Manche evangelikale Christen stehen Liturgie und vorformulierten Gebeten, ebenso wie den Festen des Kirchenjahres, sehr skeptisch gegenüber: das wäre leeres Geplapper wie die Heiden, und weil die Worte vorgegeben sind, läßt es, im Gegensatz zu freiem, spontanen Gebet, dem Heiligen Geist keinen Raum, und kirchliche Feste sind nur Schatten (Kol. 2,16–17)
In seinem Buch „Eat This Book“ („Iß dieses Buch“)[1], einem messianisch-jüdischen Jüngerschaftshandbuch, behandelt Stuart Dauermann[2] verschiedene Einwände, die auch in messianisch-jüdischen Kreisen gegen liurgisches Gebet vorgebracht werden. Ich möchte hier aus dem Buch zitieren, wie Dauermann zwei dieser Einwände widerlegt:
4. „So ein vorgeplantes und ritualisiertes Gebet läßt dem Heiligen Geist keinen Raum.“
Wer das sagt, beschränkt den Heiligen Geist auf Spontaneität. Das ist ein Irrtum, die Bibel ist anderer Meinung. In 2. Chronik 5 werden der Pomp und das prächtige Zeremoniell bei der Einweihung von Salomos Tempel beschrieben. Die Bibel beschreibt kein anderes Ereignis, welches detaillierter geplant gewesen und strenger nach einem „Drehbuch“ abgelaufen wäre als dieses. Wenn der Einwand gegen vorgeplantes und ritualisiertes Gebet gerechtfertigt wäre, dann hätte diese Tempeleinweihung geistlich tot sein müssen. Stattdessen lesen wir diese Beschreibung:
Darauf traten die Priester aus dem Heiligtum. Alle, die gekommen waren, unabhängig davon, zu welcher Abteilung sie gehörten, hatten sich geheiligt. Die levitischen Sänger, Asaf, Heman, Jedutun, ihre Söhne und Brüder, standen alle, in Byssus gekleidet, mit Zimbeln, Harfen und Zithern an der Ostseite des Altars. Bei ihnen waren hundertzwanzig Priester, die auf Trompeten bliesen. Es kam wie aus einem Mund, wenn die Trompeter und Sänger gleichzeitig zum Lob und Preis des HERRN sich vernehmen ließen. Als sie mit ihren Trompeten, Zimbeln und Musikinstrumenten einsetzten und den HERRN priesen – „Denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig“ -, erfüllte eine Wolke den Tempel, das Haus des HERRN. Die Priester konnten wegen der Wolke ihren Dienst nicht verrichten; denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes. (2. Chron. 5,11–14, EÜ2016)
Inmitten all dieser genau im Voraus geplanten Pracht erscheint der Herr und überwältigt alle. Der heilige Gott hat offensichtlich kein Problem mit rituellem, formellem und geplantem Gebet, das Ihm von Seinem Volk als Liebrsgabe dargebracht wird. Er zeigt sich gerne in solchen Situationen und nichts verleiht der „Party“ mehr Leben als Seine Gegenwart!
Natürlich, mit Pomp und Pracht geplantes Zeremoniell kann pompös und pretentiös sein; aber es kann auch Ausdruck der Ehfurcht und des Respekts sein, die dem Thronsaal des Königs der Könige angemessen sind.
5.„Das leeres Geplapper.“
Wieder falsch. Nicht jede Wiederholung ist leeres Geplapper. Wenn jemand zu seiner Liebsten sagt, „Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!“, ist das zweite und dritte Mal leeres Geplapper? Das glaube ich nicht!
Das heißt natürlich nicht, daß jeder Christ und jede Gemeinde in komplizierten liturgischen Formen beten muß, aber es heißt sehr wohl, daß wir Liturgie im Gottesdienst und auch im privaten Gebet nicht verurteilen dürfen. Man könnte hier durchaus die Worte des Apostels Paulus umschreiben:
Der eine glaubt, er dürfe frei oder liturgisch beten. Der Schwache aber betet nur frei. Wer liturgisch betet, der verachte den nicht, der nur frei betet; und wer nur frei betet, der richte den nicht, der liturgisch betet; denn Gott hat ihn angenommen. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten. (nach Römer 14,2–4)
Ein anderes Thema, wo Evangelikale gerne auf Christen in anderen Traditionen herabblicken ist das Einhalten von bestimmten Feiertagen. Meiner Erfahrung nach feiern die meisten evangelikalen Christen zwar Weihnachten und Ostern, aber oft nur als eine gute evangelistische Möglichkeit, weil viele Mitmenschen zu diesen Zeiten für das Evangelium empfänglicher sind als sonst. Sie sehen keinen geistlichen Nutzen im Einhalten dieser Feste, geschweige denn der vielen anderen Festtage im volkskirchlichen Kirchenjahr. Da finde ich dann zwei Dinge interessant:
Erstens: Unmittelbar nach den Versen, auf die ich mich oben bezogen habe, schreibt Paulus folgendes:
Der eine hält einen Tag für höher als den andern; der andere aber hält alle Tage für gleich. Ein jeder sei seiner Meinung gewiss. Wer auf den Tag achtet, der tut’s im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch. … Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? (Römer 14,5–6, 10, LUT 2017)
Zweitens: Auch Israel hatte religiöse Feste, die sie einhielten (und die wahrscheinlich Jesus selbst auch einhielt); sie feierten und erinnerten an die großen Taten, die Gott für sein Volk vollbracht hat. Manche dieser Feste waren biblisch vorgegeben; andere entstammten der jüdischen Tradition. Jesus verdammt diese Tradition nicht; vielmehr sagt er über die Hüter der Tradition:
Alles nun, was sie (die Parisäer und Schriftgelehrten) euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht. (Matthäus 23:3, LUT2017)
Auf die Zeit des Neuen Testaments und der Gemeinde Jesu übertragen schließe ich daraus, daß kirchliche Feste, auch wenn sie nicht biblisch geboten sind sondern der Tradition entstammen, dann legitim sind, wenn sie das Handeln Gottes, Ereignisse im Leben Jesu, aber auch das vorbildliche Leben herausragender Jünger Jesu, feiern und uns daran erinnern; und wie Paulus sagt, „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?“ nur weil er Feste feiert, die du nicht feierst?
Und wenn dann der Einwand von manchen kommt, das Problem wäre vielmehr, daß die (kath.) Kirche ihren Mitgliedern vorschreibt, diese Feste einzuhalten, und das widerspricht der „Freiheit eines Christenmenschen,“ und den Worten des Apostels in Kolosser 2,15 dann stimme ich zwar zu; allerdings lassen sich heute die wenigsten Katholiken von den Vorschriften der Kirche ein schlechtes Gewissen machen, und ich erinnered aran, daß auch evangelikale Gemeinden immer wieder Erwartungen an ihre Gemeindeglieder haben oder hatten, wo man darüber streiten kann, ob sie so in der Bibel stehen oder nicht.
Ich möchte natürlich auch niemandem etwas vorschreiben, weder liturgisches Gebet oder besstimmte Gottesdienstformen, und auch nicht das Einhalten von Feiertagen; ich möchte uns aber zu mehr Respekt aufrufen für Dinge und Praktiken, die andere Christen in ihrem Wandel mit dem Herrn hilfreich finden, nach dem Motto, „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?“
__________
- Stuart Dauermann, Eat This Book: Strength for Your Journey with the Jewish Jesus, Heart Ally Books 2022, ISBN-13: Paperback 978-1-63107-044-0, eBook 978-1-63107-043-3; Amazon | Smashwords [↩]
- Stuart Dauermann ist ein „Elder Statesman“ der messianisch-jüdischen Bewegung; er kam 1962 als Musikstudent zum Glauben an Jesus, war Teil Musikgruppe „The Liberated Wailing Wall“ und Gemeinderabbiner einer messianischen Gemeinde. Hier gibt es eine ausführliche Biografie. In deutschsprachigen Liederbüchern ist er als Komponist mehrerer Lobpreislieder zu finden.[↩]