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Wolf’s Notes

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“katholischer Evangelikaler” ???

2020-11-29 Wolf Paul

Ich nenne mich oft einen “katholischen Evangelikalen” — im Englischen sagt man dazu, “catholic with a small c”, d.h. als Adjektiv, nicht als Eigenname.

Ich wurde in eine römisch-katholische Familie geboren und im Alter von wenigen Tagen getauft; dann wuchs ich mit all dem katholischen Drum-Herum auf: jeden Sonntag in der Messe, Erstkommunion mit 7, Firmung (Konfirmation) mit 14. Ab etwa 8 Jahren bis nach meiner Firmung war ich Ministrant in meiner Pfarrkirche.

Wenn ich “römisch-katholische Familie” sage, dann meine ich das ernst: einer meiner Onkel ist Priester, eine Tante Ordensschwester (sie ist allerdings schon verstorben), als Kinder spielten wir “Messe” mit echt ausehenden liturgischen Gewändern, beide meiner Eltern waren Religionslehrer an öffentlichen Schulen.

Trotz all dem, trotz großem Wissen über Bibel und den katholischen Glauben hat das nicht wirklich mein Herz erreicht, und als Teenager habe ich das alles nur mehr mitgemacht, um Tsores mit den Eltern zu vermeiden.

Dann, als ich 16 war, habe ich in der Wiener Innenstadt eine Gruppe junger, evangelikaler Christen getroffen, die mich zu einem Bibelkreis eingeladen haben. Ich war fasziniert davon, wie sie von Gott und Jesus sprachen, als wären das lebendige Personen und eine lebendige Realität in ihrem Leben, und nicht nur ein abstraktes Konzept, von dem man am Sonntag in der Kirche hörte.

Nachdem ich einige Zeit mit ihnen verbracht hatte, war mit klar, daß ich diesen lebendigen Glauben, diese Beziehung zu Gott, haben wollte. Ich habe mein Leben Jesus übergeben und habe angefangen, in eine evangelikale Gemeinde zu gehen.

Etwas später hatte ich die Gelegenheit, für ein paar Monate nach England zu gehen, um dort in einem christlichen Buchhandel zu arbeiten. Danach kam ich zurück nach Wien und tauchte ein in die “evangelikale Szene”. Die war damals ziemlich anti-katholisch eingestellt; kein Wunder, bezeichnete uns doch die katholische Kirche als “Sekte” auf einer Stufe mit den Zeugen Jehovas und Mormonen und warnte ihre Mitglieder vor uns — also warnten wir auch vor ihnen.

Später habe ich dann begonnen, mit einer amerikanischen Mission zu arbeiten, die theologisches Schulungsmaterial für Pastoren im kommunistischen Osteuropa produzierte, ich traf meine Frau, wir heirateten, und Ende 1984 übersiedelten wir in die USA, um weiter mit dieser Mission zu arbeiten.

Als unsere Tochter auf die Welt kam, begann ich ernsthaft darüber nachzudenken, wie man dem Glauben an die nächste Generation weitergeben kann. Mir wurde klar, wieviel Bibel ich durch meine katholische Erziehung absorbiert hatte, ebenso durch die sonntäglichen Schriftlesungen und durch den Religionsunterricht; wie sehr die Feier des Kirchenjahres während meiner Kindheit und Jugend mich und meinen Glauben geprägt hat, und wie dankbar ich eigentlich für dieses katholische Erbe sein sollte. Das war auch die Zeit, wo ich messianische Juden und damit auch die jüdischen Feste kennenlernte, und mir wurde klar, daß diese Feste ein didaktisches, pädagogisches  Ziel haben: den Glauben, das Wissen um die großen Taten Gottes, weiterzugeben an die nächste Generation.

1989 kamen wir wieder nach Europa zurück, und in den Folgejahren nahm ich wieder Kontakt auf mit einigen alten Freunden. Einer dieser alten Freunde hatte sich etwa zeitgleich mit mir bekehrt hatte und war in der gleichen Gemeinde gewesen wie ich. Irgendwann war er dann mit der katholischen charismatischen Erneuerung in Kontakt gekommen, war in die katholische Kirche zurückgekehrt und hatte Theologie studiert; jetzt war er kurz davor, zum Diakon geweiht zu werden. Durch ihn traf ich andere Katholiken, die meinen evangelikalen Freunden sehr  ähnlich waren, in der Art, wie sie über Gott und Jesus als lebendige Wirklichkeit sprachen, wie sie immer mit einer Bibel rumliefen, und in ihren Treffen sogar viele von unseren Liedern sangen. Mir wurde klar, daß Gott etwas Neues tat in der katholischen Kirche, und zwar etwas, was wir Evangelikalen nicht erwartet hatten.

In den nächsten Jahren bin ich dann durch viele Kontakte mit solchen “erweckten” oder “erneuerten” Katholiken, durch sehr viel Lesen und Studieren (z.B. einen Kurs über die frühen Kirchenväter) und viele andere Erfahrungen dort angekommen, wo ich mich jetzt finde:

Ich bin immer noch ganz klar ein Evangelikaler, weil für mich die Heilige Schrift der Maßstab unseres Glaubens ist, nicht kirchliche Traditionen oder ein besonderes Lehramt; weil ich fest glaube, daß die Erlösung ein freies, unverdientes Geschenk Gottes ist, das nicht an kirchliche Rituale oder Gebete zu irgendjemand anders als Christus gebunden ist — Christus, der der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, und daß Christsein eine Bekehrung, eine persönliche Entscheidung, Jesus nachzufolgen, erfordert.

Aber anders als viele, vielleicht die meisten, Evangelikalen, die ich kenne, glaube ich nicht, daß die wahre Kirche Christi zwischen dem Ende des apostolischen Zeitalters und der Reformation verschwunden, eingeschlafen war, bis sie von Martin Luther oder einem anderen Reformator oder Kirchengründer aus dem Dornröschenschlaf geweckt oder wiederhergestellt wurde; ich bin fest davon überzeugt, daß die Kirche, der Leib Christi, seit dem ersten Pfingsten (siehe Apostelgeschichte 2) auf dieser Welt existiert und gewirkt hat, und daß sie mehr Menschen umfaßt, als sich die meisten von uns vorstellen.

Und deshalb nenne ich mich einen “katholischen Evangelikalen”. Der Begriff “katholisch” kommt über das Spätlateinische catholicus von dem griechischen Adjektiv καθολικός (katholikos, d.h. “universell”), welches wiederum von dem Ausdruck καθόλου (katholou) kommt, d.h. “insgesamt”, “im Ganzen”, oder “im Allgemeinen”, einer Kombination aus den griechischen Wörtern κατά (herum) und ὅλος (ganz). Dieses Wort wird im Nizäischen Glaubensbekenntnis als eines der vier Merkmale der Kirche genannt und bedeutet im wesentlichen, daß die Kirche, der Leib Christi, alle Christus-Gläubigen, überall und zu aller Zeit, umfaßt.

Ich weiß schon, daß der Begriff zu einer Konfessionsbezeichnung geworden ist, und meist die römisch-katholische Kirche oder auch einige Ostkirchen, die den römischen Papst anerkennen, bezeichnet, aber auch andere Gruppen wie die Altkatholiken. Im Englischen gibt es die Konvention, “Catholic” in solchen Konfessionsbezeichnungen groß zu schreiben, während das konfessionell neutrale Adjektiv “catholic” kleingeschrieben wird. Leider gibt es diese Unterscheidung in dieser Form im Deutschen nicht. Auf Englisch nenne ich mich daher einen “small c catholic Evangelical.”

In unserer Zeit, wo das Christentum als gesellschaftliche Kraft immer schwächer wird, und die meisten Menschen, die als Christen bezeichnet werden, eigentlich nur mehr “Namenschristen” sind, müssen wir, die wir tatsächlich an Jesus und die Erlösung durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung glauben, zusammenstehen — trotz aller realen Unterschiede zwischen uns.