem Video-Clip, der auf Telegram und Twitter verbreitet wurde. Man sieht hier einen gefangengenommenen russischen Soldaten, der Tee trinkt und einen Snack ißt, während eine Frau mit dem Handy eine Video-Verbindung zu seiner Frau herstellt. Sobald die Verbindung steht, bricht der Soldat in Tränen aus; er ist zu bewegt, um zu sprechen, aber er bläst Küsschen zur Kamera, während ihm Leute auf den Rücken klopfen, um ihn zu beruhigen. In dem Video hört man einen Mann sagen, “Diese jungen Männer, das ist nicht ihre Schuld. Sie wissen nicht, warum sie hier sind.” Ein anderer Mann sagt, “Sie haben veraltete Landkarten, sie haben sich verirrt.”

Ukraine-Krieg: Unnütze Spekulationen

Wolf Paul,

Seit dem Beginn des von Putin angezettelten Krieges gegen die Ukraine bin ich auf sozialen Medien auf einige Kommentare von Christen gestoßen, bei denen ich mir nur an den Kopf greifen kann. Ich möchte zwei davon ansprechen.

Das Endzeit-Szenario

Das ist die Idee, daß der Krieg gegen die Ukraine Teil der Ereignisse ist, die im Neuen Testament für die Endzeit, kurz vor der Wiederkunft Christi, vorhergesagt werden. Deshalb ist es nicht nur sinnlos für ein Ende dieses Krieges zu beten, sondern stellt auch Ungehorsam gegenüber Gott dar. Er hat das vorherbestimmt und vorhergesagt, es passiert, und dagegen anbeten ist sinnlos.

Leute, das ist eine ganz zynische, unbiblische und unchristliche Vorstellung, Schwachsinn pur!

Die Heilige Schrift sagt uns, daß Gott keine Freude hat am Tod des Sünders, sie sagt uns auch, daß Jesus der Friedefürst ist und wir Friedensstifter sein sollen. Und schließlich sagt sie uns auch, daß wir zwar jederzeit für Jesu Wiederkunft bereit sein sollen, jedoch eitle Spekulationen über die Endzeit meiden sollen. Deshalb ist es nie falsch, für ein Ende von Krieg, Leid, Not, Armut, usw. zu beten sondern immer eine heilige Aufgabe für alle, die sich Jünger Jesu nennen.

Was Gott dann damit macht, wie Er unsere gebete erhört und beantwortet, ist eine andere Frage; aber beten dürfen und sollen wir — und auch aktiv und praktisch helfen, so wie es uns möglich ist.

Das Straf-Szenario

Einige Christen haben geäußert, daß Putins Invasion wohl Gottes Strafe ist für die liberale Abtreibungs-Gesetzgebung der Ukraine, für die vielen ungeborenen Kinder, die dort jeden Tag sterben – und wer sind wir denn, daß wir gegen Gottes Strafe anbeten wollen?

Ich halte das für selbstgerechten Unsinn, eine weder biblisch noch durch sonstige Fakten belegbare Privatmeinung, die uns nicht von der Pflicht entbindet, für Frieden zu beten und wo es geht, praktisch zu helfen.

Erstens finden in Russland wesentlich mehr Abtreibungen statt, als in der Ukraine, und zweitens “verdanken” beide Länder ihre Abtreibungsgesetze der Sowjetunion, wo man nicht davon reden kann, daß diese Gesetze demokratisch beschlossen worden wären.

Im Gegensatz dazu bewegen sich unsere westlichen Staaten sehr wohl auf demokratischem Weg in Richtung immer “liberalerer” Gesetzgebung, sowohl was Abtreibung als auch Sterbehilfe und Euthanasie angeht.

Wenn also jemand so eine drastische Strafe Gottes verdient hätte, dann ist das wohl nicht die Ukraine. Überhaupt ist es nicht nur ziemlich arrogant, irgendwelche katastrophalen Ereignisse als Gottesstrafe für jemand anderen zu bezeichnen, sondern es verletzt auch das biblische Gebot, nicht zu richten.

Und Putin als Verteidiger christlicher Werte ist überhaupt eine perverse Vorstellung.

Ist humanitäre Hilfe Neutralitätsverletzung? Natürlich nicht!

Wolf Paul, 2022-02-26

Die Niederösterreichischen Nachrichten haben auf Facebook einen Artikel mit dem Titel, Nehammer: Österreich steht Ukrainern zur Seite, verlinkt, mit der Beschreibung,

Die Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu. Kanzler Karl Nehammer verurteilt die russischen Angriffe – und sagt der ukrainischen Bevölkerung Unterstützung zu.

Unter diesem Post der NÖN gibt es haufenweise Kommentare, die Bundeskanzler Nehammer in teilweise beleidigender Wortwahl Neutralitätsverletzung vorwerfen, unter anderem mit der Forderung an  Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, dem Bundeskanzler Nachhilfeunterricht in Sachen Neutralität zu erteilen, da er in der Sonderschule offenbar nicht genug gelernt hat.

Das ist Nonsense; Nachhilfeunterricht, nicht nur in politischer Bildung sondern vor allem auch in Anstand und Umgangston, brauchen die Verfasser dieser Kommentare.

Die österreichische Neutralität, zu der wir uns im Vorfeld des Staatsvertrages verpflichet haben, und die im Neutralitätsgesetz festgeschrieben ist, ist eine ausschließlich militärische Neutralität – weder eine politische noch eine moralische. Dem österreichischen Staat und seiner Regierung steht es durchaus zu, in der aktuellen Situation eine Meinung zu haben und auch zu äußern.

Außerdem hat BK Nehammer ausdrücklich von medizinischer und humanitärer Hilfe für das ukrainische Volk gesprochen, was eindeutig NICHT der militärischen Neutralität widerspricht. Drum hats auch gar nichts mit der Verteidigungsministerin zu tun.

Im übrigen wurde die österreichische Neutralität im Zuge des EU-Beitritts Österreichs und der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages noch weiter eingeschränkt und besteht derzeit im wesentlichen in einer rein militärischen Bündnisfreiheit.

Krieg in der Ukraine: Selber schuld?

Wolf Paul, 2022-02-25

Nach dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine vor zwei Tagen haben viele verschiedene Organisationen und Einzelpersonen auf sozialen Medien Gebetsaufrufe und andere Stellungnahmen zu dieser russischen Aggression und Völkerrechtsverletzung gepostet, und darunter gibt es immer wieder Kommentare mit dem Grundtenor, die Ukraine wäre selbst an dieser Situation schuld, weil sie mit einem EU- bzw. Nato-Beitritt liebäugelt. Hier ist ein Beispiel, ein Kommentar unter einem Gebetsaufruf auf Facebook von Dr. Johannes Hartl vom Gebetshaus Augsburg:

Von den 42 Reaktionen, die dieser Kommentar bekommen hat, sind 33 “Likes”, der Rest teilt sich ziemlich gleich auf lachende, weinende, und zornige Emojis auf.

Die meisten Antworten auf diesen Kommentar stimmen ihm zum Glück nicht zu, mit Aussagen wie, 

“Ich denke nicht, dass die Selbstbestimmung der Ukrainer einer Zustimmung des Herrn Putin bedarf … “

Sowie dieser hier,

“Die Nato ist eine Nebelgranate der Russen. Putin geht es um ein geeintes, heiliges Russland. Die heilige russische Dreieinigkeit: Russland, Belarus und Ukraine.”

Die EU- und Natomitgliedschaft der Ukraine ist tatsächlich eine russische Nebelgranate, aber zum Glück hat Putin selbst dafür gesorgt, daß sich der Nebel sehr schnell verzogen hat und seine wahre Motivation offenbar wurde.

Wenn man die Rede von Putin vor der Duma vor ein paar Tagen gehört hat, sowie die spätere Rede, wo es um die Anerkennung der separatistischen “Volksrepubliken” im Osten der Ukraine ging, wird eines ganz klar:

In Vladimir Putins Augen ist die Ukraine russisches Territorium, das nach der Oktoberrevolution, bei der Gründung der Sowjetunion, von Lenin zu einer eigenen Sowjetrepublik gemacht wurde, was ein Fehler war. Leider wurde dieser Fehler von den folgenden Führern der Sowjetunion (Stalin, usw.) nicht korrigiert, sodaß die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erklären konnte. Aber für Putin ist die Ukraine kein Staat, und diejenigen, die derzeit dort das sagen haben, keine Regierung; vielmehr ist die Ukraine ein bloßes “Territorium”  mit einem “Regime”; als solches hat sie keine Souveränität, und Putin ist angetreten, Lenins Fehler zu korrigieren und dieses russische Territorium namens Ukraine “heim ins Reich” zu holen.

Ich wähle den Ausdruck “heim ins Reich” ganz bewußt, weil diese Argumentation genau der entspricht, mit der Adolf Hitler die Besetzung und den Anschluß Österreichs an Deutschland, sowie die Besatzung deutscher Siedlungsgebiete in Polen und der Tschechoslowakei gerechtfertigt hat.

Damit wird auch klar, warum Putin eine Annäherung und mögliche Mitgliedschaft bei EU und Nato nicht tolerieren will:

Nicht, weil dies tats¨ächlich eine militärische Bedrohung für Rußland darstellen würde, sondern weil eine solche Entwicklung die Unabhängigkeit der Ukraine so zementieren würde, daß er keine Chance mehr hätte, sie “heim ins Reich” zu holen. Deshalb, und nur deshalb, wütet jetzt ein Krieg im Osten Europas.