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Wolf’s Notes

… about faith, life, technology, etc.

Traurige Kollateralschäden

2023-10-10 Wolf Paul

Es ist eine traurige Wahrheit, daß ein Krieg nie nur die Bevölkerung das angegriffenen Landes oder Territoriums mit Tod und Zerstörung trifft, sondern immer auch die Bevölkerung des angreifenden Landes oder Territoriums. Das Kriegsvölkerrecht sollte das zwar so weit wie möglich verhindern, aber wenn die Angreifer ihre militärische (oder in diesem Fall, besser terroristische) Infrastruktur in, unter, und neben zivilen Einrichtungen wie Spitälern, Schulen, und Wohnblocks plazieren, wie das Hamas im Gazastreifen seit Jahren macht, dann leidet die Zivilbevölkerung, weil sich die Verteidiger dann nicht leisten können, darauf Rücksicht zu nehmen. [1]

Wie der britische Außenminister James Cleverly gestern sagte, die Hamas habe „die Notlage des palästinensischen Volkes aufgrund dieser terroristischen Aktionen, die sie gegen Kinder, gegen Zivilisten und gegen alte Menschen in Israel verübt hat, unermesslich verschlimmert. … Die Hamas verursacht Schmerz und Leid sowohl in Israel als auch in Gaza.“

Und das besonders perfide mit Gaza und Hamas ist die Tatsache, daß die obersten Führer der Hamas im komfortablen und sicheren Exil in Katar und Ägypten leben, und daher das Leid, das sie über ihr Volk gebracht haben, selbst nicht erleben.

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  1. Wobei man dazusagen muß, das Israel bis zum 6. Oktober  im allgemeinen die Bevölkerung vor Luftangriffen zu warnen versucht hat, damit sich die Menschen in Sicherheit bringen können, diese jedoch oft von Hamas-Terroristen daran gehindert und festgehalten wurden, weil zivile Opfer israelischer Angriffe ein probates Propagandamittel sind. Ich kann mir nicht vorstellen (und die Berichterstattung zeigt es auch), daß Israel diese Praxis auch nach diesem 7. Oktober aufrecht halten wird, und habe dafür auch ein gewisses Verständnis.[]

Der Große Austausch

2023-09-13 Wolf Paul

Chad Bird:[1]

Hier ist der Vers,der für mich auf den Punkt bringt, worum es beim Christentum letztlich geht, was die Frohbotschaft des Christentums ist, die wir der Welt anbieten. Es handelt sich dabei um den letzten Vers von 2. Korinther 5:

Gott hat Ihn, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in Ihm Gerechtigkeit Gottes würden.

Das wird manchmal „der große Austausch“ genannt. Denn Jesus nimmt unsere Sünde auf Sich: Gott hat Ihn, der keine Sünde kannte, zu unserer Sünde, zu alldem, was uns von Gott trennt, gemacht. Das ist, wozu Jesus am Kreuz wurde. Er wurde der Sünder, Er wurde Sünde – unsere Sünde, meine Sünde, deine Sünde, die Sünde der ganzen Welt, der ganzen Menschheit – dazu wurde Jesus am Kreuz. Er war die ganze Menschheit reduziert auf eine Person, die ganze sündige Menschheit reduziert auf eine Person. Dazu wurde Jesus am Kreuz. Warum?

Damit wir in Ihm die Gerechtigkeit Gottes würden. Indem Er unsere Sünde auf sich genommen hat, gibt Er uns Seine Gerechtigkeit. Indem Er unseren Tod auf sich genommen hat, schenkt Er uns Sein Leben. Das ist der Große Austausch: Jesus wird zu all dem, was uns vom Vater trennt, damit wir in Jesus mit dem Vater versöhnt, zu Ihm gezogen werden.

Das ist die Frohbotschaft, die gute Nachricht. Das ist die beste Nachricht. Und sie richtet sich an dich, sie richtet sich an mich, sie richtet sich an die ganze Welt. Es gibt niemanden, für den Jesus nicht Sünde wurde, damit sie oder er in Ihm, durch den Glauben an Ihn, zur Gerechtigkeit Gottes würde.

 

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  1. Chad Bird ist Theologe bei 1517.org. Er hat als Pastor, Professer, und Gastlehrer für Altes Testament und Hebruaisch gedient. Er hat Master-Abschlüsse vom Concordia Theological Seminary und vom Hebrew Union College. Er hat Artikel geschrieben für Christianity Today, The Gospel Coalition, Modern Reformation, The Federalist, Lutheran Forum, und andere Zeitschriften und Webseiten. Er ist Autor einiger Bücher, einschließlich seines letzten, Limping with God: Jacob and the Old Testament Guide to Messy Discipleship („Hinkend mit Gott: Jakob und der alttestamentliche Leitfaden für chaotische Jüngerschaft“). Er ist auch Co-Moderator des populären Podcasts, 40 Minutes in the Old Testament („40 Minuten im Alten Testament“).[]

Gedanken zu Gottesdienst, Kirchenjahr, Tradition

2023-09-01 Wolf Paul

Ausgehend von den interessanten Gedanken von Pfarrer i. R. Detlef Korsen zum Thema “Eventgottesdienste”, die wohl vor allem auf seinen Erfahrungen im norddeutschen evangelischen Umfeld basieren, habe ich mir meine eigenen Gedanken gemacht über die Situation in meinem österreichischen[1] freikirchlichen Umfeld – da gibt es nämlich ein ganz ähnliches Problem: Gottesdienste neigen dazu, mit zunehmender Größe der Gemeinde immer mehr den Charakter einer perfekt orchestrierten Bühnenshow anzunehmen (dies nicht nur in Österreich).

Wie in Pfr. Korsens Schilderung, sind auch in unseren Gemeinden die sehr traditionsbeladenen Feste Weihnachten und Ostern Anlässe für besondere Events, entweder am Feiertag selbst oder im Vorfeld desselben. Was mir dabei auffällt ist, daß sich diese Events oft mehr an den kulturellen Traditionen als am christlichen Charakter des Festes orientieren. Das scheint mir daran zu liegen, daß in unseren österreichischen freikirchlichen Kreisen das Kirchenjahr, aus dem diese Feiertage kommen und ihren christlichen Charakter beziehen, kaum Beachtung findet, sondern als “Tradition” abgetan wird. Es steht ja nicht direkt in der Bibel. Daher feiern wir an diesen Tagen nicht primär Geburt und Auferstehung Jesu, sondern nutzen das kulturelle Restbewußtsein dieser Bedeutungen als evangelistischen Aufhänger (was ja an sich durchaus lobenswert ist).

Allerdings hat das Kirchenjahr, als Ordnung des Jahres anhand der vergangenen Großtaten Gottes mit dem Ziel, uns diese zu vergegenwärtigen und uns bewußt zu machen, daß Gott auch heute noch wirkt, durchaus ein biblisches Vorbild: den Festkreislauf des jüdischen Volkes.[2] Dieser Festkreislauf basiert nicht nur auf der biblischen Offenbarung, sondern entspricht auch, wie eben auch das Kirchenjahr, dem menschlichen Bedürfnis, uns an wichtige Ereignisse in Feiern zu erinnern (z.B. Geburts- und Hochzeitstage).

Und es ist ja auch nicht so, daß wir Tradition generell ablehnen, sondern lediglich die Tradition der alten Kirche. Jede unserer Gemeinden hat ihre Tradition, oft geteilt mit anderen Gemeinden des gleichen Bundes oder Netzwerks. Wir lehnen ja größtenteils auch Liturgie ab, aber auch da nur die traditionell überlieferte altkirchliche Liturgie – denn jede Gemeinde hat ihre eigene Liturgie: meist laufen Gottesdienste Sonntag für Sonntag nach dem gleichen Schema ab, und die “freien” Gebete mancher Geschwister[3] klingen auch jeden Sonntag ziemlich gleich.

Wir berufen uns in der Ablehnung der altkirchlichen Tradition oft auf die Reformation und deren Grundsatz “sola Scriptura” – aber Martin Luther z.B. hat ja nicht die Tradition an sich abgelehnt, sondern den Versuch, diese zusätzlich zur Bibel (und teilweise im Widerspruch zur Bibel) als Maßstab für Lehre, Glauben, und Leben heranzuziehen.[4]

Ich persönlich sehe den zunehmenden Eventcharakter unserer Gottesdienste mit Bedauern, und würde einen von der Gemeinde im Gottesdienst bewußt als Vorbereitung auf die Geburt und Wiederkunft des Erlösers gefeierten Advent[5], sowie eine Fasten- und Passionszeit als Vorbereitung auf das Gedächtnis des Leidens und Sterbens sowie auf die Feier der Auferstehung Jesu, sehr begrüßen.

Das ganze erfordert jedenfalls noch mehr Nachdenken, und eine leichte Änderung in Bezug auf das Kirchenjahr ist ja Gott sei Dank zu beobachten.

 

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  1. Ich streiche das hervor, weil sich meiner Erfahrung nach die Situation in Österreich von der Situation in Deutschland und der Schweiz in einigen Aspekten unterscheidet. Durch die Jahrhunderte dauernde Dominanz des habsburgischen Katholizismus war bis vor wenigen Jahrzehnten die römisch-katholische Kirche die dominante Kirche, neben der protestantische Kirchen einschließlich der Lutherischen und Reformierten, ein Schattendasein führten. Freikirchen waren bis 2013 nicht einmal als Kirchen anerkannt und durften sich bis 1999 auch nicht als Vereine organisieren. Die Mehrzahl der österreichischen Freikirchen entstanden erst nach dem 2. Weltkrieg und waren die ersten Jahrzehnte von Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und Jugoslawien sowie von ehemals katholischen Konvertiten geprägt. Letztere standen allem, was irgendwie katholisch aussah, verständlicherweise sehr skeptisch und ablehnend gegenüber, was sich erst jetzt, wo die Gemeinden bereits von Mitgliedern in der vierten Generation bevölkert sind, langsam ändert. Auch die offene Unterstützung der Anerkennung der Freikirchen 2013 durch den katholischen Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn, hat viel zu einer Haltungsänderung beigetragen. []
  2. Daß die Kirche dabei, in ihrem zunehmenden Antijudaismus und der supersessionistischen Theologie (auch “Ersatzlehre“, die Kirche hat Israel ersetzt, ist das neue Israel), die biblischen Feste des Alten Bundes durch völlig neue, christliche Feste ersetzt hat, statt sie um diese zu ergänzen, ist meines Erachtens sehr traurig, und die Tatsache, daß das Feiern der jüdischen Feste und des Sabbats für zwangsbekehrte Juden durch die Staatsmacht als Handlanger der Kirche unter schwere Strafe gestellt wurde empfinde ich als absoluten Schandfleck der Kirchengeschichte.[]
  3. Wo es denn noch eine freie Gebetszeit gibt im Gottesdienstablauf, denn mit zunehmendem Eventcharakter verschwindet diese oft[]
  4. Allerdings gibt es in der “Schweizer” Reformation (Calvin, Zwingli, usw.), und auch in der “radikalen Reformation” des Täufertums, das Prinzip des “Regulativs des Gottesdienstes“. Dieses besagt, daß im christlichen Gottesdienst nur das legitim ist, was ausdrücklich in der Bibel geboten ist. Alles, was nicht direkt im Wort Gottes befohlen wird, ist demnach im Gottesdienst unzulässig. Manche dehnen das dann auf das gesamte kirchliche bzw. Gemeindeleben aus, wodurch dann auch traditionelle Feste verboten sind. Insofern sich Gemeinden (freikirchliche oder nicht) heute darauf berufen, muß man den meisten von ihnen vorwerfen, daß sie sich nur sehr selektiv daran halten.[]
  5. mit mehr Inhalt als das Anzünden der Adventkranzkerzen[]

Das G’frett mit dem Gendern

2023-08-20 Wolf Paul

Es is scho a G’frett mit dem Gendern:

In einem sehr interessanten Artikel mit dem Titel “A Eitrige mit an Buggl” beschreibt der stellvertretende auto  touring Chefredakteur Alexander Fischer die sieben besten Würstelstände in Wien sowie die Tauglichkeit des Honda Civic Type R Heckflügels als Stehtischchen.

Aber was mir gleich in den ersten paar Absätzen aufgefallen ist:

Warum schreibt Herr Fischer zwar von den Leser:innen und Wiener:innen, nicht jedoch von den Veganer:innen, Bruncher:innen, und Nachtschwärmer:innen?
Und auch die Würstelmänner und die (deutschen) Touristen scheints nur männlich zu geben. Ist auto touring nur selektiv inklusiv? Werden sich da die Veganerinnen, Bruncherinnen, Nachtschwärmerinnen, Würstelfrauen und Touristinnen nicht ausgegrenzt und diskriminiert fühlen?

Nun: Ich finde die Veganer, Buncher, Nachtschwärmer und Touristen genauso wenig sexistisch oder diskriminierend wie der Mensch; das ist jeweils ein generisches Maskulinum, eine grammatische Form, die beide Geschlechter umfaßt.  [1]

Der Rat für deutsche Rechtschreibung (RdR), die Regulierungsinstitution der Rechtschreibung des Standardhochdeutschen für Deutschland, Österreich, die Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, empfiehlt übrigens, auf Binnen-I, Gender-Sternchen, Gender-Doppelpunkt und andere fragwürdige Konstrukte zu verzichten, und bei Bedarf “Leserinnen und Lesern”, “Wienerinnen und Wienern”, “Touristinnen und Touristen”, usw., zu schreiben.

 

Das Titelbild, Würstelstand Kaiserzeit bei der Augartenbrücke in Wien 2, stammt von Guggerel und ist frei verfügbar unter der CCO-Lizenz.

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  1. Das generische Maskulinum umfaßt sogar alle Geschlechter, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, an die Existenz einer Vielzahl von Geschlechtern glaubt, im Gegensatz zu den diversen komischen Genderkonstrukten, die nur Männlein und Weiblein umfassen. Das “generische Maskulinum” ist daher fortschrittlicher und inklusiver als alle Genderkonstrukte 😉 .[]

“Diese Rufnummer ist nicht vergeben.”

2023-08-10 Wolf Paul

Ich habe soeben einen Anruf von der Rufnummer +43684937284 erhalten.

Die sehr freundliche Dame (sie sprach Deutsch mit ausländischem Akzent) sagte, sie rufe von Microsoft an und fragte mich, ob ich einen Microsoft-Computer besitze. Auf meine bejahende Antwort wurde ich zu einem ebenso freundlichen Herrn (auch der sprach Deutsch, aber mit einem etwas anderen ausländischen Akzent) verbunden, der mich informierte, daß er der Cheftechniker bei Microsoft sei, daß ich ein Internet-Problem auf meinem Microsoft-Computer habe und all meine Daten ausspioniert würden.

Auf meinen Einwand, daß ich kein Problem habe, antwortete er, schon etwas weniger freundlich, daß ich ein normaler Benutzer sei und keine Ahnung davon habe, wovon ich rede.

Als ich erwiderte, daß ich sehr wohl eine Ahnung habe, hängte er auf.

Schade, denn ich hätte ihn so gerne gefragt, woher Microsoft meine Rufnummer hat, und warum sie mich von einer österreichischen Mobilfunk-Rufnummer anrufen. Dann hätte ich ihn gerne gefragt, wenn es denn stimmen würde, daß alle meine Daten ausspioniert werden, warum Microsoft dieses Problem nicht schon längst durch ihre automatischen Updates beseitigt hat. Und ich hätte ihn gerne gefragt, warum bei einer Riesenfirma wie Microsoft der “Cheftechniker” Kundensupport-Anrufe macht. Aber zu meinen Fragen bin ich gar nicht gekommen.

Oh, bevor ich es vergesse: ich habe diese Rufnummer dann versucht, zurückzurufen, weil ich es als sehr rüde und unhöflich empfand, daß der Typ einfach aufgelegt hat. Das Resultat: “Diese Rufnummer ist nicht vergeben.”

Der McDonald Test

Wolf Paul

Dieser Artikel erschien vor ein paar Jahren in der englischsprachigen Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft, und obwohl er sich naturlich in erster Linie auf die Situation in den USA bezieht, glaube ich, daß er auch für uns hier im deutschsprachigen Europa wertvolle Gedankenanstöße und Lektionen enthält; deshalb gibt es ihn hier in deutscher Ubersetzung. Links auf das englische Original sowie Informationen über die Bruderhof-Bewegung und ihre Niederlassungen in Österreich gibt es am Ende des Artikels.

Der McDonald’s-Test
Das Amerika der hintersten Reihe lieben zu lernen

Von Chris Arnade
3. Juli 2019

Chris Arnade, einst Wall-Street-Banker, reiste drei Jahre lang kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten, um „die Orte zu besuchen, an die man nicht gehen sollte“. Seine Reisen führten ihn von der Bronx über die Ozarks nach East Los Angeles. Was er gelernt hat, teilt er in „Dignity“, einem brandheißen neuen Buch voller Essays und Fotojournalismus. Peter Mommsen von Plough traf sich mit ihm, um über Fast-Food-Läden, Ladenkirchen, Leistungsgesellschaft und die Frage zu sprechen, ob man Bettlern Geld geben sollte.

Plough: Was hat Sie dazu bewogen, dieses äußerst zeitaufwändige Projekt zu starten?

Chris Arnade: Es begann im Jahr 2012, als ich Anleihenhändler für eine renommierte Wall-Street-Bank war. Ich hatte das bereits zwanzig Jahre gemacht und wollte mehr von der Welt sehen. Also begann ich, lange Spaziergänge durch New York City zu unternehmen. Und schon bald fand ich mich an Orten, von denen mir die Leute in meiner sozialen Schicht abgeraten hatten, dorthin zu gehen.

Einer davon war Hunts Point, ein Viertel in der South Bronx[1], das als Zentrum für Drogen und Prostitution gilt. Letztendlich habe ich dort drei Jahre verbracht. Ich kam Obdachlosen, Sexarbeiterinnen und Süchtigen sehr nahe – einige ihrer Geschichten kommen in dem Buch vor. Es war einfach mein Versuch, Menschen zuzuhören, denen sonst niemand zuhören würde.

Im Jahr 2015 beschloss ich, mich auch mit anderen Orte in den Vereinigten Staaten zu beschäftigen, die ignoriert werden oder über die negativ gesprochen wird. Orte wie Lewiston, Maine, Bakersfield, Kalifornien oder El Paso, Texas.

In dieser Zeit haben Sie über 240.000 Kilometer zurückgelegt. Welche Motivation hat Sie am Laufen gehalten?

Eine Motivation war politischer Natur: ein Gefühl der Empörung. Wenn man in Hunts Point geboren wird, gibt es viele Dinge, die gegen einen sprechen. Es scheint, als wäre unser gesamtes Rechts-, Wirtschafts- und Kultursystem gegen diese Kinder gerichtet. Dennoch unterscheiden sie sich nicht von den Menschen, die man in der Upper East Side[2] findet – sie sind nicht dümmer, sie sind nicht weniger fleißig. Hier war ich, jemand, der zwanzig Jahre lang ein angenehmes Leben in New York geführt hatte und sich selbst als Liberalen betrachtete, in dieser Stadt, in der schreckliche Armut und Ungerechtigkeit herrschen. Ich wollte herausfinden, ob das auch anderswo der Fall ist.

Die zweite Motivation war persönlicher Natur. Die ersten ein oder zwei Jahre, in denen ich an diesem Projekt arbeitete, waren surreal, da ich noch an der Wall Street arbeitete. Am Wochenende oder abends bin ich mit meiner Kamera in „raue“ Viertel gegangen und habe mit Leuten gesprochen. Letztendlich habe ich mich entschieden, meinen Job aufzugeben und das zu tun, was ich jetzt tue, weil ich glücklicher war – glücklicher bin. Es ist ein sehr egoistischer Grund. Aber ich fühlte mich unter den Leuten in Hunts Point wohler als unter den Leuten an der Wall Street.

Fußballmannschaft der High School in Lewisto, Maine, wo es eine starke somalische Gemeinde gibt

Als Sie eine heruntergekommene Stadt in Missouri besuchten, begrüßten Sie die Einheimischen mit den Worten: „Sie müssen hier sein, um über Crystal Meth zu schreiben.“ Wie vermeidet ein Buch über arme Orte Voyeurismus?

Der Ausdruck, den die Leute dafür verwenden, ist „Armutsporno“. Mein Comeback ist: „Ich denke, wir brauchen etwas mehr Armutspornos. Wir haben genug Luxuspornos.“

Natürlich gibt es eine schlechte Art, über die Menschen an diesen Orten zu schreiben. Ich denke, es geht ausschließlich um Methodik und Absicht. Ich gehe manchmal in Ort- oder Nachbarschaften, ohne vorher etwas darüber zu lesen, um keine vorgefassten Meinungen mitzubringen.

Ein Ort, den ich besuchte, war Prestonsburg, Kentucky. Das Zentrum dieser Ortschaft ist ein Platz mit einem McDonald’s und einem Walmart.[3] Jeden Tag, als ich dort war, sah ich einen Mann, der draußen auf einem Picknicktisch Zigaretten rauchte; Er arbeitete in einer Nachtschicht in einem der Geschäfte. Jeden Tag weigerte er sich zu reden. Nach zwölf Tagen sagte er: „Gut, Sie können ein Foto von mir machen.“ Wir unterhielten uns, er gab mir ein paar Zitate und wir lachten. Am Ende sagte er: „Erzählen Sie nicht nur die Geschichte, wie Prestonsburg voller Drogen und Süchtiger ist. Ich hoffe, Sie erzählen auch die Geschichte darüber, dass wir gute Menschen sind.“

Das ist meine Absicht mit diesem Buch. In allen Ortschaften und Nachbarschaften, die ich besuchte und die so unterschiedlich waren, spürte ich den gleichen Wunsch nach Würde.

Unterwegs haben Sie achthundert McDonald’s-Restaurants besucht. Warum?

Mein altes Ich, mein erfolgreiches Anleihenhändler-Ich, hielt McDonald’s immer für einen peinlichen Ort, den ich nie aufsuchen würde. Aber als ich anfing, Hunts Point zu besuchen, aß ich ständig bei McDonald’s. Es war einer der wenigen öffentlichen Orte in der Nachbarschaft, die funktionierten.

Ich freundete mich eng mit einigen obdachlosen Heroinsüchtigen an, und ihr Leben drehte sich in vielerlei Hinsicht um McDonald’s. Hier gehen sie auf die Toilette, um sich zu waschen. Hier können sie ihr Telefon anschließen und aufladen. Hier können sie einfach eine Stunde lang ruhig dasitzen und ungestört der Hitze oder Kälte entfliehen. Dort bekommen sie auch günstiges Essen. Ich respektiere das Essen vielleicht nicht aus ethischen Gründen, aber es ist billig und schmeckt gut. Für Leute, die nicht viel Geld haben, zählt das viel. Da herrschte ein echtes Gemeinschaftsgefühl.

Mir wurde klar, dass die McDonald’s-Restaurants im ganzen Land tatsächlich Gemeinschaftszentren waren. In Städten, in denen die Dinge wirklich nicht funktionieren, in denen staatliche Dienste versagen und gemeinnützige Organisationen und der Privatsektor den Menschen nicht helfen, ist McDonald’s einer der wenigen Orte, der noch geöffnet ist, noch über funktionierende Toiletten verfügt und wo das Licht brennt.

Schließlich kam ich auf den sogenannten McDonald’s-Test. Die allgemeine These meines Buches ist, dass unsere Gesellschaft die Menschen in das einteilt, was ich die erste und die hintere Reihe nenne – die privilegierte Klasse, zu der ich früher gehörte, die finanziell abgesichert ist und in sicheren Gegenden mit guten Schulen und öffentlichen Dienstleistungen lebt – und alle anderen. Der Test besteht darin, eine Person zu fragen: Wie sehen Sie McDonald’s? Meiner Erfahrung nach verrät die Antwort meist, ob jemand zur ersten oder zur hinteren Reihe gehört.

Ich verstehe die Anti-McDonald’s-Stimmung – was diese riesigen globalen Konzerne in dieser hart umkämpften, extrem materialistischen Welt getan haben. Diesen Unternehmen geht es darum, in die Nachbarschaften zu kommen, dort Geld zu verdienen und es wieder herauszunehmen, und natürlich trifft das auch auf McDonald’s zu.

Aber die Realität ist, dass McDonald’s im Leben armer Menschen wichtig ist. Die Menschen wollen wirklich ein Gemeinschaftsgefühl – sie sehnen sich so sehr nach dem Sozialen, dass sie Gemeinschaften an Orten bilden, die ausschließlich auf Transaktionen ausgerichtet sind. McDonald’s ist natürlich darauf ausgelegt, dich so schnell wie möglich rein- und wieder rauszuholen. Aber was ich fand, waren Gruppen für alte Männer, Gruppen für alte Frauen, Bibelstunden und Schachspiele.

Bingo-Tag in einem McDonald’s in Louisiana

Sie haben auch viele Kirchen besucht. Wie war das für mich als Atheist?

Als ich anfing, war ich auf jeden Fall Atheist; jetzt ist es komplizierter. Ursprünglich ging ich aus dem gleichen Grund in die Kirche wie zu McDonald’s: Die Leute, mit denen ich sprach, gingen dorthin. Ich machte keinen Unterschied, sondern ging einfach in die Kirche oder Moschee, die es dort gab, von der Religion, die die Bevölkerung widerspiegelte.

So wie McDonald’s, funktionierten auch die Kirchen. Sie waren oft die einzigen Einrichtungen, die beleuchtet und funktionsfähig waren; Normalerweise handelte es sich dabei um Ladenkirchen[4]. Man ging eine Straße entlang, die mit Brettern vernagelt war, verlassene Gebäude und dann war da eine Kirche. Ihre Türen waren nicht geschlossen.

In meinem Buch gibt es nicht viele Erfolgsgeschichten – es gibt fast niemanden, der aus einem negativen Lebensstil herausgekommen ist. Die einzigen Menschen, denen es gelang, taten es durch den Glauben – durch die Kirche. Und so empfand ich zunächst widerwilligen Respekt und dann vollen Respekt vor dem, was die Kirchen tun.

Viele der Menschen, die Sie getroffen haben und deren Lebensstil im Widerspruch zum traditionellen Glauben steht – zum Beispiel eine transsexuelle Prostituierte – stellen die Bibel immer noch in den Mittelpunkt ihres Lebens.

Wenn Sie in ein Crack-Haus gehen, finden Sie eine Bibel oder einen Koran. Es werden alle möglichen verrückten Dinge passieren, aber sie werden religiöser Natur sein. Ein Teil davon ist der Öffentlichkeitsarbeit geschuldet: die Religionsgemeinschaften leisten hervorragende Arbeit im Dienst an den Armen. Aber sie finden auch in der Bibel und in den Kirchen eine Gemeinschaft, die sie versteht. Ja, es gibt religiöse Kreise, die sie verurteilen, aber die meisten dieser Kirchen verlangen nicht viel. Sie sagen: „Versuche, diesen Lebensstil zu leben, und wir werden dich akzeptieren.“

Ich denke auch, dass das, was sie in der Bibel sehen, eine Akzeptanz des Scheiterns ist, oder zumindest die Erkenntnis, dass jeder ein Sünder ist und dass wir alle gefallen sind und dass wir das alles nicht wirklich verstanden haben. Und dass es da draußen etwas gibt, das größer ist als wir. Wenn Sie in einem Crack-Haus leben und die enormen Ungerechtigkeiten dieser Welt auf einer emotionalen Ebene sehen, ist die Vorstellung, dass dies alles ist, was existiert, überhaupt nicht verlockend.

Menschen wie ich – wohlhabend, gebildet, wissenschaftlich – haben sich von den Beweisen des Glaubens entfernt. Ich denke, es ist viel einfacher, die Bibel als etwas Wichtiges zu betrachten, wenn man auf der Straße lebt und die Sterblichkeit, das Scheitern und die Demut versteht.

Wie haben Ihre Reisen Ihre Ansichten über Erfolg und Leistungsgesellschaft verändert?

In unserer Gesellschaft beurteilen wir einander nach Bildung – die Idee dahinter ist, dass Bildung das Wichtigste im Leben ist und dass es du selbst schuld bist, wenn du dabei versagst. Selbst in höflicher Gesellschaft kann man sich über jemanden lustig machen, der in der Schule nicht gut abschneidet. Wir haben nicht nur ein System, das Bildung belohnt, wir haben auch eine sehr enge Definition dessen, was Klugheit bedeutet.

Portsmouth, Ohio

Diese Denkweise ist zutiefst materialistisch und beruht auf der Vergötterung von Qualifikationen, in der Regel einem Universitätsabschluss. Der Erfolg hängt dann davon ab, wie viel Geld Sie verdienen und wie viele Diplome Sie sammeln.

Das Problem bei einer solchen Definition von Erfolg besteht darin, dass man zwar leicht messen kann, wie viel Bildung oder Geld jemand hat, es aber sehr schwierig ist, den Wert davon zu messen, gute Eltern zu sein oder sich dafür zu entscheiden, in seiner Heimatstadt zu bleiben und sein Leben damit zu verbringen, einen Beitrag zu ihr zu leisten. Wenn es uns mit einer meritokratischen Denkweise nicht gelingt, Dinge zu finden, die wir beziffern können, neigen wir dazu, ihren Wert zu übersehen.

Wie sehen alternative Erfolgsformen aus?

Als ich Zeit in Ost-Los Angeles verbrachte, einem größtenteils mexikanisch-amerikanischen Viertel, ging ich immer zu einem McDonald’s, um meine Notizen zu machen. Mir ist dort jeden Abend eine junge Frau aufgefallen. Ich fragte: „Warum bist du jede Nacht hier?“ Sie sagte: „Ich brauche das WLAN. Wir haben zu Hause kein Geld dafür.“ Sie ging zu einem Community College[5]in der Nähe.

Als sie herausfand, dass ich aus New York komme, erzählte sie mir, dass sie dort gerne zur Schule gehen würde. Ich bot ihr an, Kontakte zu guten Schulen zu vermitteln, aber sie sagte, das sei nicht möglich. Es stellte sich heraus, dass sie die älteste Tochter einer sechsköpfigen Familie war und die Übersetzerin für die Familie.

Gemessen an den üblichen Maßstäben des Erfolgs war es dumm, die Chance ausgeschlagen zu haben. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie wollte für ihre Familie da sein.

In Reno, Nevada, traf ich einen afroamerikanischen Teenager, der die Chance, eine Universität außerhalb des Bundesstaates zu besuchen, abgelehnt hatte und stattdessen ein örtliches Community College besuchte. Sein Hauptgrund war, dass seine Mutter nach zwölf Jahren Sucht nüchtern war und er für sie da sein musste.

Ich bin der Meinung, dass diese beiden Kinder die richtige Entscheidung getroffen haben. Wenn Sie mir diese Geschichte vor zehn Jahren erzählt hätten, hätte ich das wahrscheinlich nicht gedacht. Es besteht das Gefühl, dass wir alle unabhängige Franchise-Unternehmen sein sollten, die einfach dorthin ziehen, wo wir wollen. Es gibt kein Ortsgefühl.

Welche Lektion war für Sie am schwierigsten zu lernen?

Als ich mit diesem Projekt begann, wollte ich den Drogendealern und Sexarbeitern in Hunts Point helfen. Nach ein paar Jahren wurde mir klar, dass ich die Realität der Menschen, denen ich angeblich helfe, nicht verstand.

Ich habe gelernt, dass die Realität der gebildeten Elite ganz anders ist als die Realität der Arbeiterklasse. Es reicht von dem, was man denkt, über das, was man isst, über den Ort, wo man einkauft, bis hin zu den Personen, mit denen man verkehrt. Diese Entfernung, diese Trennung bedeutet, dass man sich mit der Zeit immer weniger versteht. Die gebildete Elite versteht die Arbeiterklasse nicht und umgekehrt. Es geht in beide Richtungen, aber es ist die gebildete Elite, die sich zurückgezogen hat.

Nehmen Sie Walmart. Es gibt viele Gründe, Walmart nicht zu mögen, aber wenn Sie die Einwandererbevölkerung in einer Stadt kennenlernen möchten, beginnen Sie mit Walmart. Natürlich gehen viele Leute aus der Mittelschicht zu Walmart, aber im Allgemeinen gehen sie nicht um zwei Uhr morgens hin, wo es dann am interessantesten is. Viele Walmarts haben diese wunderbare Regelung, die es Menschen erlaubt, über Nacht zu parken, sodass Obdachlose in ihren Autos auf Walmart-Parkplätzen schlafen und dann morgens die Walmart-Toiletten benutzen. Ich fand, dass diese Geschäfte einer der besten Orte sind, um Menschen zu begegnen, die oft unsichtbar sind.

Gebildete Menschen, die ich die erste Reihe nenne, verstehen solche Details des Lebens nicht. Aber sie verstehen auch nicht, wie die Leute in der hinteren Reihe denken und worauf sie Wert legen – oft auf Familie, Ort und Glauben, nicht auf Karriere und Qualifikationen.

Ich befürchte, dass die Kluft inzwischen so groß ist, dass wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich zwischen den beiden übersetzen konnte.

300 Meter entfernt von er mexikanischen Grenze in E Paso, Texas

Einwanderung ist in den meisten westlichen Ländern zu einem politisch heissen Thema geworden. Kritiker der Einwanderung behaupten, dass sie die kulturelle Identität verwässere und so die Volksgemeinschaft schwäche, insbesondere in Arbeitervierteln. Haben Sie festgestellt, dass dies der Fall ist?

Nichts könnte falscher sein als diese Aussage. Das Einzige, was in diesen Städten funktioniert, ist oft die Einwanderergemeinschaft. Lewiston, Maine, war bis 1998 ausschließlich weiß und christlich – nach der Ankunft somalischer Einwanderer sind es jetzt 15 Prozent Schwarze und Muslime. Sie haben eine leere, verlassene Innenstadt in einen lebendigen Teil der Stadt verwandelt.

Für mich als Südstaatler, der die letzten Jahrzehnte in New York verbracht hat, war es oft ein Schock, kleine Städte im Süden zu besuchen und eine blühende mexikanisch-amerikanische Gemeinschaft vorzufinden. Oftmals sind sie die Einzigen, die familiengeführte Restaurants und Geschäfte in leerstehenden Stadtvierteln betreiben.

Man kann jedoch nicht leugnen, dass die Geschwindigkeit des Wandels in diesen Städten vielen älteren Menschen Angst macht. Nachbarschaften, die seit zweihundert Jahren ein starkes Gefühl der lokalen Identität haben, werden plötzlich auf den Kopf gestellt. Viele dieser Nachbarschaften haben sehr gelitten und Einwanderer können leicht zum Sündenbock werden.

In Lewiston traf ich zum Beispiel einen Weißen aus der Arbeiterklasse, einen Vietnam-Veteranen. Seit dreißig Jahren läuft es für ihn nicht mehr gut; er lebt hin und wieder in Sozialwohnungen; er ist immer wieder abhängig von der Sucht. Jede Woche, wenn er an der örtlichen Tafel[6] seine Essensration abholt, muss er in der Schlange stehen – und in den letzten Jahren musste er länger warten, weil die Hälfte der Menschen vor ihm Somalier sind. Ich werde die Worte, die er gesagt hat, nicht wiederholen. Sie waren nicht angenehm, aber es ist leicht zu erkennen, wie er dorthin gekommen ist. Für ihn ist es leicht, Einwanderung als Schuldigen auszumachen.

Sie schlagen vor, dass Rassismus eine Sache ist, die sich möglicherweise weniger verändert hat, als die Leute zugeben möchten.

In den Vereinigten Staaten herrscht schrecklicher Rassismus, der weder geleugnet noch gemildert werden kann. Was jedoch vergessen wird, ist, dass die fortschrittlichsten Städte oft die am stärksten getrennten Städte sind. Wir neigen dazu, uns auf die hässlichen Vorfälle von Rassismus zu konzentrieren, die in der weißen Arbeiterklasse passieren, und ignorieren den Rassismus der Eliten, der weniger offenkundig ist, weil er strukturell ist. Es geht um die Flächennutzungs- und Bebauungsvorschriften,, darum, wo die besten Schulen sind, wer eher verhaftet oder inhaftiert wird und wo es gute Arbeitsplätze gibt.

Mein Besuch in Milwaukee, einer Stadt, die bekannt ist für ihre fortschrittliche Politik, hat mir das gezeigt. Historisch gesehen war die afroamerikanische Gemeinschaft absichtlich auf ein winziges Viertel der Stadt beschränkt, und sie konzentriert sich auch heute noch größtenteils dort. Die meisten Afroamerikaner kamen in den 1940er und 50er Jahren aus demselben Teil von Mississippi hierher. Ich habe viel Zeit mit den älteren Mitgliedern dieser Bevölkerungsgruppe verbracht, die im segregierten Süden aufgewachsen waren und dann nach Norden gezogen waren. Sie sagten mir immer wieder: „Der Rassismus hier ist nicht besser als dort.“ Milwaukee wählte bereits vor einem Jahrhundert Sozialisten in den US-Kongress. Aber diese Männer sagten mir: „Sehen Sie, der Rassismus ist hier anders. Der Rassismus im Süden war sehr offen und direkt. Hier geschieht er hinter Ihrem Rücken – sie reden nur schön, aber sie tun es nicht.“ In ihren Augen waren sie immer noch auf Nebenjobs und ein Nebenviertel beschränkt, wobei hohe Barrieren die jungen Menschen an ihrem Platz hielten.

Eine Taglöhnerin in Selma, Alabama

Einer der eindringlichsten Abschnitte Ihres Buches beschreibt Selma, Alabama, das vor allem für seine Rolle in der Bürgerrechtsbewegung bekannt ist. Sie schreiben, wie Sie wunderschön erhaltene historische Denkmäler der Selma-Märsche von 1964 vorfanden, umgeben von heruntergekommenen Wohnprojekten.

Ich liebe Selma – die Leute dort waren sehr herzlich zu mir. Aber sie sind nicht glücklich. Es gibt schöne Teile von Selma, aber sie sind klein und zurückhaltend. Die Realität für die meisten Menschen dort, für die meisten Afroamerikaner, ist Entmündigung, nicht nur rechtlicher, sondern auch wirtschaftlicher Art. An allen Orten, die ich besuchte, habe ich noch nie Menschen gesehen, die so offen Schusswaffen trugen oder so offen und lässig mit Drogen handelten wie in Selma.

Unter den Menschen dort herrscht eine Wut, eine berechtigte Wut, und eine stille Bitterkeit und ein Zynismus darüber, ob politisches Handeln irgendetwas ändern kann. (Natürlich hat Alabama es den Schwarzen sehr leicht gemacht, nicht zu wählen – tatsächlich haben sie alles getan, um sie davon abzuhalten, zu wählen.) Die Realität von Selma heute legt nahe, dass die Bürgerrechtssiege der 1960er Jahre weitgehend symbolischer Natur waren. Es muss noch viel mehr getan werden.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie den Menschen zunächst helfen wollten, dann jedoch gelernt haben, dass Sie sie zuerst verstehen müssen. Aber wie hilft man jemandem, der in einem negativen Muster gefangen zu sein scheint?

Ich denke, das Beste, was man tun kann, ist, für Momente der Würde zu sorgen – ihnen zuzuhören und sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Wenn jemand eine saubere Mahlzeit braucht, geben Sie ihm eine saubere Mahlzeit; Wenn jemand ins Krankenhaus muss, bringen Sie ihn hin.

Ich werde oft gefragt: „Nun, in meiner Nähe ist ein Obdachloser. Was soll ich machen?” Behandeln Sie ihn oder sie einfach wie einen normalen Menschen. Setzen Sie sich hin und reden Sie mit ihr oder ihm. Laden Sie sie wirklich zum Kaffee ein. Wenn Sie gemeinsame Interessen haben, sprechen Sie darüber. Seien Sie nicht vorgetäuscht freundlich.

Eines der Dinge, die ich gelernt habe, ist, jeden zu umarmen. Es ist mir egal, wie schmutzig sie sind – ich habe Menschen umarmt, die seit zwei oder drei Monaten nicht gebadet haben. Es ist ein Zeichen dafür, dass Sie bereit sind, sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Sie sollten jeden mit Würde behandeln, aber insbesondere für Menschen, die an der Schwelle stehen, ist das vielleicht das Wichtigste.

Gehört dazu auch, Bettlern Geld zu geben?[7]

Ja. Ich habe immer einen Fünf-Dollar-Schein in meiner Tasche – Leute, die betteln, schauen mich oft komisch an, weil ich tausend Dollar aus meiner Brieftasche herausziehe, alles in Fünfer-Scheinen. Die meisten Drogen kosten neun Dollar, also gebe ich weniger. Wenn ich jemandem fünf Dollar gebe und er vier Dollar mehr verlangt, weiß ich genau, was los ist. Vielleicht lade ich sie zu McDonald’s ein und spendiere ihnen eine Mahlzeit.

Was hoffen Sie, was die Leute tun werden, nachdem sie Ihr Buch gelesen haben?

Schauen Sie sich an, was über materielle Dinge hinaus wertvoll ist. Viele Menschen finden die Welt schrecklich, aber es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt als jetzt, um ein Leben jenseits des Kapitalismus zu gestalten.

In Hunts Point lernte ich eine Süchtige kennen – sie hieß Millie. Sie starb. Das weiß ich nur, weil sie verschwunden ist und ich mehrere Wochen damit verbracht habe, sie aufzuspüren. Wenn man in New York City ohne Papiere oder Ausweis stirbt, wird man nach Hart Island geschickt, wo eine Million Leichen begraben sind. Sie werden in eine Sperrholzkiste gesteckt, in einen Graben gesteckt und von Gefängnisinsassen von Rikers Island begraben. Grundsätzlich ist es nicht gestattet, die Gräber zu besuchen.

Als ich schließlich erfuhr, dass Millie tot war und wo sie begraben lag, kam ich zum Nachdenken. Es gibt ein Sprichwort: „Du stirbst nicht wirklich, bis die Leute aufhören, über dich zu reden.“ Wenn das wahr ist und Sie auf Hart Island in einer Sperrholzkiste begraben sind und es keine Möglichkeit gibt, das Grab zu besuchen, werden Sie viel schneller sterben. Die Erinnerung an Sie wird einfach verschwinden.

Also half ich schließlich dabei, Millies Leiche zu exhumieren und ordnungsgemäß zu begraben. Ich hab mich darauf eingelassen und dachte: „Als Atheist, warum mache ich das? Wen kümmert es, wo du begraben bist? Du bist tot.” Aber diese symbolische Aktion war für Millies Straßenfamilie von großer Bedeutung. Es gab eine Gedenkstätte, die man besichtigen konnte. Es gab einen Grabstein. Ihre Erinnerung würde noch ein wenig in Erinnerung bleiben.

Machen Sie aus Armut keinen Fetisch. Aber seien Sie etwas eher bereit, in Gegenden zu gehen, in die “man” eigentlich nicht geht. Nehmen Sie sich Zeit, den Menschen zuzuhören. Schenken Sie ihnen Respekt.


Das englische Original dieses Artikels erschien  im Juli 2019 im Plough-Magazin[8], der Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft. Deutsche Übersetzung und Fußnoten von Wolf Paul mit Erlaubnis von Plough.

Die Bruderhof-Gemeinschaft entstand im Deutschland der Zwischenkriegszeit.  Wegen ihrer pazifistischen Überzeugungen und ihrer Gegnerschaft zum Nazi-Regime aus Deutschland vertrieben, migrierten sie über Liechtenstein und England nach Paraguai und landeten schließlich in den USA. Inzwischen gibt es Niederlassungen auf jedem Kontinent außer Afrika, und seit 2019 (Retz) und 2021 (Furth/Maria Anzbach) auch in Österreich. Die Bruderhof-Gemeinschaft sieht sich in der Tradition der ersten Christen sowie der aus Habsburg-Österreich stammenden Täufer-Bewegung der Hutterer. In Österreich haben sich die Niederlassungen der Bruderhof-Gemeinschaft der Mennonitischen Freikirche angeschlossen und sind daher Teil der gesetzlich anerkannten Freikirchen in Österreich.

Der Autor, Chris Arnade, wuchs in Florida auf, studierte Physik an der John Hopkins University und arbeitete für eine Bank an der Wall Street, bevor er freischaffender Schriftsteller und Fotograf wurde.

 

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  1. Die South Bronx ist ein Stadtteil von New York City, unmittelbar nördlich von Manhattan, dem Zentrum der Finanzindustrie[]
  2. die Upper East Side ist das Nobelviertel von Manhattan[]
  3. Kaufhaus-Kette, deren Filialen wie auch die meisten Supermärkte teilweise rund um die Uhr geöffnet sind []
  4. Ladenkirchen, engl. Storefront Churches, sind Gemeinden, die in einem Geschäftslokal untergebracht sind, umgeben von anderen Geschäften, oder von leerstehenden, zugenagelten Geschäftslokalen.[]
  5. Community Colleges bieten “halb-universitäre” Lehrgänge an, oft mit dem Schwerpunkt auf beruflichen Qualifikationen. Im Gegensatz zu normalen Colleges und Unis dauern die Lehrgänge nur zwei statt vier Jahre und schließen mit einem Associate Diplom ab, statt mit einem Bachelor. Sie sind auch wesentlich billiger.[]
  6. Soziaeinrichtungen, oft von Kirchengemeinden betrieben, die an sozial Schwache Essen verteilen[]
  7. Es gibt die weit verbreitete Meinung, daß man Bettlern kein Geld geben soll, weil sie es nur für Alkohol und Drogen ausgeben würden, oder Teil einer sogenannten Bettler-Mafia sind.[]
  8. Plough erscheint auch auf Deutsch[]

Bibelübersetzungen

2023-07-12 Wolf Paul

Vor kurzem wurde der von mir sehr geschätzte Theologe Chad Bird auf Facebook gefragt, welche Bibelübersetzungen er als besonders gut und textgetreu empfehlen würde, und er empfahl die NASB, ESV, und CSV. Das sind natürlich alles englische Übersetzungen, und ich habe dann überlegt, welche deutsche Übersetzungen ich empfehlen würde.

Zuvor möchte ich aber einen Satz aus Chad Birds Antwort herausstellen und ganz dick unterstreichen:

“Jede Übersetzung ist natürlich unvollkommen, weil es unmöglich ist, eine Sprache zu 100% in eine andere Sprache zu übertragen.”

Das ist eine ganz wichtige Tatsache, die leider viel zu oft übersehen wird.

Als Pendant zur NASB, die mehr Wert auf  Übersetzungsgenauigkeit als auf Lesbarkeit legt, würde ich die Elberfelder Bibel empfehlen, wobei die revidierte Version (1985, neue Rechtschreibung 2006) bereits wesentlich lesbarer ist, als ihre Vorgänger. Als Pendant zu ESV und CSB finde ich drei deutsche Übersetzungen empfehlenswert: die revidierte Schlachterbibel (2000), die revidierte Lutherbibel (2017) und die revidierte Einheitsübersetzung.

In der Basisbibel der Deutschen Bibelgesellschaft ist zwar nicht ganz meins, aber mit ihr werden schließlich auch jene fündig, die gegen traditionelle Sprache allergisch sind.

Auf Englisch empfehle ich für eine zusätzliche Perspektive die CJB (Complete Jewish Bible) von David Stern;  von der gibt es auf Deutsch lediglich das Jüdische Neue Testament welches kombiniert mit der Heiligen Schrift, dem Tanach (Alten Testament) in der Übersetzung von Naftali Herz Tur-Sinai eine ähnliche Perspektive bietet.

Generell glaube ich, daß man mit den meisten Bibelübersetzungen besser fährt, als ohne Bibel. Aber es gibt ein paar Übersetzungen, die entweder sehr tendenziös sind (z.B. die Neue Welt Übersetzung der Zeugen Jehovas) oder aber von ihrer Ubersetzungsphilosophie her problematisch sind (z.B. Konkordantes Neues Testament, DaBhaR-Übersetzung)[1]

NACHTRAG:

Auf Facebook fand dann folgender Austausch zwischen mir (WNP) und Dagmar Gollatz (DG) statt:

DG: Wem empfehlen und wofür? Das macht doch einen Unterschied.

WNP: Wir reden hier von generellen Empfehlungen für den “normalen” Gläubigen und “normale” Bibellese/Bibelstudium. Daß es in speziellen Situationen auch andere Möglichkeiten gibt, ist unbestritten.

DG: Was meinst du in dem Zusammenhang mit normal? Ist das jemand deines Alters und deiner Sozialisation? Ist es die Jugendliche, die die Bibel zum ersten Mal liest? Ist es der mit Buddhismus liebäugeldnde beruflich stark belastete Mittdreißiger? Das 10jährige Kind das in frommer Familie aufwächst? Das theologisch interessierte Mitglied der Gemeindeleitung? Die junge Mutter, die den Bezug zur Gemeinde verloren hat, aber ihren Kindern doch biblische Geschichten erzählen will und vorher selbst nachlesen will. Der fromm erzogene Teenie, der die Nase voll hat von salbungsvollen Worten. Die aktive Pensionistin, die jetzt mit theologischer Literatur neben der Bibel ihr Verständnis vertiefen will?

WNP: “Normal” ist ein bisserl ein ungeschicktes Wort, wie wir auch der aktuellen politischen Diskussion entnehmen können.

Während ich nicht glaube, daß es die EINE richtige und allgemeingültige Übersetzung gibt (das liegt in der Natur von Sprache), und während ich durchaus eine gewisse Berechtigung für Zielgruppen-Übersetzungen sehe, gibt es doch einen Unterschied zwischen Übersetzung (translation) an einem Ende des Spektrums und Übertragung (paraphrase) am anderen Ende des Spektrums, und auf den Unterschied hab ich auch hingewiesen. Wie wichtig einem dieser Unterschied ist, hängt sicher auch davon ab, für wie wichtig man den tatsächlichen Wortlaut des biblischen Textes hält; wenn man ihn (wie ich) für wichtig hält, dann bevorzugt man möglichst wortgetreue Übersetzungen gegenüber freieren Übersetzungen und Übertragungen.

Ich habe keinen Zweifel, daß Menschen auch durch Übertragungen zu einem lebendigen Glauben an Jesus finden können; ich bin aber auch davon überzeugt, daß sowohl jugendliche Bibel-Anfänger ebenso wie Kinder und Jugendliche aus einem christlichen Umfeld, sowohl beruflich stark belastete Männer als auch alleinerziehende Mütter, aktive Pensionisten und Pensionisten ebenso wie alle anderen, der Deutsch lesen, die von mir empfohlenen Übersetzungen lesen und verstehen können, wenn sie offen sind für Gottes Reden. Und wenn sie das nicht sind, werden sie auch mit der Volxbibel nicht weiterkommen.

 

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  1. Diese Übersetzungen treiben die Worttreue so weit, daß sie jedes Wort des Urtexts durch jeweils ein Wort der Zielsprache übersetzen wollen. Das offenbart ein mangelndes Verständnis davon, wie Sprache funktioniert, und daß man eine Sprache nie zu 100% in eine andere Sprache übersetzen kann. Der Übersetzer der DaBhaR versucht das zu kompensieren, indem er einfach Wörter erfindet, was am Sinn einer Übersetzung vorbeigeht.[]

Ein interessantes Video zu einem wichtigen Thema

2023-07-05 Wolf Paul

Als Christ, der in der Bibel die Selbstoffenbarung Gottes sieht, bin ich überzeugt davon, daß Sex nur in der lebenslangen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, und nur wenn beide es wollen, optimal ist. Alles andere widerspricht der Schöpfungsordnung Gottes, ist daher sub-optimal und bringt nur Probleme mit sich.

Aber auch außerhalb des von der Bibel vorgegebenen Rahmens gibt es Einschränkungen, die teils allgemein akzeptiert und teils sehr umstritten sind. Die wenigsten Menschen finden z.B. Sex mit Kindern oder mit Tieren akzeptabel, und die meisten würden zustimmen, daß jede Form von sexuellem Kontakt nur dann erlaubt ist, wenn es beide wollen — sogenannter konsensualer Sex.

Dieses Video illustriert eine leider immer noch (vor allem unter Männern) weit verbreitete Meinung:

Daß nämlich die Zustimmung einer Frau nicht ausdrücklich erteilt werden muß, sondern von bestimmten Signalen abgeleitet werden kann. Eine Frau, die sich sexy oder sehr leicht bekleidet, oder sich an bestimmten Orten aufhält, oder die einem Mann scheinbar bestimmte Blicke zuwirft, oder die auch nicht ausdrücklich sagt, daß sie nicht belästigt werden will, die will ja sexuell angegangen werden, die drückt ja damit Zustimmung aus.

Wie der Vergleich mit einem Mann, der angeblich einen Überfall provoziert hat, weil er gut gekleidet und offenbar wohlhabend unterwegs war, klar macht, ist das absoluter Schwachsinn. Konsens besteht nur dann, wen er ausdrücklich ausgesprochen wird, selbst zwischen Eheleuten.

Man kann also Frauen, die sexuell belästigt oder gar vergewaltigt wurden, keine gewisse Mitschuld zuweisen, weil sie (nach welchen Standards auch immer) zu aufreizend gekleidet war, freundlich gelächelt hat, oder sich z.B. spät nachts an gewissen Oten aufgehalten hat. Wenn sich ein Mann nicht beherrscht, und stattdessen seinem Sexualtrieb nachgibt, mit einer Frau, die das nicht ausdrücklich will, ist das ausschließlich seine Schuld.

Andererseits leben wir in einer gefallenen Welt, d.h. in einer Welt, wo sich die meisten von uns nicht immer so verhalten, wie wir sollten, und genauso wie es Menschen gibt, die ihren Neid nicht beherrschen und daher rauben, einbrechen und stehlen (weshalb wir z.B. unsere Wohnungs- und Autotüren verschließen und sogar oft mit Sicherheitsanlagen zu schützen versuchen), gibt es auch Menschen, die ihren Sexualtrieb nicht beherrschen (wollen oder können, ist egal) und daher sexuell übergriffig werden. Das ist natürlich eindeutig ihre Schuld, und “das Kleid war zu kurz” ist genausowenig eine Entschuldigung, wie “die Haustür war offen.”

Aber genauso, wie ein kluger Mensch seine Wohnung abschließt, bevor er das Haus verläßt, paßt ein kluger Mensch auch sein Aussehen und seine Kleidung an die realen Gegebenheiten an, und spaziert z.B. nicht im Minirock oder im Armani-Anzug durch den nächtlichen Prater.

Wenn man darauf hinweist, wird das sehr schnell als Verteidigung der Täter interpretiert — als “Enabling“, wie das englische Modewort lautet. Aber das ist genauso unlogisch, wie das Zusperren der Wohnungstür als Verteidigung bzw Enabling von Einbrechern zu bezeichnen.

Als meine Tochter jünger war, war ich als Vater natürlich um ihre Sicherheit besorgt und habe ihr daher entsprechende Ratschläge gegeben, was Kleidung und gewisse Stadtteile, vor allem nachts, angeht. Wildfremde Männer zu erziehen war zu diesem Zeitpunkt nicht mein Fokus und ist auch nicht meine Aufgabe. Ich wollte einfach, daß sie sicher nach Hause kommt; eine Grabsteininschrift “Sie hatte das Recht, so angezogen nachts durch den Prater zu laufen” hätte sie mir und ihrer Mutter im schlimmsten Fall nicht wiedergebracht, genausowenig wie die Inschrift “Er hatte Vorrang” auf dem Grabstein einer Verkehropfers.

Manchmal ist es weiser, nicht alles zu tun, was man tun darf. Um nocheinmal die Bibel zu zitieren: Mir ist alles erlaubt, aber nicht alles tut mir gut.

Gedanken über die Unruhen in Frankreich und ihre Ursachen

2023-07-02 Wolf Paul

Frankreich wurde in den letzten Tagen von Ausschreitungen und Unruhen erschüttert, die infolge der Tötung des 17-jährigen Nahel Merbouz bei einer Verkehrskontrolle ausgebrochen sind.

Ich billige die Ausschreitungen und Gewalt der Demonstranten nicht (und Nahels Großmutter stimmt zu), aber ich kann nicht leugnen, dass ich eine gewisse Sympathie für die überwiegend jungen arabischen und schwarzen Menschen in Städten wie Paris habe, die sich schon lange über Polizeidiskriminierung beschweren. Da ihre Beschwerden von den Behörden im Grunde genommen ignoriert werden (ein Vorwurf, den die UN bestätigt hat), können die Politiker nicht die Verantwortung für die Schaffung der Umstände, die zu diesen Ausschreitungen führen, entkommen.

Jetzt beschuldigen französische Politiker, einschließlich Präsident Macron, die sozialen Medien, die aktuellen Ausschreitungen und Unruhen anzufachen.

Es scheint, dass sie sich auf die weit verbreitete Verteilung von Videos beziehen, die über TikTok, Snapchat, Instagram und andere Plattformen verbreitet werden und Polizeidiskriminierung und -brutalität gegenüber nicht-weißen Bürgern dokumentieren, wie das Video, das die Behauptung des Polizeibeamten Florian M., er habe Nahel aus Notwehr erschossen, als Lüge entlarvt; es zeigt Nahel, wie er flieht, anstatt die Beamten anzugreifen, indem er auf sie zufährt.

Nahel war natürlich nicht unschuldig; aber in unseren Gesellschaften gelten Fahren ohne Führerschein und Nichtanhalten bei einer Verkehrskontrolle nicht als Verbrechen, die die Todesstrafe verdienen.

Dass Herr Macron und andere die Ausschreitungen und die weite Verbreitung solcher Videos offenbar problematischer finden als das, was diese Videos zeigen, spricht Bände.

Florian M. wurde wegen vorsätzlichen Tötung angeklagt; wenn er freigesprochen oder wegen eines geringeren Vergehens verurteilt werden sollte, rechnen Sie mit weiteren Ausschreitungen.

Zweifellos hat Frankreich, so wie andere europäische Länder, einschließlich meines eigenen auch, ein massives Problem mit “Ausländern”, d.h. Menschen aus verschiedenen Kulturen, snd ich lasse keines davon aus der Verantwortung, wenn es darum geht, fair und gerecht mit ihnen umzugehen. Aber Frankreichs Problem, im Gegensatz zu Österreichs, ist hausgemacht; es ist das Ergebnis von Frankreichs kolonialer Vergangenheit. Es sind sozusagen die Sünden der Väter, die auf die Kinder übertragen werden. Alle diese Menschen aus Nord- und Schwarzafrika zu deportieren, einzusperren, oder sonst irgendwi loszuwerden, werden fehlschlagen: der “ethnisch reine Nationalstaat” ist ein unrealistisches Hirngespinst, und wenn die Franzosen, von den obersten Politikern bis hin zu den gewöhnlichen Bürgern, nicht lernen, friedlich mit allen Ethnien und Kulturen in ihrem Land zusammenzuleben, befürchte ich, dass wir in der Zukunft noch mehr solcher Szenen sehen werden.

Ratschläge zum Beten

2023-06-26 Wolf Paul

Chad Bird[1] gibt folgende Ratschläge zum Beten:

Viele von uns sind wahrscheinlich mit dem Ausdruck „Herr, lehre uns beten...“ aus Lukas 11 vertraut. Was uns möglicherweise weniger bekannt ist, ist der Rest des Satzes: „…wie Johannes seine Jüngern gelehrt hat.“

Wie Johannes seine Jüngern gelehrt hat. Welche Auswirkungen hat das? Sowohl Johannes als auch Jesus hatten Jünger, die von sich aus nicht wussten, wie man betet. Oder vielleicht wollten sie ihr Verständnis und/oder ihre Praxis des Gebets vertiefen. Oder sie suchten nach konkreter Anleitung. Oder sie wollten die genauen Worte wissen, die man sagen sollte.

So oder so, Beten war nichts, was ihnen natürlich kam, wie Essen, Trinken und Schlafen.

Gebet, wie jede Sprache, will erlernt werden.

Jesus gab seinen Jüngern das Vater Unser. Dieses Gebet fasst im Grunde das gesamte Buch der Psalmen in sieben “Bitten” oder Anliegen zusammen. Betet die Psalmen und ihr werdet ständig Echos des Vater Unsers vernehmen.

Hier sind ein paar weitere Ideen, wie man mit unserem Herrn sprechen kann:

1. Wiederhole mehrmals am Tag ein kurzes Gebet und konzentriere dich jedes Mal auf ein anderes Wort. Mein Favorit ist „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, eines Sünders“ (das sogenannte Jesusgebet). Manchmal nenne ich auch einfach die Namen von Menschen, an die ich denke, und sage: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über ________.“

2. Beim Vater Unser kannst du entweder das gesamte Gebet beten oder eine oder mehrere Bitten auswählen und sie ausführlicher behandeln. Zum Beispiel: „Unser Vater im Himmel, danke, dass du mich zu deinem Sohn/deiner Tochter gemacht hast, dass du mein Vater bist, dass du mich in deine Familie aufgenommen und mir deinen Namen gegeben hast, usw.“

3. Mein bester Vorschlag ist, die Psalmen der Reihe nach zu beten. Der Vorteil, alle Psalmen immer wieder zu beten, anstatt nur diejenigen auszuwählen, die man gerne beten möchte, besteht darin, dass der volle Umfang der Psalmen deine Gebete formt. Auf gewisse Weise beten sie dich, anstatt dass du sie betest. Diese Worte von Gott werden zu deinen Worten zu Gott.

4. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, andere Worte der Schrift in Gebete umzuwandeln. Es ist sehr einfach. Zum Beispiel: „Im Anfang hast du, o Gott, Himmel und Erde erschaffen. Lob sei dir für das Geschenk dieser Welt, meines Körpers und meiner Seele, meiner Familie, meines Geschäfts, denn sie alle sind ein Geschenk von dir.“ Oder: „Jesus, du hast uns, die wir müde und beladen sind, aufgefordert, zu dir zu kommen. Gib mir Ruhe. Lege dein leichtes Joch auf mich. Hilf mir, von dir zu lernen.“

Mir gefällt auch das, was von Makarios, einem ägyptischen Priester und Mönch des 4. Jahrhunderts, überliefert ist: Abba Makarios wurde gefragt: „Wie sollte man beten?“ Der alte Mann antwortete: „Es ist überhaupt nicht nötig, lange Reden zu halten; es genügt, die Hände auszustrecken und zu sagen: ‚Herr, wie du willst und wie du es weißt, habe Erbarmen.‘ Und wenn der Kampf heftiger wird, sag: ‚Herr, hilf!‘ Er weiß sehr gut, was wir brauchen, und er zeigt uns seine Barmherzigkeit.“

Noch eine Anmerkung von Wolf zu den Psalmen:

Viele davon kann ich nicht beten, so wie wir „Beten“ verstehen. Aber ich kann durch die Psalmen lesen, und wo sie in meine Situation hineinsprechen, werden sie zu meinen Gebeten; auf jeden Fall aber sind sie Gottes Wort und formen meine Gedanken.


Das englische Original dieses Beitrags ist am 25. Juni 2023 auf Chad Birds Facebook-Timeline erschienen. Computer-gestützte Übersetzung von Wolf Paul.

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  1. Chad Bird ist lutherischer Pastor, Theologe und Professor für Altes Testament und Hebräisch. Er hat für viele christliche Zeitschriften geschrieben und mehrere Bücher verfaßt.[]