Faktencheck: Biden behauptet, die Hamas vertrete nicht die Palästinenser. Stimmt das?

Wolf Paul, 2023-10-24

Gastbeitrag von Ryan Jones[1], Israel Heute[2]

US-Präsident Joe Biden unterstützt nicht nur Israel, sondern steht auch an der Spitze einer Kampagne westlicher Politiker und Medien, die alle davon überzeugen wollen, dass die Hamas nicht die palästinensische Öffentlichkeit im Allgemeinen repräsentiert.

Biden und andere versuchen, ein Bild der Hamas als isolierte Randbewegung zu zeichnen, die im Gegensatz zu den „friedlicheren” Tendenzen der Mehrheit der Palästinenser steht. Aber ist das wirklich so?

Auf welche Beweise stützen Biden und andere diese Einschätzung? Sicherlich nicht auf Umfragen in der palästinensischen Öffentlichkeit oder darauf, was die palästinensischen Massen, die auf die Straße gehen, skandieren.

Und wenn Biden zu dem Schluss kommt, die Massen von Israelis, die vor diesem Krieg jede Woche in Tel Aviv auf die Straße gingen, um gegen die Justizreform zu protestieren, repräsentierten die israelische Öffentlichkeit im Allgemeinen, dann müssen wir das Gleiche auch für die Palästinenser annehmen.

Was also sagen uns die Palästinenser?

Am Freitagmorgen veröffentlichte die Palästinensische Autonomiebehörde von Mahmud Abbas, mit dem sich Biden in dieser Woche zu treffen versuchte, ein offizielles Regierungsdokument, in dem die Moscheen in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgefordert werden, Predigten zu halten, in denen zur Vernichtung der Juden aufgerufen wird.

In dem Dokument wird in Bezug auf den Gaza-Krieg betont, dass „unser palästinensisches Volk keine weiße Fahne hissen kann, solange die Besatzung [sic] nicht beseitigt und ein unabhängiger palästinensischer Staat mit Jerusalem als Hauptstadt errichtet ist”.

Als die PA davon sprach, das palästinensische Volk könne sich nicht ergeben, machte sie keinen Unterschied zwischen der Hamas und dem Rest der palästinensischen Gesellschaft.

Mehr noch, die Regierung Abbas nahm in das offizielle Dokument die alte antisemitische islamische Referenz (aus dem Hadith) auf:

„Die Stunde wird erst kommen, wenn die Muslime gegen die Juden kämpfen und die Muslime sie töten, bis der Jude sich hinter einem Stein oder einem Baum versteckt und der Stein oder der Baum sagt: ‘O Muslim, o Diener Allahs, hinter mir ist ein Jude, komm und töte ihn.’”

Die israelische Organisation Regavim nannte das Dokument eine klare Kriegserklärung der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Sollten Abbas und sein Regime jedoch gehofft haben, mit einer Anlehnung an die Hamas zu punkten, so zeigen die Umfragedaten, dass sie damit gescheitert sind. Die palästinensische Öffentlichkeit würde es immer noch vorziehen, von der Hamas regiert zu werden.

Palestinian Media Watch berichtete über große palästinensische Demonstrationen in Ramallah, Hebron und Nablus am Mittwoch, bei denen die Massen skandierten: „Wir wollen Hamas!” und „Das Volk will [Abbas] stürzen!”

PMW weist auch darauf hin, dass die jüngsten Wahlen der Studentenvereinigungen an der Birzeit-Universität in Ramallah und der An-Najah-Universität in Nablus beide von der Hamas gewonnen wurden.

Und eine Umfrage des FIKRA-Forums des Washingtoner Instituts für Nahostpolitik vom Juli ergab, dass 57 % der Bewohner des Gazastreifens zumindest eine einigermaßen positive Meinung von der Hamas haben – ebenso wie ähnliche Prozentsätze der Palästinenser im Westjordanland (52 %) und in Ostjerusalem (64 %).

Mit anderen Worten: Wenn heute Wahlen abgehalten würden, würde die Hamas gewinnen. Aus diesem Grund wurden seit 2006 keine Wahlen mehr abgehalten, und Abbas befindet sich nun im 18. Jahr seiner vierjährigen Amtszeit.

Der ehemalige Premierminister Naftali Bennett erklärte am Donnerstag, die Israelis müssten einen klaren Kopf bewahren, auch wenn die internationale Gemeinschaft es vorzieht, die Augen zu schließen und die Ohren vor der Wahrheit zu verschließen.

Bennett tweetete:

“Die Wahrheit muss gesagt werden:

Die meisten Bewohner des Gazastreifens unterstützen die Hamas, und viele von ihnen unterstützen mit Begeisterung den Mord an unschuldigen Juden.

Ich habe oft und in letzter Zeit von verschiedenen führenden Politikern der Welt die Behauptung gehört, die Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens werde von der Hamas gefangen gehalten und sei im Allgemeinen friedliebend.

Das ist einfach nicht wahr.

Die Mehrheit der Bevölkerung im Gazastreifen unterstützt die Hamas und ihre Mission, Israel zu zerstören.“

“Freunde,

die Hamas ist auf die breite Unterstützung der Bewohner des Gazastreifens angewiesen.

Ohne diese Unterstützung könnte die Hamas nicht existieren.

Das ist die bittere Realität.

Daraus sollte man nicht schließen, dass Israel darauf abzielen wird, Zivilisten zu verletzen.

Das ist nicht unser Weg.

Aber wir dürfen uns nicht selbst belügen.

Ihr müsst die Wahrheit kennen.”

Es stimmt, dass die Hamas nicht alle Palästinenser vertritt. Wir kennen persönlich einige palästinensische Araber, die von der Hamas angewidert sind und nicht Israel, sondern die Terrorgruppe für all ihre Probleme verantwortlich machen.

Aber die traurige Tatsache ist, dass sie in der Minderheit sind.

Die Hamas ist beliebt und mächtig, weil die palästinensische Öffentlichkeit sie dazu gemacht hat. Die islamistische Gruppe hätte nie zu dem werden können, was sie heute ist, wenn sie nicht auf fruchtbaren Boden gestoßen wäre.

Vor siebzehn Jahren stimmte die palästinensische Öffentlichkeit sogar für die Hamas und verschaffte ihr eine solide Mehrheit im palästinensischen Parlament. Es stimmt zwar, dass die Hälfte der heutigen Palästinenser damals entweder nicht lebte oder nicht wählen konnte. Aber wie die oben erwähnten Umfragedaten, Universitätswahlen und Massendemonstrationen zeigen, ist die nächste Generation extremer als ihre Eltern.

Leider ist dies ein Problem, das wahrscheinlich auch mit der militärischen Niederlage der Hamas in Gaza nicht gelöst werden kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Ideologien, die die Kriegskampagne der Achsenmächte angeheizt hatten, auf der Bildungsebene ausgerottet werden, damit ein neues Deutschland und ein neues Japan entstehen konnten. Das wird hier nicht geschehen. Israel wird nicht versuchen, die Palästinenser umzuerziehen und die islamistische Ideologie aus ihren Schulen und Moscheen zu verbannen. Und wenn es das versuchen würde, würde die Welt es nicht zulassen.

Und so warten wir darauf, dass der nächst IS entsteht und der nächste Krieg ausbricht.

Anmerkung von Wolf Paul: 

Das gleiche Argument, anders ausgedrückt, lautet: Die Palästinenser in Gaza sind nicht für die Verbrechen der Hamas verantwortlich, sie sind vielmehr Opfer, Das könnte man sagen, wenn es in Gaza nennenswerten Widerstand gegen die Hamas gäbe, Bürger von Gaza aktiv dafür arbeiten, die Hamas von der Macht zu treiben. Sicherlich gibt es einige solche, aber man hört nicht viel von ihnen. Die schweigende (und teilweise jubelnde) Mehrheit in Gaza ist genauso für die Verbrechen der Hamas verantwortlich, wie die schweigende Mehrheit in Deutschland und Österreich an den Verbrechen der Nazizeit mitschuldig war. In der Opferrolle hat sich auch Österreich jahrzehntelang gefallen; erst fünfzig Jahre nach Kriegsende wurde die Mitschuld der Österreicher durch Franz Vranitzky – völlig zurecht und lange überfällig – anerkannt.


Dieser Artikel wurde ursprünglich bei Israel Heute veröffentlicht. Copyright ©2023 Israel Heute. Used by permission.

Das Titelbild von Wisam Hashlamoun zeigt Palästinenser in Hebron/Westjordanland, die zur Unterstützung der Hamas und ihrer Verbrechen gegen Israel demonstrieren.

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  1. Ryan Jones sagt über sich selbst, “Ryan Jones sagt über sich selbst: „Ich bin ein christlicher Nichtjude aus den Vereinigten Staaten, der seit 1996 in Israel lebt. Das war das Jahr, in dem meine örtliche Kirchengemeinde plötzlich erkannte, dass Israel immer noch existiert, und dass ihre biblische Geschichte und Mission nach wie vor andauern. In Jerusalem traf ich später meine Frau, eine in Israel geborene Christin mit niederländischen Wurzeln, deren Eltern aus den gleichen Gründen, nur einige Jahrzehnte früher, in den jüdischen Staat gekommen waren. Meine Frau und ich leben mit unseren sieben Kindern in der Stadt Tzur Hadassah im Großraum Jerusalem, und wir sind aktive Mitglieder in der örtlichen messianisch-jüdischen Gemeinde.“ Seit 2007 arbeitet Ryan als Schriftsteller und Redakteur für Israel Today. Zuvor hat er für eine Reihe anderer Online- und Printpublikationen geschrieben, die sich mit aktuellen Ereignissen im Nahen Osten beschäftigen.[]
  2. Israel Heute ist eine in Jerusalem ansässige Nachrichtenagentur, die objektive jüdische und neutestamentliche Perspektiven auf lokale Nachrichten bietet. Die im Jahr 1978 gegründete Agentur gab zunächst ein monatliches deutsches Nachrichtenmagazin heraus, dann kam die englischsprachige Ausgabe von Israel Today im Januar 1999 hinzu, um der wachsenden Nachfrage nach Nachrichten aus Israel für den englischsprachigen Markt gerecht zu werden. Über die Jahre hat Israel Heute Ausgaben auf Japanisch, Koreanisch, Niederländisch, Norwegisch und Chinesisch hinzugefügt. Israel Heute unterhält einen vielfältigen Mitarbeiterkreis lokaler Journalisten, die im Land leben und daher aus erster Hand berichten und eine Mischung aus Informationen, Interviews, Inspiration und dem täglichen Leben in Israel bieten. Israel Heute hat das Anliegen, eine maßgebliche Quelle für wahrheitsgemäße, ausgewogene, biblische Nachrichtenperspektiven über Israel zu sein; und zeitnahe Nachrichten direkt aus Jerusalem – dem Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit – zu liefern. Dies ist besonders wichtig in diesen Zeiten, in denen wir sehen, wie sich prophetische Ereignisse vor unseren Augen entfalten.[]

Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

Wolf Paul, 2023-10-23

Ein Gastbeitrag von Heinrich Arnold[1] von der Bruderhof-Gemeinschaft

Anmerkung: Dieser Artikel eines Leiters der Bruderhof-Gemeinschaft[2], Heinrich Arnold, ist ein wertvoller Gedankenanstoß und Beitrag zu unseren Überlegungen zum Themenkomplex Feindesliebe/Selbstverteidigung/staatliche Gewalt/Gerechter Krieg (bellum iustum), der durch die Ereignisse in Israel brandaktuell geworden ist.[3]

Das Evangelium des Friedens in einer Zeit des Terrors

Ein Bruderhof-Pastor über die Frage, wie Christen auf die Hamas-Attacke auf Israel und essen Folgen reagieren sollen.

von Heinrich Arnold
12. Oktober 2023

Am Freitag, den 6. Oktober 2023 strömten Scharen von Menschen in die Synagogen Israels, um das Ende von Sukkot und den Beginn von Simchat Tora, „Freude an der Tora“, zu feiern. Während dieser freudige Festtag am Samstag anbrach, wurde unvorstellbares Unheil entfesselt. Tausende von Raketen schlugen in dem Gaza-Streifen nahegelegenen Städten, auch in Tel Aviv und Jerusalem ein. Maskierte Bewaffnete durchbrachen eine der am stärksten überwachten Grenzen der Welt, töteten ganze Familien, die noch im Bett lagen, vergewaltigten Frauen und nahmen schätzungsweise 150 Geiseln gefangen.

Inzwischen hat jeder von den schockierenden Gräueltaten gehört, die die Hamas in der letzten Woche in Israel verübt hat. Wie sollen wir Christen angesichts dieses Grauens reagieren?

Das Neue Testament fordert uns auf, mit den Trauernden zu trauern (Röm. 12,14). In einer Zeit wie dieser müssen wir mit dem israelischen Volk trauern, insbesondere mit den Überlebenden des Hamas-Angriffs. Und wir müssen auch mit den Zivilisten in Gaza trauern, die bereits als Kollateralschaden unter der militärischen Reaktion leiden. Wir müssen für den Frieden beten. Dies hört sich an wie eine Floskel. Aber wenn wir an die Macht Gottes glauben, in die Geschichte einzugreifen, bleibt das Gebet enorm wichtig.

Was sollten wir außer trauern und beten noch tun?

Aus vielen Ecken werden von den führenden Politikern der Welt strenge Maßnahmen gefordert. Dies ist mehr als verständlich angesichts der tiefen Wut, Angst und Panik, die die Israelis empfinden, wenn sie auf so schreckliche Weise von einer Organisation verletzt werden, die sich verpflichtet hat, ihr Land auszurotten. Der Wunsch nach einer raschen und heftigen Reaktion ist der Kern unserer menschlichen Reaktion auf das Böse. Wie viele andere bin ich mehrmals nach Israel und ins Westjordanland gereist, zuletzt im vergangenen Jahr, und habe auf beiden Seiten des langjährigen Konflikts in der Region enge Freundschaften geschlossen. Viele dieser Freunde haben Jahre damit verbracht, sich für Frieden und Dialog einzusetzen, um den tiefsitzenden Hass in ihrer Gesellschaft zu überwinden. Als ich in den letzten Tagen mit einigen von ihnen gesprochen habe, schilderten sie ihren unglaublichen Schmerz. Sie erleben ein Ausmaß an Wut und Angst vor der Zukunft, dass ich mir nicht vorstellen kann.

In meiner Gemeinschaft, dem Bruderhof, hat uns der Terror unter anderem durch die Massaker in Kibbuz-Gemeinden wie Kfar Aza und Be’eri, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden, darunter auch Kleinkinder und Säuglinge, besonders aufgewühlt. Die Freundschaftsbande zwischen den Kibbuzim und dem Bruderhof als zwei Gemeinschaftsbewegungen reichen neunzig Jahre zurück. Obwohl der Bruderhof eine christliche Gemeinde ist und die Kibbuzim jüdisch sind, teilen wir das Engagement für eine gemeinschaftliche Lebensweise und haben gemeinsame historische Wurzeln. Im Herzen sind wir mit diesen Gemeinschaften und mit allen, die in den letzten Tagen so viel Leid erfahren haben, verbunden.

Als Seelsorger kann ich nicht sagen, welche Maßnahmen die betroffenen Regierungen ergreifen sollten. Ich habe auch keinen Vorschlag, wie andere Weltmächte reagieren sollten. Die Regierungschefs werden ohnehin tun, was sie für das Beste halten. Hoffen wir, dass ihre Entscheidungen in den kommenden Tagen und Wochen dem Wohlergehen und dem Schutz aller betroffenen Menschen dienen, insbesondere der Schwächsten.

Aber auch wenn ich nicht sagen kann, was die Regierungen tun sollen, so weiß ich doch, wozu die Nachfolger Jesu aufgerufen sind.

Was wir Christen auf jeden Fall tun können: das Evangelium des Friedens bezeugen. Unsere Berufung ist es, für den Frieden und für alle Opfer von Gewalt zu beten, uns zu weigern, selbst Gewalt zu unterstützen, und Friedensstifter zu sein. Als Mitglieder seiner weltweiten Kirche auf Erden sollen wir in der gegenwärtigen Welt eine Botschaft des zukünftigen Friedensreiches sein.
Jesus sagte: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden­“ (Mt 5,9). Er lehrte: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen‘. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.“ (Mt 5,43-45).

Wir müssen jeden Krieg beklagen; wir dürfen niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Wir Christen müssen gegen die unmenschlichen Angriffe auf Israel protestieren – die kaltblütigen Angriffe auf Zivilisten, die Vergewaltigungen, das Massaker an Kindern, Frauen und älteren Menschen. Wir müssen uns auch gegen den Entzug von Wasser und Strom für die Zivilbevölkerung und die Bombardierung von Wohngebieten aussprechen. Wir müssen jeden Krieg beklagen. Das ist unsere Pflicht; zu schweigen ist eine Sünde. Vor allem in Momenten, in denen die öffentliche Stimmung blutrünstig und rachsüchtig wird, dürfen wir niemals der Gewalt zujubeln, wie gerechtfertigt sie auch erscheinen mag.

Welche Kraft kann solch ein Übel überwinden? Wieder lehrt uns Jesus die Antwort: Nur die Liebe kann wirklich über Feinde siegen.

Der Apostel Paulus griff die Lehre Jesu über das Friedenstiften auf und schrieb in seinem Brief an die Römer: „Ihr Lieben, rächt euch nicht, sondern überlasst es dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.‘ Ganz im Gegenteil: Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, wirst du brennende Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Wir können allzu leicht die Lehre Jesu über die Feindesliebe aus den Augen verlieren. Es ist verlockend, stattdessen nach Antworten zu greifen, die „realistischer“ erscheinen. Harte Antworten auf Feindseligkeit sind jedoch keine Garantie für Sicherheit; in der Tat lassen sich leicht Beispiele dafür finden, wie sie nach hinten losgehen können. Wir Christen glauben jedenfalls, dass der Weg Jesu, Frieden zu stiften, die einzige wirklich realistische Antwort auf das Böse ist.

Wir, die wir uns zu Christus bekennen, müssen zuversichtlich sein Gebot bezeugen, zu lieben und nicht auf Waffengewalt zu vertrauen. Wir müssen an seiner Verheißung festhalten, dass sein Friedensreich kommen wird und dass darin die Hoffnung der Welt liegt. Das ist die Zukunft, die der Psalmist verheißt:

Kommt und seht, was der Herr getan hat …
Er lässt die Kriege aufhören
bis an die Enden der Erde.
Er zerbricht den Bogen und zerschmettert den Speer;
er verbrennt die Schilde mit Feuer.
Er sagt: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin;
Ich will hoch erhoben werden unter den Völkern,
Ich bin hoch erhaben auf der Erde.“

Der Herr, der Allmächtige, ist mit uns;
der Gott Jakobs ist unsere Festung.


Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Plough.com als The Gospel of Peace in a Time of Terror. Copyright ©2023 by Plough Quarterly. Diese Übersetzung von Aidan Manke erscheint hier mit freundlicher Genehmigung.

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  1. Heinrich Arnold ist Senior Pastor der Bruderhof -Gemeinschaft in den USA und weltweit. Heinrich ist ein Urenkel des Bruderhof-Gründers und ist ein Vater, Großvater, Lehrer in den Schulen des Bruderhofs, und Heilpraktiker. Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift des Bruderhofs, Plough Quarterly, und bringt jeden Sonntag eine Evangeliumsbotschaft auf seinem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/c/JHeinrichArnold/featured). Er wohnt mit seiner Frau und Familie auf dem Woodcrest Bruderhof (https://www.bruderhof.com/en/where-we-are/united-states/woodcrest). Twitter: @JHeinrichArnold (https://twitter.com/JHeinrichArnold[]
  2. Die Bruderhof-Gemeinschaft ist eine Bewegung in der Tradition der Täufer, die eine am Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde orientierte Gütergemeinschaft praktiziert. Ihre Entstehung geht unter anderem auf die Eheleute Eberhard und Emmy Arnold zurück, die 1920 in Hessen die erste Bruderhof-Gemeinschaft gründeten. Nach der Vertreibung durch die Nationalsozialisten 1937 fanden sie zunächst Zuflucht im Fürstentum Liechtenstein und später in England. Heute gibt es Niederlassungen der Bruderhöfer in Australien, Großbritannien, Paraguay, den Vereinigten Staaten, Deutschland und Österreich (in Retz und Stein/Furth) []
  3. Ich habe in den Tagen seit dem schrecklichen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zwei Beiträge hier auf dem Blog und viele weitere auf Facebook gepostet, in denen ich das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont habe. Wegen der unmenschlichen Strategie der Hamas, Terroreinrichtungen (die ein legitimes Ziel israelischer Angriffe sind) in Wohngebieten, Spitälern, Schulen, usw., unterzubringen, kommt es bei dieser legitimen Verteidigung zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung, und ich bleibe dabei: das ändert letztlich nichts an Israels Recht zu Selbstverteidigung.
    Ich weiß auch, daß es in der israelischen Armee (Israeli Defense Force, IDF) nicht wenige Menschen gibt, die an Jesus als den jüdischen Messias glauben. Ich weiß von einer solchen Familie, die fünf Kinder an der Front hat, drei eigene und zwei Schwiegerkinder, und nach meinem Verständnis des Neuen Testaments ist das legitim.
    Es gibt allerdings in der Kirche, der Gemeinde Jesu, von allem Anfang an, d.h. seit den Aposteln und frühen Kirchenväter, eine Tradition des Pazifismus, der Überzeugung, daß Jünger Jesu unter keinen Umständen zu irgendeiner Gewalt greifen sollen, sei es als Soldaten oder auch als Polizisten. Im Mittelalter ist diese Tradition etwas in der Versenkung verschwunden, und wurde dann, während der Reformationszeit, von den Täufern (oft als „Radikale Reformation“ oder als der dritte Flügel der Reformation, neben Lutheranern und Reformierten, bezeichnet) wieder entdeckt und aufgenommen. Heute lebt die Täuferbewegung in Form der Mennoniten, Amischen, und Hutterer weiter. Die Bruderhof-Gemeinschaft, die in der Zwischenkriegszeit des 20.Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist, steht ganz in dieser Tradition und war auch eine Weile sehr eng mit den Hutterern verbunden.
    Ich empfinde diese Tradition als sehr wertvoll, und vor allem heute als wichtiges Gegengewicht zu Strömungen in der Gemeinde Jesu, die staatlicher Gewalt zu kritiklos gegenüberstehen.[]

Gedanken zum aktuellen Krieg in Israel

Wolf Paul, 2023-10-16

  • Ich erwähne in meinen Kommentaren zu den aktuellen Ereignissen in Israel die biblischen Aussagen über das Land und Volk Israel kaum, und zwar ganz bewußt,mit Ausnahme der Aufforderung, für den Frieden Jerusalems zu beten. Denn erstens haben biblische Aussagen und göttliche Verheißungen in unserer sekularisierten Welt kein besonders großes Gewicht, zweitens beruft sich die Hamas ebenso auf göttliche Verheißungen “from the river to the sea“, zwar nicht aus dem Koran sondern aus anderen islamischen Quellen[1], und ich erwarte nicht wirklich, daß die sekularisierte Weltöffentlichkeit diese zwei, einander widersprechenden Ansprüche versteht und objektiv beurteilt (das schaffen ja, zu ihrer Schande, nicht einmal manche hochrangigen Vertreter christlicher Kirchen), und schließlich reicht meiner Meinung nach ein Blick auf die Geschichte dieses Landes, einschließlich der Umstände der Entstehung des Staates Israel im 20. Jahrhundert, durchaus aus, das Existenzrecht Israels und das Lebensrecht sowohl von Juden und Arabern sowie von anderen, kleineren Bevölkerungsgruppen “vom Fluß bis zum Meer” zu begründen und zu rechtfertigen.
  • Vor der Gründung des modernen Staates Israel, unter der Ägide der UNO, gab es bereits 1947 einen Plan, der die Aufteilung des Mandatsgebietes Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat vorsah, mit einem Sonderstatus für Jerusalem; dieser Plan wurde von den arabischen Staaten kategorisch abgelehnt, weshalb sie Israel unmittelbar nach dessen Unabhängigkeitserklärung 1948 angriffen. Ein Jahr später kam es zu einem Waffenstillstand, in dessen Gefolge der Gazastreifen von Ägypten und das Westjordanland von Jordanien annektiert wurden.

  • Die Gründung Israels durch die Staatengemeinschaft der UNO, mit Unterstützung vor allem von Großbritannien und USA, war vor allem von ihrem schlechten Gewissen getrieben, weil sie in den Jahren zuvor beim Holocaust weggeschaut und den Juden keine oder zu wenig Zuflucht und Hilfe angeboten hatten. Als unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel dieser von den arabischen Staaten angriffen wurde, haben die UNO und die westlichen Staaten wieder weggeschaut, statt den arabischen Staaten unmißverständlich klar zu machen, daß dies nicht toleriert wird. Umso verwerflicher ist es, wenn die UNO jetzt ihre Sorge um die Zivilbevölkerung von Gaza auf eine Weise ausdrückt, die Israel im Grunde genommen das Recht auf Selbstverteidigung abspricht.[2]

  • Nach dem, von Ägypten und anderen arabischen Staaten provozierten, Sechs-Tage-Krieg 1967, aus dem Israel unerwarteterweise siegreich hervorging, besetzte Israel das Westjordanland, den Gazastreifen und die Golanhöhen — dies läßt sich ohne jede Bezugnahme auf die biblischen Grenzen Israels, allein mit den legitimen Sicherheitsinteressen des Staates begründen und rechtfertigen.

  • Das Hauptproblem in all den Jahren seit der Gründung des Staates Israel ist die Weigerung gewisser arabischer Kreise, die Existenz eines Judenstaates in Palästina zu tolerieren; wobei man dazusagen muß, daß es in Regierungskreisen vieler Staaten hier ein Umdenken gegeben hat und etliche arabische Staaten inzwischen in normalen  Beziehungen zu Israel stehenDer Haupt-Kriegstreiber ist inzwischen nicht ein arabisches Land, sondern der fundamentalistisch-islamische Iran, der sowohl die Hizbollah im Libanon als auch die Hamas in Gaza finanziert.

  • Wenn man weit genug in der Geschichte zurückgeht und die Dinge ohne jeglichen religiösen Überlegungen betrachtet, dann haben die Juden (das Volk Israel) das Land zwischen Mittelmeer und Jordan vor ca. 3000 Jahren erobert, und Araber sind seit mehr als tausend Jahren dort ansässig (seit das Land unter osmanischer Herrschaft stand) — beide können daher das Recht für sich reklamieren, dort zu leben. Im Lauf der Geschichte hat das Land immer wieder den Besitzer gewechselt, meistens in Form der Eroberung durch den Sieger eines Krieges. So gesehen ist die Besetzung Gazas und des Westjordanlandes durch Israel (die ja ihrerseits erst ein paar Jahre zuvor durch Ägypten und Jordanien annektiert worden waren) im Gefolge des Sechs-Tage-Krieges nichts ungewöhnliches.

  • Im Jahr 2005 verließ Israel, als Teil von “Land gegen Frieden”-Überlegungen, den Gazastreifen und übergab ihn der Fatah-dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde als Vertreterin der Palästinenser. Zwei Jahre später vertrieb Hamas die Fatah, und benutzt den Gazastreifen seither als Basis, um Israel ständig und auf verschiedenste Weise anzugreifen. Das Ziel der Hamas und ihrer iranischen Geldgeber, Israel zu zerstören und die Juden umzubringen oder zumindest zu vertreiben, ist religiös motiviert (es entspringt ihrem Islam-Verständnis) und hat für sie einen wesentlich größeren Stellenwert als das Leben und Wohlergehen der Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

  • Ich bin nicht für den Krieg. Er bringt unvorstellbares Leiden über die Menschen. Aber angesichts eines Feindes, der sich so benimmt wie die Hamas am 7. Oktober 2023, und der nicht nur in seiner Charta das Existenzrecht Israels leugnet, sondern sich auch auf ein Hadith[3] beruft, das die Muslime aufruft, Juden abzuschlachten[4], kann ich die israelische Entscheidung, sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen, verstehen und nachvollziehen — auch wenn dies aufgrund der Strategien der Hamas zu zivilen Todesopfern führt.

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  1. Aus der Hamas-Charta von 1988: “Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass das Land Palästina ein islamisches Waqf ist, das für zukünftige muslimische Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht ist. Es, oder irgendein Teil davon, sollte nicht verschwendet werden: Es, oder irgendein Teil davon, sollte nicht aufgegeben werden. Weder ein einzelnes arabisches Land noch alle arabischen Länder, weder irgendein König oder Präsident, noch alle Könige und Präsidenten, weder irgendeine Organisation noch alle von ihnen, seien sie palästinensisch oder arabisch, besitzen das Recht dazu. Palästina ist ein islamisches Waqf-Land, das für muslimische Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht ist. Da dies so ist, wer könnte beanspruchen, das Recht zu haben, muslimische Generationen bis zum Tag des Gerichts zu vertreten?
    Dies ist das Gesetz, das das Land Palästina in der islamischen Sharia (Gesetz) regiert, und dasselbe gilt für jedes Land, das die Muslime mit Gewalt erobert haben, denn während der Zeiten der (islamischen) Eroberungen haben die Muslime diese Länder für muslimische Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht.
    Es geschah so: Als die Führer der islamischen Armeen Syrien und den Irak eroberten, schickten sie an den Kalifen der Muslime, Umar bin-el-Khatab, um seinen Rat bezüglich des eroberten Landes zu erbitten – ob sie es unter den Soldaten aufteilen sollten oder es den Besitzern überlassen sollten oder was? Nach Beratungen und Diskussionen zwischen dem Kalifen der Muslime, Omar bin-el-Khatab, und Gefährten des Propheten, Allah segne ihn und schenke ihm Heil, wurde entschieden, dass das Land seinen Besitzern überlassen werden sollte, die von seinen Früchten profitieren könnten. Was die eigentliche Eigentümerschaft des Landes und des Landes selbst betrifft, sollte es für muslimische Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht bleiben. Diejenigen, die sich auf dem Land befinden, sind nur dort, um von seinen Früchten zu profitieren. Dieses Waqf bleibt bestehen, solange Erde und Himmel existieren. Jedes Verfahren, das im Widerspruch zur islamischen Sharia steht, was Palästina betrifft, ist nichtig und unwirksam.”[]
  2. Da die Hamas seit ihrer Machtübernahme im Gazastreifen (2007) ihre Terror-Infrastruktur (Waffenlager, Kommandozentralen, Raketen-Abschußbasen, etc) systematisch in zivilen Wohngegenden, neben und sogar in Krankenhäusern, Schulen, und Kindergärten positioniert, sodaß es unmöglich ist, diese legitimen militärisch/terroristischen Ziele anzugreifen, ohne daß es zu massiven Opfern unter der Zivilbevölkerung kommt, wird Israel’s Möglichkeit der Selbstverteidigung stark eingeschränkt — vor allem, da ein Großteil der Weltpresse dabei mitspielt und bei israelischen Verteidigungsschlägen die zivilen, palästinensischen Opfer in ihrer Berichterstattung hervorhebt. Solche Terror-Einrichtungen finden sich übrigens auch in Schulen, die von der UNO betrieben werden — ohne daß man regelmäßige Proteste der Weltorganisation dagegen hört.[]
  3. Die Hadithe (Plural, Singular: Hadith) sind eine Sammlung von Überlieferungen, Aussprüchen und Handlungen des Propheten Mohammed und seiner Weggefährten. Die Bedeutung der Hadithe ergibt sich daraus, dass die Handlungs- oder Lebensweise (Sunna) Mohammeds neben dem Koran normativen Charakter haben.[]
  4. z.B. Sahih Muslim, 41:2922: “Abu Huraira reported Allah’s Messenger (may peace be upon him) as saying: The last hour would not come unless the Muslims will fight against the Jews and the Muslims would kill them until the Jews would hide themselves behind a stone or a tree and a stone or a tree would say: Muslim, or the servant of Allah, there is a Jew behind me; come and kill him; but the tree Gharqad would not say, for it is the tree of the Jews.” sowie andere[]

Traurige Kollateralschäden

Wolf Paul, 2023-10-10

Es ist eine traurige Wahrheit, daß ein Krieg nie nur die Bevölkerung das angegriffenen Landes oder Territoriums mit Tod und Zerstörung trifft, sondern immer auch die Bevölkerung des angreifenden Landes oder Territoriums. Das Kriegsvölkerrecht sollte das zwar so weit wie möglich verhindern, aber wenn die Angreifer ihre militärische (oder in diesem Fall, besser terroristische) Infrastruktur in, unter, und neben zivilen Einrichtungen wie Spitälern, Schulen, und Wohnblocks plazieren, wie das Hamas im Gazastreifen seit Jahren macht, dann leidet die Zivilbevölkerung, weil sich die Verteidiger dann nicht leisten können, darauf Rücksicht zu nehmen. [1]

Wie der britische Außenminister James Cleverly gestern sagte, die Hamas habe „die Notlage des palästinensischen Volkes aufgrund dieser terroristischen Aktionen, die sie gegen Kinder, gegen Zivilisten und gegen alte Menschen in Israel verübt hat, unermesslich verschlimmert. … Die Hamas verursacht Schmerz und Leid sowohl in Israel als auch in Gaza.“

Und das besonders perfide mit Gaza und Hamas ist die Tatsache, daß die obersten Führer der Hamas im komfortablen und sicheren Exil in Katar und Ägypten leben, und daher das Leid, das sie über ihr Volk gebracht haben, selbst nicht erleben.

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  1. Wobei man dazusagen muß, das Israel bis zum 6. Oktober  im allgemeinen die Bevölkerung vor Luftangriffen zu warnen versucht hat, damit sich die Menschen in Sicherheit bringen können, diese jedoch oft von Hamas-Terroristen daran gehindert und festgehalten wurden, weil zivile Opfer israelischer Angriffe ein probates Propagandamittel sind. Ich kann mir nicht vorstellen (und die Berichterstattung zeigt es auch), daß Israel diese Praxis auch nach diesem 7. Oktober aufrecht halten wird, und habe dafür auch ein gewisses Verständnis.[]

Der Große Austausch

Wolf Paul, 2023-09-13

Chad Bird:[1]

Hier ist der Vers,der für mich auf den Punkt bringt, worum es beim Christentum letztlich geht, was die Frohbotschaft des Christentums ist, die wir der Welt anbieten. Es handelt sich dabei um den letzten Vers von 2. Korinther 5:

Gott hat Ihn, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in Ihm Gerechtigkeit Gottes würden.

Das wird manchmal „der große Austausch“ genannt. Denn Jesus nimmt unsere Sünde auf Sich: Gott hat Ihn, der keine Sünde kannte, zu unserer Sünde, zu alldem, was uns von Gott trennt, gemacht. Das ist, wozu Jesus am Kreuz wurde. Er wurde der Sünder, Er wurde Sünde – unsere Sünde, meine Sünde, deine Sünde, die Sünde der ganzen Welt, der ganzen Menschheit – dazu wurde Jesus am Kreuz. Er war die ganze Menschheit reduziert auf eine Person, die ganze sündige Menschheit reduziert auf eine Person. Dazu wurde Jesus am Kreuz. Warum?

Damit wir in Ihm die Gerechtigkeit Gottes würden. Indem Er unsere Sünde auf sich genommen hat, gibt Er uns Seine Gerechtigkeit. Indem Er unseren Tod auf sich genommen hat, schenkt Er uns Sein Leben. Das ist der Große Austausch: Jesus wird zu all dem, was uns vom Vater trennt, damit wir in Jesus mit dem Vater versöhnt, zu Ihm gezogen werden.

Das ist die Frohbotschaft, die gute Nachricht. Das ist die beste Nachricht. Und sie richtet sich an dich, sie richtet sich an mich, sie richtet sich an die ganze Welt. Es gibt niemanden, für den Jesus nicht Sünde wurde, damit sie oder er in Ihm, durch den Glauben an Ihn, zur Gerechtigkeit Gottes würde.

 

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  1. Chad Bird ist Theologe bei 1517.org. Er hat als Pastor, Professer, und Gastlehrer für Altes Testament und Hebruaisch gedient. Er hat Master-Abschlüsse vom Concordia Theological Seminary und vom Hebrew Union College. Er hat Artikel geschrieben für Christianity Today, The Gospel Coalition, Modern Reformation, The Federalist, Lutheran Forum, und andere Zeitschriften und Webseiten. Er ist Autor einiger Bücher, einschließlich seines letzten, Limping with God: Jacob and the Old Testament Guide to Messy Discipleship („Hinkend mit Gott: Jakob und der alttestamentliche Leitfaden für chaotische Jüngerschaft“). Er ist auch Co-Moderator des populären Podcasts, 40 Minutes in the Old Testament („40 Minuten im Alten Testament“).[]

Gedanken zu Gottesdienst, Kirchenjahr, Tradition

Wolf Paul, 2023-09-01

Ausgehend von den interessanten Gedanken von Pfarrer i. R. Detlef Korsen zum Thema “Eventgottesdienste”, die wohl vor allem auf seinen Erfahrungen im norddeutschen evangelischen Umfeld basieren, habe ich mir meine eigenen Gedanken gemacht über die Situation in meinem österreichischen[1] freikirchlichen Umfeld – da gibt es nämlich ein ganz ähnliches Problem: Gottesdienste neigen dazu, mit zunehmender Größe der Gemeinde immer mehr den Charakter einer perfekt orchestrierten Bühnenshow anzunehmen (dies nicht nur in Österreich).

Wie in Pfr. Korsens Schilderung, sind auch in unseren Gemeinden die sehr traditionsbeladenen Feste Weihnachten und Ostern Anlässe für besondere Events, entweder am Feiertag selbst oder im Vorfeld desselben. Was mir dabei auffällt ist, daß sich diese Events oft mehr an den kulturellen Traditionen als am christlichen Charakter des Festes orientieren. Das scheint mir daran zu liegen, daß in unseren österreichischen freikirchlichen Kreisen das Kirchenjahr, aus dem diese Feiertage kommen und ihren christlichen Charakter beziehen, kaum Beachtung findet, sondern als “Tradition” abgetan wird. Es steht ja nicht direkt in der Bibel. Daher feiern wir an diesen Tagen nicht primär Geburt und Auferstehung Jesu, sondern nutzen das kulturelle Restbewußtsein dieser Bedeutungen als evangelistischen Aufhänger (was ja an sich durchaus lobenswert ist).

Allerdings hat das Kirchenjahr, als Ordnung des Jahres anhand der vergangenen Großtaten Gottes mit dem Ziel, uns diese zu vergegenwärtigen und uns bewußt zu machen, daß Gott auch heute noch wirkt, durchaus ein biblisches Vorbild: den Festkreislauf des jüdischen Volkes.[2] Dieser Festkreislauf basiert nicht nur auf der biblischen Offenbarung, sondern entspricht auch, wie eben auch das Kirchenjahr, dem menschlichen Bedürfnis, uns an wichtige Ereignisse in Feiern zu erinnern (z.B. Geburts- und Hochzeitstage).

Und es ist ja auch nicht so, daß wir Tradition generell ablehnen, sondern lediglich die Tradition der alten Kirche. Jede unserer Gemeinden hat ihre Tradition, oft geteilt mit anderen Gemeinden des gleichen Bundes oder Netzwerks. Wir lehnen ja größtenteils auch Liturgie ab, aber auch da nur die traditionell überlieferte altkirchliche Liturgie – denn jede Gemeinde hat ihre eigene Liturgie: meist laufen Gottesdienste Sonntag für Sonntag nach dem gleichen Schema ab, und die “freien” Gebete mancher Geschwister[3] klingen auch jeden Sonntag ziemlich gleich.

Wir berufen uns in der Ablehnung der altkirchlichen Tradition oft auf die Reformation und deren Grundsatz “sola Scriptura” – aber Martin Luther z.B. hat ja nicht die Tradition an sich abgelehnt, sondern den Versuch, diese zusätzlich zur Bibel (und teilweise im Widerspruch zur Bibel) als Maßstab für Lehre, Glauben, und Leben heranzuziehen.[4]

Ich persönlich sehe den zunehmenden Eventcharakter unserer Gottesdienste mit Bedauern, und würde einen von der Gemeinde im Gottesdienst bewußt als Vorbereitung auf die Geburt und Wiederkunft des Erlösers gefeierten Advent[5], sowie eine Fasten- und Passionszeit als Vorbereitung auf das Gedächtnis des Leidens und Sterbens sowie auf die Feier der Auferstehung Jesu, sehr begrüßen.

Das ganze erfordert jedenfalls noch mehr Nachdenken, und eine leichte Änderung in Bezug auf das Kirchenjahr ist ja Gott sei Dank zu beobachten.

 

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  1. Ich streiche das hervor, weil sich meiner Erfahrung nach die Situation in Österreich von der Situation in Deutschland und der Schweiz in einigen Aspekten unterscheidet. Durch die Jahrhunderte dauernde Dominanz des habsburgischen Katholizismus war bis vor wenigen Jahrzehnten die römisch-katholische Kirche die dominante Kirche, neben der protestantische Kirchen einschließlich der Lutherischen und Reformierten, ein Schattendasein führten. Freikirchen waren bis 2013 nicht einmal als Kirchen anerkannt und durften sich bis 1999 auch nicht als Vereine organisieren. Die Mehrzahl der österreichischen Freikirchen entstanden erst nach dem 2. Weltkrieg und waren die ersten Jahrzehnte von Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und Jugoslawien sowie von ehemals katholischen Konvertiten geprägt. Letztere standen allem, was irgendwie katholisch aussah, verständlicherweise sehr skeptisch und ablehnend gegenüber, was sich erst jetzt, wo die Gemeinden bereits von Mitgliedern in der vierten Generation bevölkert sind, langsam ändert. Auch die offene Unterstützung der Anerkennung der Freikirchen 2013 durch den katholischen Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn, hat viel zu einer Haltungsänderung beigetragen. []
  2. Daß die Kirche dabei, in ihrem zunehmenden Antijudaismus und der supersessionistischen Theologie (auch “Ersatzlehre“, die Kirche hat Israel ersetzt, ist das neue Israel), die biblischen Feste des Alten Bundes durch völlig neue, christliche Feste ersetzt hat, statt sie um diese zu ergänzen, ist meines Erachtens sehr traurig, und die Tatsache, daß das Feiern der jüdischen Feste und des Sabbats für zwangsbekehrte Juden durch die Staatsmacht als Handlanger der Kirche unter schwere Strafe gestellt wurde empfinde ich als absoluten Schandfleck der Kirchengeschichte.[]
  3. Wo es denn noch eine freie Gebetszeit gibt im Gottesdienstablauf, denn mit zunehmendem Eventcharakter verschwindet diese oft[]
  4. Allerdings gibt es in der “Schweizer” Reformation (Calvin, Zwingli, usw.), und auch in der “radikalen Reformation” des Täufertums, das Prinzip des “Regulativs des Gottesdienstes“. Dieses besagt, daß im christlichen Gottesdienst nur das legitim ist, was ausdrücklich in der Bibel geboten ist. Alles, was nicht direkt im Wort Gottes befohlen wird, ist demnach im Gottesdienst unzulässig. Manche dehnen das dann auf das gesamte kirchliche bzw. Gemeindeleben aus, wodurch dann auch traditionelle Feste verboten sind. Insofern sich Gemeinden (freikirchliche oder nicht) heute darauf berufen, muß man den meisten von ihnen vorwerfen, daß sie sich nur sehr selektiv daran halten.[]
  5. mit mehr Inhalt als das Anzünden der Adventkranzkerzen[]

Das G’frett mit dem Gendern

Wolf Paul, 2023-08-20

Es is scho a G’frett mit dem Gendern:

In einem sehr interessanten Artikel mit dem Titel “A Eitrige mit an Buggl” beschreibt der stellvertretende auto  touring Chefredakteur Alexander Fischer die sieben besten Würstelstände in Wien sowie die Tauglichkeit des Honda Civic Type R Heckflügels als Stehtischchen.

Aber was mir gleich in den ersten paar Absätzen aufgefallen ist:

Warum schreibt Herr Fischer zwar von den Leser:innen und Wiener:innen, nicht jedoch von den Veganer:innen, Bruncher:innen, und Nachtschwärmer:innen?
Und auch die Würstelmänner und die (deutschen) Touristen scheints nur männlich zu geben. Ist auto touring nur selektiv inklusiv? Werden sich da die Veganerinnen, Bruncherinnen, Nachtschwärmerinnen, Würstelfrauen und Touristinnen nicht ausgegrenzt und diskriminiert fühlen?

Nun: Ich finde die Veganer, Buncher, Nachtschwärmer und Touristen genauso wenig sexistisch oder diskriminierend wie der Mensch; das ist jeweils ein generisches Maskulinum, eine grammatische Form, die beide Geschlechter umfaßt.  [1]

Der Rat für deutsche Rechtschreibung (RdR), die Regulierungsinstitution der Rechtschreibung des Standardhochdeutschen für Deutschland, Österreich, die Schweiz, Südtirol, Liechtenstein und die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, empfiehlt übrigens, auf Binnen-I, Gender-Sternchen, Gender-Doppelpunkt und andere fragwürdige Konstrukte zu verzichten, und bei Bedarf “Leserinnen und Lesern”, “Wienerinnen und Wienern”, “Touristinnen und Touristen”, usw., zu schreiben.

 

Das Titelbild, Würstelstand Kaiserzeit bei der Augartenbrücke in Wien 2, stammt von Guggerel und ist frei verfügbar unter der CCO-Lizenz.

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  1. Das generische Maskulinum umfaßt sogar alle Geschlechter, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, an die Existenz einer Vielzahl von Geschlechtern glaubt, im Gegensatz zu den diversen komischen Genderkonstrukten, die nur Männlein und Weiblein umfassen. Das “generische Maskulinum” ist daher fortschrittlicher und inklusiver als alle Genderkonstrukte 😉 .[]

“Diese Rufnummer ist nicht vergeben.”

Wolf Paul, 2023-08-10

Ich habe soeben einen Anruf von der Rufnummer +43684937284 erhalten.

Die sehr freundliche Dame (sie sprach Deutsch mit ausländischem Akzent) sagte, sie rufe von Microsoft an und fragte mich, ob ich einen Microsoft-Computer besitze. Auf meine bejahende Antwort wurde ich zu einem ebenso freundlichen Herrn (auch der sprach Deutsch, aber mit einem etwas anderen ausländischen Akzent) verbunden, der mich informierte, daß er der Cheftechniker bei Microsoft sei, daß ich ein Internet-Problem auf meinem Microsoft-Computer habe und all meine Daten ausspioniert würden.

Auf meinen Einwand, daß ich kein Problem habe, antwortete er, schon etwas weniger freundlich, daß ich ein normaler Benutzer sei und keine Ahnung davon habe, wovon ich rede.

Als ich erwiderte, daß ich sehr wohl eine Ahnung habe, hängte er auf.

Schade, denn ich hätte ihn so gerne gefragt, woher Microsoft meine Rufnummer hat, und warum sie mich von einer österreichischen Mobilfunk-Rufnummer anrufen. Dann hätte ich ihn gerne gefragt, wenn es denn stimmen würde, daß alle meine Daten ausspioniert werden, warum Microsoft dieses Problem nicht schon längst durch ihre automatischen Updates beseitigt hat. Und ich hätte ihn gerne gefragt, warum bei einer Riesenfirma wie Microsoft der “Cheftechniker” Kundensupport-Anrufe macht. Aber zu meinen Fragen bin ich gar nicht gekommen.

Oh, bevor ich es vergesse: ich habe diese Rufnummer dann versucht, zurückzurufen, weil ich es als sehr rüde und unhöflich empfand, daß der Typ einfach aufgelegt hat. Das Resultat: “Diese Rufnummer ist nicht vergeben.”

Der McDonald Test

Wolf Paul,

Dieser Artikel erschien vor ein paar Jahren in der englischsprachigen Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft, und obwohl er sich naturlich in erster Linie auf die Situation in den USA bezieht, glaube ich, daß er auch für uns hier im deutschsprachigen Europa wertvolle Gedankenanstöße und Lektionen enthält; deshalb gibt es ihn hier in deutscher Ubersetzung. Links auf das englische Original sowie Informationen über die Bruderhof-Bewegung und ihre Niederlassungen in Österreich gibt es am Ende des Artikels.

Der McDonald’s-Test
Das Amerika der hintersten Reihe lieben zu lernen

Von Chris Arnade
3. Juli 2019

Chris Arnade, einst Wall-Street-Banker, reiste drei Jahre lang kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten, um „die Orte zu besuchen, an die man nicht gehen sollte“. Seine Reisen führten ihn von der Bronx über die Ozarks nach East Los Angeles. Was er gelernt hat, teilt er in „Dignity“, einem brandheißen neuen Buch voller Essays und Fotojournalismus. Peter Mommsen von Plough traf sich mit ihm, um über Fast-Food-Läden, Ladenkirchen, Leistungsgesellschaft und die Frage zu sprechen, ob man Bettlern Geld geben sollte.

Plough: Was hat Sie dazu bewogen, dieses äußerst zeitaufwändige Projekt zu starten?

Chris Arnade: Es begann im Jahr 2012, als ich Anleihenhändler für eine renommierte Wall-Street-Bank war. Ich hatte das bereits zwanzig Jahre gemacht und wollte mehr von der Welt sehen. Also begann ich, lange Spaziergänge durch New York City zu unternehmen. Und schon bald fand ich mich an Orten, von denen mir die Leute in meiner sozialen Schicht abgeraten hatten, dorthin zu gehen.

Einer davon war Hunts Point, ein Viertel in der South Bronx[1], das als Zentrum für Drogen und Prostitution gilt. Letztendlich habe ich dort drei Jahre verbracht. Ich kam Obdachlosen, Sexarbeiterinnen und Süchtigen sehr nahe – einige ihrer Geschichten kommen in dem Buch vor. Es war einfach mein Versuch, Menschen zuzuhören, denen sonst niemand zuhören würde.

Im Jahr 2015 beschloss ich, mich auch mit anderen Orte in den Vereinigten Staaten zu beschäftigen, die ignoriert werden oder über die negativ gesprochen wird. Orte wie Lewiston, Maine, Bakersfield, Kalifornien oder El Paso, Texas.

In dieser Zeit haben Sie über 240.000 Kilometer zurückgelegt. Welche Motivation hat Sie am Laufen gehalten?

Eine Motivation war politischer Natur: ein Gefühl der Empörung. Wenn man in Hunts Point geboren wird, gibt es viele Dinge, die gegen einen sprechen. Es scheint, als wäre unser gesamtes Rechts-, Wirtschafts- und Kultursystem gegen diese Kinder gerichtet. Dennoch unterscheiden sie sich nicht von den Menschen, die man in der Upper East Side[2] findet – sie sind nicht dümmer, sie sind nicht weniger fleißig. Hier war ich, jemand, der zwanzig Jahre lang ein angenehmes Leben in New York geführt hatte und sich selbst als Liberalen betrachtete, in dieser Stadt, in der schreckliche Armut und Ungerechtigkeit herrschen. Ich wollte herausfinden, ob das auch anderswo der Fall ist.

Die zweite Motivation war persönlicher Natur. Die ersten ein oder zwei Jahre, in denen ich an diesem Projekt arbeitete, waren surreal, da ich noch an der Wall Street arbeitete. Am Wochenende oder abends bin ich mit meiner Kamera in „raue“ Viertel gegangen und habe mit Leuten gesprochen. Letztendlich habe ich mich entschieden, meinen Job aufzugeben und das zu tun, was ich jetzt tue, weil ich glücklicher war – glücklicher bin. Es ist ein sehr egoistischer Grund. Aber ich fühlte mich unter den Leuten in Hunts Point wohler als unter den Leuten an der Wall Street.

Fußballmannschaft der High School in Lewisto, Maine, wo es eine starke somalische Gemeinde gibt

Als Sie eine heruntergekommene Stadt in Missouri besuchten, begrüßten Sie die Einheimischen mit den Worten: „Sie müssen hier sein, um über Crystal Meth zu schreiben.“ Wie vermeidet ein Buch über arme Orte Voyeurismus?

Der Ausdruck, den die Leute dafür verwenden, ist „Armutsporno“. Mein Comeback ist: „Ich denke, wir brauchen etwas mehr Armutspornos. Wir haben genug Luxuspornos.“

Natürlich gibt es eine schlechte Art, über die Menschen an diesen Orten zu schreiben. Ich denke, es geht ausschließlich um Methodik und Absicht. Ich gehe manchmal in Ort- oder Nachbarschaften, ohne vorher etwas darüber zu lesen, um keine vorgefassten Meinungen mitzubringen.

Ein Ort, den ich besuchte, war Prestonsburg, Kentucky. Das Zentrum dieser Ortschaft ist ein Platz mit einem McDonald’s und einem Walmart.[3] Jeden Tag, als ich dort war, sah ich einen Mann, der draußen auf einem Picknicktisch Zigaretten rauchte; Er arbeitete in einer Nachtschicht in einem der Geschäfte. Jeden Tag weigerte er sich zu reden. Nach zwölf Tagen sagte er: „Gut, Sie können ein Foto von mir machen.“ Wir unterhielten uns, er gab mir ein paar Zitate und wir lachten. Am Ende sagte er: „Erzählen Sie nicht nur die Geschichte, wie Prestonsburg voller Drogen und Süchtiger ist. Ich hoffe, Sie erzählen auch die Geschichte darüber, dass wir gute Menschen sind.“

Das ist meine Absicht mit diesem Buch. In allen Ortschaften und Nachbarschaften, die ich besuchte und die so unterschiedlich waren, spürte ich den gleichen Wunsch nach Würde.

Unterwegs haben Sie achthundert McDonald’s-Restaurants besucht. Warum?

Mein altes Ich, mein erfolgreiches Anleihenhändler-Ich, hielt McDonald’s immer für einen peinlichen Ort, den ich nie aufsuchen würde. Aber als ich anfing, Hunts Point zu besuchen, aß ich ständig bei McDonald’s. Es war einer der wenigen öffentlichen Orte in der Nachbarschaft, die funktionierten.

Ich freundete mich eng mit einigen obdachlosen Heroinsüchtigen an, und ihr Leben drehte sich in vielerlei Hinsicht um McDonald’s. Hier gehen sie auf die Toilette, um sich zu waschen. Hier können sie ihr Telefon anschließen und aufladen. Hier können sie einfach eine Stunde lang ruhig dasitzen und ungestört der Hitze oder Kälte entfliehen. Dort bekommen sie auch günstiges Essen. Ich respektiere das Essen vielleicht nicht aus ethischen Gründen, aber es ist billig und schmeckt gut. Für Leute, die nicht viel Geld haben, zählt das viel. Da herrschte ein echtes Gemeinschaftsgefühl.

Mir wurde klar, dass die McDonald’s-Restaurants im ganzen Land tatsächlich Gemeinschaftszentren waren. In Städten, in denen die Dinge wirklich nicht funktionieren, in denen staatliche Dienste versagen und gemeinnützige Organisationen und der Privatsektor den Menschen nicht helfen, ist McDonald’s einer der wenigen Orte, der noch geöffnet ist, noch über funktionierende Toiletten verfügt und wo das Licht brennt.

Schließlich kam ich auf den sogenannten McDonald’s-Test. Die allgemeine These meines Buches ist, dass unsere Gesellschaft die Menschen in das einteilt, was ich die erste und die hintere Reihe nenne – die privilegierte Klasse, zu der ich früher gehörte, die finanziell abgesichert ist und in sicheren Gegenden mit guten Schulen und öffentlichen Dienstleistungen lebt – und alle anderen. Der Test besteht darin, eine Person zu fragen: Wie sehen Sie McDonald’s? Meiner Erfahrung nach verrät die Antwort meist, ob jemand zur ersten oder zur hinteren Reihe gehört.

Ich verstehe die Anti-McDonald’s-Stimmung – was diese riesigen globalen Konzerne in dieser hart umkämpften, extrem materialistischen Welt getan haben. Diesen Unternehmen geht es darum, in die Nachbarschaften zu kommen, dort Geld zu verdienen und es wieder herauszunehmen, und natürlich trifft das auch auf McDonald’s zu.

Aber die Realität ist, dass McDonald’s im Leben armer Menschen wichtig ist. Die Menschen wollen wirklich ein Gemeinschaftsgefühl – sie sehnen sich so sehr nach dem Sozialen, dass sie Gemeinschaften an Orten bilden, die ausschließlich auf Transaktionen ausgerichtet sind. McDonald’s ist natürlich darauf ausgelegt, dich so schnell wie möglich rein- und wieder rauszuholen. Aber was ich fand, waren Gruppen für alte Männer, Gruppen für alte Frauen, Bibelstunden und Schachspiele.

Bingo-Tag in einem McDonald’s in Louisiana

Sie haben auch viele Kirchen besucht. Wie war das für mich als Atheist?

Als ich anfing, war ich auf jeden Fall Atheist; jetzt ist es komplizierter. Ursprünglich ging ich aus dem gleichen Grund in die Kirche wie zu McDonald’s: Die Leute, mit denen ich sprach, gingen dorthin. Ich machte keinen Unterschied, sondern ging einfach in die Kirche oder Moschee, die es dort gab, von der Religion, die die Bevölkerung widerspiegelte.

So wie McDonald’s, funktionierten auch die Kirchen. Sie waren oft die einzigen Einrichtungen, die beleuchtet und funktionsfähig waren; Normalerweise handelte es sich dabei um Ladenkirchen[4]. Man ging eine Straße entlang, die mit Brettern vernagelt war, verlassene Gebäude und dann war da eine Kirche. Ihre Türen waren nicht geschlossen.

In meinem Buch gibt es nicht viele Erfolgsgeschichten – es gibt fast niemanden, der aus einem negativen Lebensstil herausgekommen ist. Die einzigen Menschen, denen es gelang, taten es durch den Glauben – durch die Kirche. Und so empfand ich zunächst widerwilligen Respekt und dann vollen Respekt vor dem, was die Kirchen tun.

Viele der Menschen, die Sie getroffen haben und deren Lebensstil im Widerspruch zum traditionellen Glauben steht – zum Beispiel eine transsexuelle Prostituierte – stellen die Bibel immer noch in den Mittelpunkt ihres Lebens.

Wenn Sie in ein Crack-Haus gehen, finden Sie eine Bibel oder einen Koran. Es werden alle möglichen verrückten Dinge passieren, aber sie werden religiöser Natur sein. Ein Teil davon ist der Öffentlichkeitsarbeit geschuldet: die Religionsgemeinschaften leisten hervorragende Arbeit im Dienst an den Armen. Aber sie finden auch in der Bibel und in den Kirchen eine Gemeinschaft, die sie versteht. Ja, es gibt religiöse Kreise, die sie verurteilen, aber die meisten dieser Kirchen verlangen nicht viel. Sie sagen: „Versuche, diesen Lebensstil zu leben, und wir werden dich akzeptieren.“

Ich denke auch, dass das, was sie in der Bibel sehen, eine Akzeptanz des Scheiterns ist, oder zumindest die Erkenntnis, dass jeder ein Sünder ist und dass wir alle gefallen sind und dass wir das alles nicht wirklich verstanden haben. Und dass es da draußen etwas gibt, das größer ist als wir. Wenn Sie in einem Crack-Haus leben und die enormen Ungerechtigkeiten dieser Welt auf einer emotionalen Ebene sehen, ist die Vorstellung, dass dies alles ist, was existiert, überhaupt nicht verlockend.

Menschen wie ich – wohlhabend, gebildet, wissenschaftlich – haben sich von den Beweisen des Glaubens entfernt. Ich denke, es ist viel einfacher, die Bibel als etwas Wichtiges zu betrachten, wenn man auf der Straße lebt und die Sterblichkeit, das Scheitern und die Demut versteht.

Wie haben Ihre Reisen Ihre Ansichten über Erfolg und Leistungsgesellschaft verändert?

In unserer Gesellschaft beurteilen wir einander nach Bildung – die Idee dahinter ist, dass Bildung das Wichtigste im Leben ist und dass es du selbst schuld bist, wenn du dabei versagst. Selbst in höflicher Gesellschaft kann man sich über jemanden lustig machen, der in der Schule nicht gut abschneidet. Wir haben nicht nur ein System, das Bildung belohnt, wir haben auch eine sehr enge Definition dessen, was Klugheit bedeutet.

Portsmouth, Ohio

Diese Denkweise ist zutiefst materialistisch und beruht auf der Vergötterung von Qualifikationen, in der Regel einem Universitätsabschluss. Der Erfolg hängt dann davon ab, wie viel Geld Sie verdienen und wie viele Diplome Sie sammeln.

Das Problem bei einer solchen Definition von Erfolg besteht darin, dass man zwar leicht messen kann, wie viel Bildung oder Geld jemand hat, es aber sehr schwierig ist, den Wert davon zu messen, gute Eltern zu sein oder sich dafür zu entscheiden, in seiner Heimatstadt zu bleiben und sein Leben damit zu verbringen, einen Beitrag zu ihr zu leisten. Wenn es uns mit einer meritokratischen Denkweise nicht gelingt, Dinge zu finden, die wir beziffern können, neigen wir dazu, ihren Wert zu übersehen.

Wie sehen alternative Erfolgsformen aus?

Als ich Zeit in Ost-Los Angeles verbrachte, einem größtenteils mexikanisch-amerikanischen Viertel, ging ich immer zu einem McDonald’s, um meine Notizen zu machen. Mir ist dort jeden Abend eine junge Frau aufgefallen. Ich fragte: „Warum bist du jede Nacht hier?“ Sie sagte: „Ich brauche das WLAN. Wir haben zu Hause kein Geld dafür.“ Sie ging zu einem Community College[5]in der Nähe.

Als sie herausfand, dass ich aus New York komme, erzählte sie mir, dass sie dort gerne zur Schule gehen würde. Ich bot ihr an, Kontakte zu guten Schulen zu vermitteln, aber sie sagte, das sei nicht möglich. Es stellte sich heraus, dass sie die älteste Tochter einer sechsköpfigen Familie war und die Übersetzerin für die Familie.

Gemessen an den üblichen Maßstäben des Erfolgs war es dumm, die Chance ausgeschlagen zu haben. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie wollte für ihre Familie da sein.

In Reno, Nevada, traf ich einen afroamerikanischen Teenager, der die Chance, eine Universität außerhalb des Bundesstaates zu besuchen, abgelehnt hatte und stattdessen ein örtliches Community College besuchte. Sein Hauptgrund war, dass seine Mutter nach zwölf Jahren Sucht nüchtern war und er für sie da sein musste.

Ich bin der Meinung, dass diese beiden Kinder die richtige Entscheidung getroffen haben. Wenn Sie mir diese Geschichte vor zehn Jahren erzählt hätten, hätte ich das wahrscheinlich nicht gedacht. Es besteht das Gefühl, dass wir alle unabhängige Franchise-Unternehmen sein sollten, die einfach dorthin ziehen, wo wir wollen. Es gibt kein Ortsgefühl.

Welche Lektion war für Sie am schwierigsten zu lernen?

Als ich mit diesem Projekt begann, wollte ich den Drogendealern und Sexarbeitern in Hunts Point helfen. Nach ein paar Jahren wurde mir klar, dass ich die Realität der Menschen, denen ich angeblich helfe, nicht verstand.

Ich habe gelernt, dass die Realität der gebildeten Elite ganz anders ist als die Realität der Arbeiterklasse. Es reicht von dem, was man denkt, über das, was man isst, über den Ort, wo man einkauft, bis hin zu den Personen, mit denen man verkehrt. Diese Entfernung, diese Trennung bedeutet, dass man sich mit der Zeit immer weniger versteht. Die gebildete Elite versteht die Arbeiterklasse nicht und umgekehrt. Es geht in beide Richtungen, aber es ist die gebildete Elite, die sich zurückgezogen hat.

Nehmen Sie Walmart. Es gibt viele Gründe, Walmart nicht zu mögen, aber wenn Sie die Einwandererbevölkerung in einer Stadt kennenlernen möchten, beginnen Sie mit Walmart. Natürlich gehen viele Leute aus der Mittelschicht zu Walmart, aber im Allgemeinen gehen sie nicht um zwei Uhr morgens hin, wo es dann am interessantesten is. Viele Walmarts haben diese wunderbare Regelung, die es Menschen erlaubt, über Nacht zu parken, sodass Obdachlose in ihren Autos auf Walmart-Parkplätzen schlafen und dann morgens die Walmart-Toiletten benutzen. Ich fand, dass diese Geschäfte einer der besten Orte sind, um Menschen zu begegnen, die oft unsichtbar sind.

Gebildete Menschen, die ich die erste Reihe nenne, verstehen solche Details des Lebens nicht. Aber sie verstehen auch nicht, wie die Leute in der hinteren Reihe denken und worauf sie Wert legen – oft auf Familie, Ort und Glauben, nicht auf Karriere und Qualifikationen.

Ich befürchte, dass die Kluft inzwischen so groß ist, dass wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich zwischen den beiden übersetzen konnte.

300 Meter entfernt von er mexikanischen Grenze in E Paso, Texas

Einwanderung ist in den meisten westlichen Ländern zu einem politisch heissen Thema geworden. Kritiker der Einwanderung behaupten, dass sie die kulturelle Identität verwässere und so die Volksgemeinschaft schwäche, insbesondere in Arbeitervierteln. Haben Sie festgestellt, dass dies der Fall ist?

Nichts könnte falscher sein als diese Aussage. Das Einzige, was in diesen Städten funktioniert, ist oft die Einwanderergemeinschaft. Lewiston, Maine, war bis 1998 ausschließlich weiß und christlich – nach der Ankunft somalischer Einwanderer sind es jetzt 15 Prozent Schwarze und Muslime. Sie haben eine leere, verlassene Innenstadt in einen lebendigen Teil der Stadt verwandelt.

Für mich als Südstaatler, der die letzten Jahrzehnte in New York verbracht hat, war es oft ein Schock, kleine Städte im Süden zu besuchen und eine blühende mexikanisch-amerikanische Gemeinschaft vorzufinden. Oftmals sind sie die Einzigen, die familiengeführte Restaurants und Geschäfte in leerstehenden Stadtvierteln betreiben.

Man kann jedoch nicht leugnen, dass die Geschwindigkeit des Wandels in diesen Städten vielen älteren Menschen Angst macht. Nachbarschaften, die seit zweihundert Jahren ein starkes Gefühl der lokalen Identität haben, werden plötzlich auf den Kopf gestellt. Viele dieser Nachbarschaften haben sehr gelitten und Einwanderer können leicht zum Sündenbock werden.

In Lewiston traf ich zum Beispiel einen Weißen aus der Arbeiterklasse, einen Vietnam-Veteranen. Seit dreißig Jahren läuft es für ihn nicht mehr gut; er lebt hin und wieder in Sozialwohnungen; er ist immer wieder abhängig von der Sucht. Jede Woche, wenn er an der örtlichen Tafel[6] seine Essensration abholt, muss er in der Schlange stehen – und in den letzten Jahren musste er länger warten, weil die Hälfte der Menschen vor ihm Somalier sind. Ich werde die Worte, die er gesagt hat, nicht wiederholen. Sie waren nicht angenehm, aber es ist leicht zu erkennen, wie er dorthin gekommen ist. Für ihn ist es leicht, Einwanderung als Schuldigen auszumachen.

Sie schlagen vor, dass Rassismus eine Sache ist, die sich möglicherweise weniger verändert hat, als die Leute zugeben möchten.

In den Vereinigten Staaten herrscht schrecklicher Rassismus, der weder geleugnet noch gemildert werden kann. Was jedoch vergessen wird, ist, dass die fortschrittlichsten Städte oft die am stärksten getrennten Städte sind. Wir neigen dazu, uns auf die hässlichen Vorfälle von Rassismus zu konzentrieren, die in der weißen Arbeiterklasse passieren, und ignorieren den Rassismus der Eliten, der weniger offenkundig ist, weil er strukturell ist. Es geht um die Flächennutzungs- und Bebauungsvorschriften,, darum, wo die besten Schulen sind, wer eher verhaftet oder inhaftiert wird und wo es gute Arbeitsplätze gibt.

Mein Besuch in Milwaukee, einer Stadt, die bekannt ist für ihre fortschrittliche Politik, hat mir das gezeigt. Historisch gesehen war die afroamerikanische Gemeinschaft absichtlich auf ein winziges Viertel der Stadt beschränkt, und sie konzentriert sich auch heute noch größtenteils dort. Die meisten Afroamerikaner kamen in den 1940er und 50er Jahren aus demselben Teil von Mississippi hierher. Ich habe viel Zeit mit den älteren Mitgliedern dieser Bevölkerungsgruppe verbracht, die im segregierten Süden aufgewachsen waren und dann nach Norden gezogen waren. Sie sagten mir immer wieder: „Der Rassismus hier ist nicht besser als dort.“ Milwaukee wählte bereits vor einem Jahrhundert Sozialisten in den US-Kongress. Aber diese Männer sagten mir: „Sehen Sie, der Rassismus ist hier anders. Der Rassismus im Süden war sehr offen und direkt. Hier geschieht er hinter Ihrem Rücken – sie reden nur schön, aber sie tun es nicht.“ In ihren Augen waren sie immer noch auf Nebenjobs und ein Nebenviertel beschränkt, wobei hohe Barrieren die jungen Menschen an ihrem Platz hielten.

Eine Taglöhnerin in Selma, Alabama

Einer der eindringlichsten Abschnitte Ihres Buches beschreibt Selma, Alabama, das vor allem für seine Rolle in der Bürgerrechtsbewegung bekannt ist. Sie schreiben, wie Sie wunderschön erhaltene historische Denkmäler der Selma-Märsche von 1964 vorfanden, umgeben von heruntergekommenen Wohnprojekten.

Ich liebe Selma – die Leute dort waren sehr herzlich zu mir. Aber sie sind nicht glücklich. Es gibt schöne Teile von Selma, aber sie sind klein und zurückhaltend. Die Realität für die meisten Menschen dort, für die meisten Afroamerikaner, ist Entmündigung, nicht nur rechtlicher, sondern auch wirtschaftlicher Art. An allen Orten, die ich besuchte, habe ich noch nie Menschen gesehen, die so offen Schusswaffen trugen oder so offen und lässig mit Drogen handelten wie in Selma.

Unter den Menschen dort herrscht eine Wut, eine berechtigte Wut, und eine stille Bitterkeit und ein Zynismus darüber, ob politisches Handeln irgendetwas ändern kann. (Natürlich hat Alabama es den Schwarzen sehr leicht gemacht, nicht zu wählen – tatsächlich haben sie alles getan, um sie davon abzuhalten, zu wählen.) Die Realität von Selma heute legt nahe, dass die Bürgerrechtssiege der 1960er Jahre weitgehend symbolischer Natur waren. Es muss noch viel mehr getan werden.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie den Menschen zunächst helfen wollten, dann jedoch gelernt haben, dass Sie sie zuerst verstehen müssen. Aber wie hilft man jemandem, der in einem negativen Muster gefangen zu sein scheint?

Ich denke, das Beste, was man tun kann, ist, für Momente der Würde zu sorgen – ihnen zuzuhören und sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Wenn jemand eine saubere Mahlzeit braucht, geben Sie ihm eine saubere Mahlzeit; Wenn jemand ins Krankenhaus muss, bringen Sie ihn hin.

Ich werde oft gefragt: „Nun, in meiner Nähe ist ein Obdachloser. Was soll ich machen?” Behandeln Sie ihn oder sie einfach wie einen normalen Menschen. Setzen Sie sich hin und reden Sie mit ihr oder ihm. Laden Sie sie wirklich zum Kaffee ein. Wenn Sie gemeinsame Interessen haben, sprechen Sie darüber. Seien Sie nicht vorgetäuscht freundlich.

Eines der Dinge, die ich gelernt habe, ist, jeden zu umarmen. Es ist mir egal, wie schmutzig sie sind – ich habe Menschen umarmt, die seit zwei oder drei Monaten nicht gebadet haben. Es ist ein Zeichen dafür, dass Sie bereit sind, sie wie einen normalen Menschen zu behandeln. Sie sollten jeden mit Würde behandeln, aber insbesondere für Menschen, die an der Schwelle stehen, ist das vielleicht das Wichtigste.

Gehört dazu auch, Bettlern Geld zu geben?[7]

Ja. Ich habe immer einen Fünf-Dollar-Schein in meiner Tasche – Leute, die betteln, schauen mich oft komisch an, weil ich tausend Dollar aus meiner Brieftasche herausziehe, alles in Fünfer-Scheinen. Die meisten Drogen kosten neun Dollar, also gebe ich weniger. Wenn ich jemandem fünf Dollar gebe und er vier Dollar mehr verlangt, weiß ich genau, was los ist. Vielleicht lade ich sie zu McDonald’s ein und spendiere ihnen eine Mahlzeit.

Was hoffen Sie, was die Leute tun werden, nachdem sie Ihr Buch gelesen haben?

Schauen Sie sich an, was über materielle Dinge hinaus wertvoll ist. Viele Menschen finden die Welt schrecklich, aber es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt als jetzt, um ein Leben jenseits des Kapitalismus zu gestalten.

In Hunts Point lernte ich eine Süchtige kennen – sie hieß Millie. Sie starb. Das weiß ich nur, weil sie verschwunden ist und ich mehrere Wochen damit verbracht habe, sie aufzuspüren. Wenn man in New York City ohne Papiere oder Ausweis stirbt, wird man nach Hart Island geschickt, wo eine Million Leichen begraben sind. Sie werden in eine Sperrholzkiste gesteckt, in einen Graben gesteckt und von Gefängnisinsassen von Rikers Island begraben. Grundsätzlich ist es nicht gestattet, die Gräber zu besuchen.

Als ich schließlich erfuhr, dass Millie tot war und wo sie begraben lag, kam ich zum Nachdenken. Es gibt ein Sprichwort: „Du stirbst nicht wirklich, bis die Leute aufhören, über dich zu reden.“ Wenn das wahr ist und Sie auf Hart Island in einer Sperrholzkiste begraben sind und es keine Möglichkeit gibt, das Grab zu besuchen, werden Sie viel schneller sterben. Die Erinnerung an Sie wird einfach verschwinden.

Also half ich schließlich dabei, Millies Leiche zu exhumieren und ordnungsgemäß zu begraben. Ich hab mich darauf eingelassen und dachte: „Als Atheist, warum mache ich das? Wen kümmert es, wo du begraben bist? Du bist tot.” Aber diese symbolische Aktion war für Millies Straßenfamilie von großer Bedeutung. Es gab eine Gedenkstätte, die man besichtigen konnte. Es gab einen Grabstein. Ihre Erinnerung würde noch ein wenig in Erinnerung bleiben.

Machen Sie aus Armut keinen Fetisch. Aber seien Sie etwas eher bereit, in Gegenden zu gehen, in die “man” eigentlich nicht geht. Nehmen Sie sich Zeit, den Menschen zuzuhören. Schenken Sie ihnen Respekt.


Das englische Original dieses Artikels erschien  im Juli 2019 im Plough-Magazin[8], der Zeitschrift der Bruderhof-Gemeinschaft. Deutsche Übersetzung und Fußnoten von Wolf Paul mit Erlaubnis von Plough.

Die Bruderhof-Gemeinschaft entstand im Deutschland der Zwischenkriegszeit.  Wegen ihrer pazifistischen Überzeugungen und ihrer Gegnerschaft zum Nazi-Regime aus Deutschland vertrieben, migrierten sie über Liechtenstein und England nach Paraguai und landeten schließlich in den USA. Inzwischen gibt es Niederlassungen auf jedem Kontinent außer Afrika, und seit 2019 (Retz) und 2021 (Furth/Maria Anzbach) auch in Österreich. Die Bruderhof-Gemeinschaft sieht sich in der Tradition der ersten Christen sowie der aus Habsburg-Österreich stammenden Täufer-Bewegung der Hutterer. In Österreich haben sich die Niederlassungen der Bruderhof-Gemeinschaft der Mennonitischen Freikirche angeschlossen und sind daher Teil der gesetzlich anerkannten Freikirchen in Österreich.

Der Autor, Chris Arnade, wuchs in Florida auf, studierte Physik an der John Hopkins University und arbeitete für eine Bank an der Wall Street, bevor er freischaffender Schriftsteller und Fotograf wurde.

 

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  1. Die South Bronx ist ein Stadtteil von New York City, unmittelbar nördlich von Manhattan, dem Zentrum der Finanzindustrie[]
  2. die Upper East Side ist das Nobelviertel von Manhattan[]
  3. Kaufhaus-Kette, deren Filialen wie auch die meisten Supermärkte teilweise rund um die Uhr geöffnet sind []
  4. Ladenkirchen, engl. Storefront Churches, sind Gemeinden, die in einem Geschäftslokal untergebracht sind, umgeben von anderen Geschäften, oder von leerstehenden, zugenagelten Geschäftslokalen.[]
  5. Community Colleges bieten “halb-universitäre” Lehrgänge an, oft mit dem Schwerpunkt auf beruflichen Qualifikationen. Im Gegensatz zu normalen Colleges und Unis dauern die Lehrgänge nur zwei statt vier Jahre und schließen mit einem Associate Diplom ab, statt mit einem Bachelor. Sie sind auch wesentlich billiger.[]
  6. Soziaeinrichtungen, oft von Kirchengemeinden betrieben, die an sozial Schwache Essen verteilen[]
  7. Es gibt die weit verbreitete Meinung, daß man Bettlern kein Geld geben soll, weil sie es nur für Alkohol und Drogen ausgeben würden, oder Teil einer sogenannten Bettler-Mafia sind.[]
  8. Plough erscheint auch auf Deutsch[]

Bibelübersetzungen

Wolf Paul, 2023-07-12

Vor kurzem wurde der von mir sehr geschätzte Theologe Chad Bird auf Facebook gefragt, welche Bibelübersetzungen er als besonders gut und textgetreu empfehlen würde, und er empfahl die NASB, ESV, und CSV. Das sind natürlich alles englische Übersetzungen, und ich habe dann überlegt, welche deutsche Übersetzungen ich empfehlen würde.

Zuvor möchte ich aber einen Satz aus Chad Birds Antwort herausstellen und ganz dick unterstreichen:

“Jede Übersetzung ist natürlich unvollkommen, weil es unmöglich ist, eine Sprache zu 100% in eine andere Sprache zu übertragen.”

Das ist eine ganz wichtige Tatsache, die leider viel zu oft übersehen wird.

Als Pendant zur NASB, die mehr Wert auf  Übersetzungsgenauigkeit als auf Lesbarkeit legt, würde ich die Elberfelder Bibel empfehlen, wobei die revidierte Version (1985, neue Rechtschreibung 2006) bereits wesentlich lesbarer ist, als ihre Vorgänger. Als Pendant zu ESV und CSB finde ich drei deutsche Übersetzungen empfehlenswert: die revidierte Schlachterbibel (2000), die revidierte Lutherbibel (2017) und die revidierte Einheitsübersetzung.

In der Basisbibel der Deutschen Bibelgesellschaft ist zwar nicht ganz meins, aber mit ihr werden schließlich auch jene fündig, die gegen traditionelle Sprache allergisch sind.

Auf Englisch empfehle ich für eine zusätzliche Perspektive die CJB (Complete Jewish Bible) von David Stern;  von der gibt es auf Deutsch lediglich das Jüdische Neue Testament welches kombiniert mit der Heiligen Schrift, dem Tanach (Alten Testament) in der Übersetzung von Naftali Herz Tur-Sinai eine ähnliche Perspektive bietet.

Generell glaube ich, daß man mit den meisten Bibelübersetzungen besser fährt, als ohne Bibel. Aber es gibt ein paar Übersetzungen, die entweder sehr tendenziös sind (z.B. die Neue Welt Übersetzung der Zeugen Jehovas) oder aber von ihrer Ubersetzungsphilosophie her problematisch sind (z.B. Konkordantes Neues Testament, DaBhaR-Übersetzung)[1]

NACHTRAG:

Auf Facebook fand dann folgender Austausch zwischen mir (WNP) und Dagmar Gollatz (DG) statt:

DG: Wem empfehlen und wofür? Das macht doch einen Unterschied.

WNP: Wir reden hier von generellen Empfehlungen für den “normalen” Gläubigen und “normale” Bibellese/Bibelstudium. Daß es in speziellen Situationen auch andere Möglichkeiten gibt, ist unbestritten.

DG: Was meinst du in dem Zusammenhang mit normal? Ist das jemand deines Alters und deiner Sozialisation? Ist es die Jugendliche, die die Bibel zum ersten Mal liest? Ist es der mit Buddhismus liebäugeldnde beruflich stark belastete Mittdreißiger? Das 10jährige Kind das in frommer Familie aufwächst? Das theologisch interessierte Mitglied der Gemeindeleitung? Die junge Mutter, die den Bezug zur Gemeinde verloren hat, aber ihren Kindern doch biblische Geschichten erzählen will und vorher selbst nachlesen will. Der fromm erzogene Teenie, der die Nase voll hat von salbungsvollen Worten. Die aktive Pensionistin, die jetzt mit theologischer Literatur neben der Bibel ihr Verständnis vertiefen will?

WNP: “Normal” ist ein bisserl ein ungeschicktes Wort, wie wir auch der aktuellen politischen Diskussion entnehmen können.

Während ich nicht glaube, daß es die EINE richtige und allgemeingültige Übersetzung gibt (das liegt in der Natur von Sprache), und während ich durchaus eine gewisse Berechtigung für Zielgruppen-Übersetzungen sehe, gibt es doch einen Unterschied zwischen Übersetzung (translation) an einem Ende des Spektrums und Übertragung (paraphrase) am anderen Ende des Spektrums, und auf den Unterschied hab ich auch hingewiesen. Wie wichtig einem dieser Unterschied ist, hängt sicher auch davon ab, für wie wichtig man den tatsächlichen Wortlaut des biblischen Textes hält; wenn man ihn (wie ich) für wichtig hält, dann bevorzugt man möglichst wortgetreue Übersetzungen gegenüber freieren Übersetzungen und Übertragungen.

Ich habe keinen Zweifel, daß Menschen auch durch Übertragungen zu einem lebendigen Glauben an Jesus finden können; ich bin aber auch davon überzeugt, daß sowohl jugendliche Bibel-Anfänger ebenso wie Kinder und Jugendliche aus einem christlichen Umfeld, sowohl beruflich stark belastete Männer als auch alleinerziehende Mütter, aktive Pensionisten und Pensionisten ebenso wie alle anderen, der Deutsch lesen, die von mir empfohlenen Übersetzungen lesen und verstehen können, wenn sie offen sind für Gottes Reden. Und wenn sie das nicht sind, werden sie auch mit der Volxbibel nicht weiterkommen.

 

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  1. Diese Übersetzungen treiben die Worttreue so weit, daß sie jedes Wort des Urtexts durch jeweils ein Wort der Zielsprache übersetzen wollen. Das offenbart ein mangelndes Verständnis davon, wie Sprache funktioniert, und daß man eine Sprache nie zu 100% in eine andere Sprache übersetzen kann. Der Übersetzer der DaBhaR versucht das zu kompensieren, indem er einfach Wörter erfindet, was am Sinn einer Übersetzung vorbeigeht.[]