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Wolf’s Notes

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Moria Neuauflage?

2020-09-18 Wolf Paul

Ich habe vor zwei Tagen in einem Kommentar auf der Seite einer ÖVP-Abgeordneten gesagt, das primäre Problem mit dem Lager Moria auf der Insel Lesbos sind die menschenunwürdigen Zustände, die dort seit Monaten herrschen, und denen man von Seiten der EU und der Mitgliedsstaaten im Grunde genommen untätig zugeschaut hat

— bis aufgrund der Corona-bedingten Ausganssperren die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung mancher Lagerinsassen so explodiert ist, daß es zur Brandstiftung und danach auch noch zur Behinderung der Löscharbeiten gekommen ist.

Nun haben sich endlich manche europäische Regierungen bereiterklärt, bis zu insgesamt 400 unbegleitete Minderjährige aus Moria aufzunehmen; zu unserer Schande ist Österreich nicht darunter. Das wird auch nicht besser dadurch, daß Österreich in der Vergangenheit doppelt so viele Kinder aufgenommen hat als Deutschland, wie der ÖVP-Abgeordnete Lukas Mandl feststellt: Es gibt JETZT eine Notsituation, in der JETZT geholfen werden muß, egal was in der Vergangenheit war.

Wie geht es jetzt mit Moria in Lesbos weiter?

Leider haben wir scheinbar nichts gelernt. Berichten von Anwälten und Ärzte ohne Grenzen zufolge werden auch im neuen Lager menschenunwürdige Zustände herrschen, es werden wieder viel zu viele Menschen auf zu engem Raum ohne adequate sanitäre Anlagen zusammengepfercht, und es wird wieder Ausgangssperren geben, die zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung führen. Es wird den Anwälten und anderen NGO-Mitarbeitern auch kein Zugang zu dem Lager gestattet, wodurch sie ihre Klienten nicht effektiv beraten können. Experten von Ärzte ohne Grenzen sagen außerdem, daß viele der Flüchtlinge dringende medizinische Behandlungen benötigen, die weder in Moria noch auf dem griechischen Festland adequat sichergestellt werden können; diese Menschen müßten dringend in Länder (z.B. Österreich) evakuiert werden, wo die entsprechenden Kapazitäten existieren.

In meinem Kommentar vor zwei Tagen habe ich geschrieben, mangels ausreichendem Wissen halte ich mich raus aus der Debatte um eine generelle Aufnahme von Moria-Insassen (wie es viele, darunter auch die Grünen in der Regierung, verlangen) oder Hilfe vor Ort, um nicht das Geschäft der Schlepper zu befördern und Zustände wie 2015 zu vermeiden (worauf Kanzler Kurz und die türkisen in der Regierung bestehen).

Angesichts der Berichte, wie das erste neue Lager auf Lesbos die menschenunwürdigen Zustände des niedergebrannten Moria-Lagers fortzusetzen droht, trotz “55 Tonnen Hilfsgüter für den Aufbau des neuen Lagers”, die Innenminister Nehammer in Griechenland übergeben hat, muß ich meine diesbezügliche Haltung revidieren. Die “Hilfe vor Ort” ist offensichtlich nicht ausreichend, um eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge sicherzustellen. Und die 13000 Flüchtlinge auf Lesbos sind auch nicht annähernd die gleiche Größenordnung, die wir 2015 hatten: dieses Argument zählt also nicht.

Zu dem Argument, daß eine Aufnahme der Lesbos-Flüchtlinge nur die Schlepper ermutigen würde, habe ich einen guten Vergleich gesehen, kann mich leider nicht mehr erinnern von wem (und FB ist nicht leicht zu durchsuchen):

Die Weigerung, aus diesem Grund keine Flüchtlinge aufzunehmen, ist so logisch und stichhaltig wie der Vorschlag, die Opfer von diversen Unfällen nicht in Spitäler aufzunehmen und medizinisch zu versorgen, weil das lediglich weitere Menschen zu riskanten Verhaltensweisen wie Bergsteigen, Schifahren, Autofahren, usw. verleiten würde. Oder Raucher, die an Lungenkrebs oder anderen Raucherfolgen erkranken, nicht zu behandeln, weil das nur weitere Jugendliche ermutigen würde, mit dem Rauchen anzufangen.

Nun gibt es ja tatsächlich Menschen, die das gut finden würden — aber es paßt weder in eine christliche noch in eine humanistische Ethik.

Daß die ÖVP längst (schon vor Kurz) keine “christlich-soziale” Partei mehr ist, ist mir völlig klar; ich finde es aber sehr frustrierend, wenn Abgeordnete mit einem klar christlichen persönlichen Profil in dieser Situation nicht aufbegehren, sondern die (für micht nicht länger stichhaltigen) Argumente der Parteiführung rezitieren. Da bin ich froh, daß ich als nicht-mehr-Wiener nicht an der kommenden Wien-Wahl teilnehmen kann, weil ich für mich nicht die Entscheidung treffen muß, ob ich Kandidaten, die in vielen Dingen auf meiner Linie sind, aber eben nicht zu diesem Thema, mit einer Vorzugsstimme unterstütze; sowie auch, daß bei NÖ-Wahlen und Bundeswahlen keiner dieser Kandidaten in meinem Wahlkreis kandidiert, sodaß mir auch da die Entscheidung erspart bleibt.

Aber es bleibt eben der böse Verdacht, daß die Haltung der ÖVP mitbestimmt wird von dem Wunsch, bei den Wien-Wahlen möglichst viele Stimmen ehemaliger FPÖ-Wähler zu lukrieren; es bleibt der Verdacht, daß türkis sich allzu deutlich von blau unterscheidet, und das tut mir als Sproß einer Familie, die sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits seit Generationen im christlich-sozialen Lager beheimatet ist, sehr weh.