Der Glaube als Waffe in Rußlands Krieg gegen die Ukraine

Wolf Paul, 2025-05-08

Dieser Artikel von Denys Gorenkov1wurde ursprünglich vom Baptist Standard veröffentlicht. Die Veröffentlichung dieser Übersetzung erolgt mit Genehmigung.

Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine – mit allen verfügbaren Mitteln. Darunter auch die Religionsgemeinschaften des Aggressorstaates.

Dabei geht es nicht nur um den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill (Gundjajew), den muslimischen Führer Talgat Tadschuddin und den jüdischen Vertreter Aaron Gurewitsch. Kleine, aber straff organisierte evangelikale Kirchen in Russland mobilisierten schnell ihre Ressourcen, um den imperialen Krieg zu unterstützen.

Evangelikale im Dienst Russlands

Evangelikale Leiter setzen nicht nur auf das Wohlwollen der Behörden, sondern auch auf gewisse Beute – sie haben die Botschaft Christi durch die Gebote der „Z-Religion“ ersetzt. Das „Z“ ist das Symbol für Russlands sogenannte „Spezialoperation“.

Im Gegensatz zur Russisch-Orthodoxen Kirche, die ihre Rhetorik und Strukturen schnell und zentral an die Kriegsmaschinerie angepasst hat, taten sich die evangelikalen Kirchen zunächst schwerer. Einige Leiter widersetzten sich; andere verließen das Land.

Doch drei Jahre nach Beginn der Invasion haben sich russische Evangelikale fest eingereiht: Pastoren segnen Putin öffentlich und bekunden ihre Unterstützung für die „Spezialoperation“.

Hinter den mit Gewehren bewaffneten burjatischen2 Soldaten folgen „Missionare“. Auf den Trümmern ukrainischer Gebetshäuser verteilen russische „Brüder“ Hilfsgüter und singen Lobpreislieder.

Inmitten der Trümmer von Mariupol, Ukraine, nahm der russische „Missionar“ Andrey Krysov ein Einladungsvideo zu einer Missionskonferenz auf, die in Jekaterinburg stattfinden soll.

Krysov ist als einer der Redner gelistet. Gemeinsam mit dem „Missiologen“ Pawel Pusanow soll er russischen Gläubigen beibringen, wie „Mission auf befreiten Gebieten“ funktioniert – so lautete es in einem inzwischen gelöschten Telegram-Kanal der Konferenz.

Doch die Frage, an welchen Gott und an welche Mission die russischen „Z-Christen“ eigentlich glauben, wird weder in Jekaterinburg noch sonstwo gestellt – weder auf Konferenzen, noch bei Leitungsgipfeln oder Gebetsfrühstücken.

Diejenigen, die solche Fragen stellen könnten, sitzen im Gefängnis, leben im Exil oder wurden beseitigt. Die Verbliebenen gieren nach ihrem Anteil am Festmahl des Kannibalen.

Russische Kirchenleiter – Schatrow: Bischof, stellv. Leitender Bischof des Bundes Evangelischer Christen im Nordwestlichen Föderalbezirk; Dirinenko: Bischof, stellv. Leitender Bischof im Zentralbezirk; Kolesnikow: Vorsitzender der Gesamtunion Evangelischer Christen; und Karassjow: Bischof des Gesamtverbandes Evangelischer Christen – berichteten stolz über das Wachstum ihrer Gemeinden beim Gebetsfrühstück3 in Washington, D.C., am 6. Februar 2025:
„Selbst unter den schwierigen Bedingungen der Spezialoperation vermehren sich unsere Kirchen“, so Teilnehmer.

Und tatsächlich – wie schon nach den Okkupationen von Moldawien, Georgien und der Krim.

Gemeindewachstum als Strategie

Die Strategie ist überall gleich: Erst durchkämmen Sicherheitskräfte die Häuser und Kirchen örtlicher Christen in den besetzten Gebieten. Danach kommen Beamte, die verlangen, dass Kirchen sich nach russischem Recht neu registrieren.

Dann treten Gesandte russischer protestantischer Kirchen auf: „Schließt euch uns an, dann erhaltet ihr offizielle russische Registrierung.“ Wer ablehnt, wird vom Sicherheitsdienst beseitigt. Wer zustimmt, zählt nun zur Statistik des russischen Gemeinde-Wachstums.

Hauptakteur dieser „Übernahmen“ ist die Vereinigte Russische Union der Christen Evangelikalen Glaubens (ROSKhVE).

Früh im Verlauf der „Spezialoperation“ erklärte ROSKhVE-Leiter Sergej Rjachowskij die Position des Verbands unmissverständlich 4:
„Wir sind russische Bürger und Patrioten unseres Landes.“

Auf einer Sitzung des Religionsrats der Russischen Föderation zum Thema Ukraine sagte Rjachowskij 5:
„Heute haben wir keinen anderen Weg, die Wahrheit zu verteidigen“, und fügte hinzu: „Ich bin überzeugt, dass uns die Liebe bewegt.“

Natürlich haben russische Evangelikale nicht denselben Einfluss wie die Moskauer Orthodoxie – und im Vergleich zum „Wolf“ Kirill Gundjajew wirken ihre Leiter eher wie „Wolfswelpen“. Doch auch diese „Wolfswelpen“ wollen profitieren – und beten nicht nur für Putin, sondern auch zu Putin.

In den Jahren des Krieges haben sich die Kirchen des Aggressorstaates dank der Gemeinden in den besetzten Gebieten vervielfacht.

Theologischer Wandel

Schon 2014, nach der Annexion der Krim, richteten sich russische Baptisten 6 – einst unerschütterliche Bekenner unter dem Sowjetregime – mit einem unterwürfigen Appell an Putin: „Danke für den Schutz und die Stärkung geistlicher und moralischer Werte.“

Heute sind russische Kirchen nicht wiederzuerkennen. Sie ähneln nicht mehr dem historischen protestantischen Zeugnis, das einst bereit war, der Macht die Wahrheit zu sagen.

Die Sprache der Kirche – Spiegel ihres Denkens – hat rasch die Vokabeln des Staates übernommen. Phrasen wie „Befreiungshandlungen“ oder „befreite Gebiete“ gehen glatt über die Lippen.

Sergej Kirejew, ROSKhVE-Leiter 7, erklärte in einem Bericht mit dem Titel Zwei Jahre SVO: Der Beitrag der Protestanten von Pensa zu unserem gemeinsamen Sieg,
„Großartige Arbeit wurde bereits geleistet – doch noch größere Aufgaben stehen uns bevor, sowohl in Pensa als auch in den neuen Gebieten.“

Tatsächlich bleibt für ROSKhVE und andere russische Evangelikale viel zu tun. Ihre Organisationen konzentrieren sich auf die „neu befreiten Gebiete“, und ihre „Missiologen“ haben eine maßgeschneiderte Missionsstrategie entwickelt – zur Besiedlung und „Bepflanzung“ jener ukrainischen Länder, die russische Truppen „gesäubert“ haben.

Christenverfolgung

Die Fakten zur Christenverfolgung aufgrund der Ablehnung der „Z-Religion“ sind im Bericht Faith Under Russian Terror 8 dokumentiert.

Laut Pastor Mychajlo Bryzsyn, Mitautor des Berichts:
„Auf den zwischen 2022 und 2024 besetzten ukrainischen Gebieten orchestrierte Russland einen regelrechten religiösen Genozid: Hunderte Glaubensgemeinschaften wurden zerstört; Geistliche verhaftet, verhört, brutal deportiert oder zur Flucht gezwungen; Kirchengebäude konfisziert und umfunktioniert.“

Allein in Melitopol wurden mehr als 15 Kirchengebäude – die meisten protestantisch – beschlagnahmt. Keines wurde je zurückgegeben, selbst nach der erzwungenen „Neuregistrierung“ nach russischem Recht.

In diesem Klima entfalten russische Kirchenleiter ihre „Missionstätigkeit“ – eine groteske Operation, wie das Zerstören eines prächtigen Parks, nur um ein paar Setzlinge zu pflanzen.

Gleichzeitig reisen diese Kirchenführer ungehindert durch die Welt und überzeugen westliche Zuhörer davon, dass Russland ein Land der Religionsfreiheit, christlicher Werte und kirchlicher Blüte sei.

Der amerikanische Prediger Rick Renner, der nach Russland gezogen ist, lobt offen das Regime und bietet mächtige mediale Unterstützung. Man glaubt Renner, Rjachowskij, Schatrow und Dirinenko – denn diejenigen, die ihnen widersprechen könnten, sitzen im Gefängnis, liegen im Grab oder gelten als radikale Ausgestoßene.

Beispiel Drittes Reich

All das ist in der Geschichte des Christentums nicht neu. Die „Deutschen Christen“ im Dritten Reich handelten ähnlich. Ihre Ideologen wussten sehr wohl, welche Rolle sie bei der „Endlösung der Judenfrage“ spielten – ebenso wie heutige russische „Missiologen“ wissen, was ihr „Einsatz auf befreitem Gebiet“ bedeutet.

Auch damals wurden amerikanische Christen von den Reichskirchenführern getäuscht – und glaubten ihnen.

1936 besuchte Oswald Smith von der People’s Church in Toronto – ein hochgeschätzter Missionar – Deutschland und kehrte begeistert zurück. Deutschland, so sein Bericht, sei „erwacht“.
„Deutsche Gläubige sagen, sie seien zufrieden mit Hitler.“ Und: „Jeder wahre Christ ist für Hitler.“ Siehe Fußnote.

Verstummter Widerstand

Auch heute gibt es russische Christen, die nicht die Euphorie von Rjachowskij oder Kirejew teilen – aber ihre Stimmen werden nicht gehört.

Was bleibt, ist das laute Singen bei Konferenzen und Gottesdiensten – ein Echo auf das Bild, das Erwin Lutzer in Hitler’s Cross beschreibt:

„Ein Eisenbahngleis verlief hinter unserer kleinen Kirche. Jeden Sonntagmorgen hörten wir den Pfiff in der Ferne und dann das Rattern der Räder. Wir wurden unruhig, wenn wir die Schreie aus dem Zug hörten.

Woche für Woche kam der Zug – wir wussten, dass er Juden wie Vieh in Waggons transportierte. Ihre Schreie quälten uns.

Wir wussten, wann der Zug kommen würde, und wenn wir den Pfiff hörten, begannen wir, Lieder zu singen. Wenn der Zug vorbeifuhr, sangen wir lauter. Und wenn wir Schreie hörten, sangen wir noch lauter – bis wir nichts mehr hörten.“

Ebenso werden die Teilnehmer der kommenden „Missionskonferenz“ in Jekaterinburg lauter singen – bevor sie zu Workshops über „Mission in befreiten Gebieten“ übergehen.

Wird es einen treuen Überrest geben?

Das Christentum in Russland hat sich in eine „Z-Religion“ verwandelt – eine Religion der Unterwerfung, der Eroberung, eingehüllt in Lobpreis.

Wird sich unter den russischen Christen ein „Überrest von siebentausend“ finden, „die ihr Knie nicht vor dem Baal gebeugt haben“ (1. Könige 19,18)? Nur der Herr weiß es. Nur er weiß, ob neue Leiter entstehen, die widerstehen, erkennen und treu bleiben können.

Was den Rest betrifft – jene „Z-Christen“, die ihr Zeugnis gegen Propaganda eingetauscht haben, die zum Imperium beten und durch Gesang das Leiden übertönen – auf sie treffen Longfellows prophetische Worte zu:

„Mag Gottes Mühle langsam mahlen, doch sie mahlt sehr fein;
Mit Geduld steht Er wartend, doch genau ist Sein Gericht.“

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Das Zitat von Oswald J. Snith über Christen im Dritten Reich stammt aus:
Oswald J. Smith, “My Visit to Germany,”
The Defender 11 (September 1936): 15. David A. Rausch, A Legacy of Hatred (Chicago: Moody, 1984), 101.

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  1. Denys Gorenkov ist Pastor der Evangelischen Freikirche „Neues Leben“ in Kyjiw, Ukraine, und Dozent am Ausbildungszentrum für Militärseelsorge des Militärinstituts der Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw. Die in diesem Meinungsartikel geäußerten Ansichten stammen vom Autor.
  2. Die Burjaten sind ein mongolisches Volk
  3. https://irp.news/protestanty-iz-rf-na-molitvennyj-zavtrak-v-ssha-2025/
  4. https://tass.ru/obschestvo/14799195
  5. https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=4QYz8yCCvcw
  6. https://baptist.org.ru/news/main/view/obraschenie-k-prezidentu-rossii-34-sezd
  7. https://shaltnotkill.info/pastor-roshve-podgotovil-doklad-o-vklade-protestantov-v-svo/
  8. https://missioneurasia.org/wp-content/uploads/2025/01/2025-Mission-Eurasia-report-on-Ukraine-ENG.pdf

Sind Trumps USA noch eine befreundete Nation?

Wolf Paul,

Laut einem Bericht des Wall Street Journal 1 verstärken die USA ihre nachrichtendienstlichen Bemühungen bezüglich Grönland, was Präsident Trumps Absichten unterstreicht, sich die große Insel einzuverleiben. Der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen sagte am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur Ritzau: „Das beunruhigt mich sehr, denn unter Freunden spioniert man nicht.2

Ich denke, es ist an der Zeit, dass alle traditionellen Verbündeten der Vereinigten Staaten erkennen, dass die USA, zumindest was die Trump-Regierung betrifft, Verbündete nicht als Freunde, sondern als Vasallen betrachten und dass ihre Handlungen dies widerspiegeln werden.

Die Trump-Regierung behauptet, von zwei Mottos geleitet zu werden, die ihr Handeln bestimmen und angeblich lauten: „America first!“ (“Amerika zuerst!”) und „Make America great again!“ (“Machen wir Amerika wieder groß!”). In der Praxis scheint es jedoch zu heißen „Machen wir Amerika wieder groß, indem wir alle anderen klein machen!“ und „Amerika allein!“, und ihre Politik und ihre Maßnahmen spiegeln dies wider, von der einseitigen Umbenennung des Golfs von Mexiko über die Beanspruchung von Territorien anderer Länder (oder sogar ganzer Länder) bis dahin, die Hilfe gegen einen Aggressor von einem ausbeuterischen Mineraliengeschäft abhängig zu machen.

An diesem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und der Niederlage der faschistischen Regime in Deutschland und Italien sollte es uns beunruhigen, dass eine Reihe von politischen Analysten und Kommentatoren immer offensichtlichere Merkmale faschistischer Regime in der Rhetorik und im Verhalten der Trump-Regierung festgestellt haben. Während Trumps erster Amtszeit habe ich Vergleiche von Trump mit Hitler immer abgetan, etwas, das mir zunehmend schwerfällt.

Die Aussicht, dass die Europäische Union auf allen Seiten von zunehmend unfreundlichen, großen und mehr oder weniger aggressiven Ländern (Trumps USA, Putins Russland und Xis China) sowie einer zunehmend von islamistischen Extremisten dominierten muslimischen Welt umgeben ist, finde ich nicht sehr beruhigend. Das Einzige, was die Verzweiflung in Schach hält, ist die Gewissheit, dass „He‘s got the whole world in His hand!“ und dass Er mächtiger ist als jeder dieser (Möchtegern- oder tatsächlichen) Diktatoren und Terroristen und dass Er am Ende siegen wird. 3

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  1. Leider ist alles außer dem ersten Absatz hinter einer Paywall
  2. Guardian-Artikel
  3. Muss ich buchstabieren, wer He bzw. Er ist? Falls es jemand nicht mitkriegt, ich spreche vom dreieinigen Gott, Vater, Sohn (Jesus) und Heiliger Geist.

Israel darf sich nicht länger für seine Existenz entschuldigen

Wolf Paul, 2025-05-07

Eeine arabische Stimme für das Existenzrecht Israels

Die Originalfassung dieses Artikel des marokkanischen Politikanalysten und Autors Amine Ayoub1 ist unter dem Titel, “Israel needs to stop apologizing for its existence” in der israelischen Zeitschrift Jerusalem Post erschienen. Die deeutsche Fassung wird hier mit Erlaubnis des Autors veröffentlicht.

Israel darf sich nicht länger für seine Existenz entschuldigen

Gastbeitrag von Amine Ayoub 

Seit seiner Gründung wurde die Existenz Israels als Provokation betrachtet. Ein Zuhause für Juden? Im Nahen Osten? Das darf doch nicht wahr sein.

Es gibt eine Wahrheit, die viele sich nicht trauen auszusprechen: Israel wird nicht wegen seines Handelns gehasst, sondern wegen seines Wesens – als selbstbewusster, erfolgreicher, unbeugsamer jüdischer Staat in einer Region – und einer Welt –, die nie wollte, dass er überlebt.

Dieser Hass ist nicht logisch. Er gründet nicht in politischen Maßnahmen; er widerspricht allen Fakten. Und doch durchzieht er internationale Institutionen, Universitäten, westliche Medien und die Straßen der Großstädte Europas. Es ist gesellschaftlich akzeptabel – ja sogar modern – geworden, Israel zu verurteilen, weil es sich verteidigt, es als koloniales Projekt zu brandmarken und nicht für Koexistenz, sondern für seine Auslöschung zu kämpfen.

Und doch besteht Israel fort. Und nicht nur das – es blüht auf. Trotz unermüdlichem Druck baut es, erfindet, integriert, verteidigt und schafft Neues. Das ist nicht nur Widerstandsfähigkeit – das ist stille Auflehnung. Und genau das ist der Grund, warum es bestehen wird.

Seit seiner Gründung wurde Israels Existenz als Provokation betrachtet. Ein Zuhause für Juden? Im Nahen Osten? In Gebieten, in denen Juden seit Jahrhunderten lebten, lange bevor der Islam entstand? Allein die Idee wurde von den Nachbarn gewaltsam abgelehnt.

Innerhalb von 24 Stunden nach Israels Staatsgründung 1948 fielen fünf arabische Staaten ein, um es noch in der Wiege zu ersticken. Sie scheiterten. So wie auch alle späteren Versuche, es zu zerstören – ob durch konventionelle Kriege, Intifadas, Raketenangriffe oder Terror-Tunnel.

Doch Israels militärischer Sieg war nur eine Front. Der tiefere Krieg – der heimtückischere – ist der Krieg um die Wahrnehmung. Und in diesem Krieg steht Israel einer viel dunkleren Kraft gegenüber: der Normalisierung antisemitischer Doppelmoral, die sich als soziale Gerechtigkeit tarnt.

Heute ist Antizionismus zur gesellschaftlich akzeptierten Maske des Antisemitismus geworden. Seine Anhänger rufen nicht mehr „Tod den Juden“, sondern „From the river to the sea“. Sie brennen keine Synagogen mehr nieder; sie boykottieren jüdische Geschäfte, schüchtern jüdische Studenten ein und leugnen das Juden das Recht auf Selbstbestimmung – im Namen der Befreiung.

DIESER HASS versteckt sich heute hinter dem Wort „Palästina“, aber das Ziel bleibt dasselbe: die jüdische Legitimität, Sicherheit und das Überleben.

Es ist wichtig, klar zu sagen: Kritik an Israel ist kein Antisemitismus. Aber Israel das Existenzrecht abzusprechen, ist Antisemitismus. Es nach Maßstäben zu beurteilen, an denen kein anderes Land gemessen wird, ist Antisemitismus. Sein Volk selbst unter Beschuss als dauerhafte Verdächtige zu behandeln, ist Antisemitismus.

Und trotzdem – selbst wenn der Hass lauter wird – darf Israel nicht zurückweichen. Im Gegenteil: Seine Antwort darf keine Beschwichtigung sein; sie muss moralische Klarheit sein.

Die Welt wirft Israel Apartheid vor, während arabische Bürger in seinem Parlament sitzen, seine Universitäten besuchen, in der Justiz tätig sind und sich frei in allen Städten bewegen. Die Welt nennt es ein Kolonialprojekt – als wäre die Rückkehr eines Volkes in seine angestammte Heimat nach zweitausend Jahren Exil, Verfolgung und Völkermord Kolonialismus. Die Welt beschuldigt es des Völkermords, während seine Armee Zivilisten vor Angriffen auf Terrorziele warnt, die in Wohnhäusern und Krankenhäusern versteckt sind – etwas, das keine andere Armee der Welt tut.

Israel darf sich nicht mehr für seine Existenz entschuldigen.

Israel darf seine Energie nicht darauf verwenden, um Verständnis zu betteln. Es muss aufhören, sich für seine Existenz zu entschuldigen. Es gibt keine moralische Rechtfertigung für den Beschuss von Spielplätzen mit Raketen, für Terroranschläge in Synagogen oder für den Einsatz der eigenen Bevölkerung als menschliche Schutzschilde. Es gibt keinen moralischen Höhenflug in dem Ruf nach der Auslöschung eines Staates.

Wie soll Israel also reagieren? Nicht nur mit militärischer Stärke, sondern mit einer starken Erzählung.

Es muss anfangen, seine Geschichte neu – und besser – zu erzählen. Die Welt braucht keine weitere verteidigende Pressemitteilung. Sie braucht Wahrheit mit Rückgrat. Sie braucht Stimmen, die nicht westlicher Anerkennung hinterherlaufen, sondern moralische Realität vertreten.

Israel darf nicht länger zulassen, dass seine Feinde die Begriffe der Debatte bestimmen. „Besatzung“? Das Land, das es angeblich besetzt, wurde den Palästinensern in unzähligen Friedensangeboten überlassen – alle abgelehnt, nicht wegen Grenzen, sondern wegen Israels Existenz. „Kolonialismus“? Es hat nie einen palästinensischen Staat gegeben, den man hätte kolonisieren können. Juden sind keine Fremden in Jerusalem, Hebron oder Tiberias. Sie sind Heimkehrer in ihre angestammte Heimat.

Und jenen, die „Free Palestine“ skandieren und gleichzeitig den Mord an jüdischen Zivilisten rechtfertigen, muss Israel entgegnen: Freiheit ist nicht das Recht, eine andere Nation auszulöschen.

Aber die Strategie darf nicht bei Verteidigung stehenbleiben. Israel muss auch kulturell, diplomatisch und intellektuell in die Offensive gehen. Es muss massiv in Medien, Geschichtenerzählen und internationale Bildung investieren. Keine trockenen Fakten, sondern kraftvolle Narrative, die Menschen emotional erreichen.

Menschen mobilisieren sich nicht wegen Tabellen – sie mobilisieren sich wegen Geschichten. Die Geschichte Israels ist stark – eine Geschichte von Trauma, Triumph, Wiedergeburt und Hoffnung. Die Welt muss sie von Israelis selbst hören – nicht gefiltert durch ausländische Korrespondenten oder politische NGOs.

Neben der Kommunikation muss Israel seine Allianzen neu definieren. Zu lange hat es um die Gunst westlicher Eliten gebuhlt, die sie ihm nie gewähren werden. Es ist an der Zeit, Partnerschaften nicht nur mit Regierungen, sondern mit Menschen aufzubauen – mit afrikanischen Innovatoren, osteuropäischen Denkern und arabischen Dissidenten, die Israels Stärke und Stabilität bewundern.

Israels moralische Unterstützung kommt vielleicht nicht mehr aus den traditionellen diplomatischen Hallen Europas, sondern aus einer neuen Koalition von Nationen und Individuen, die für das einstehen, was Israel wirklich verkörpert: Freiheit, Innovation und Überleben.

Im eigenen Land darf Israel niemals zulassen, dass der Hass von außen die Seele im Inneren vergiftet. Die Antwort auf Hass ist nicht Angst – sondern Glaube. Glaube an seine Demokratie, seine Widerstandskraft und seine Vielfalt. Der jüdische Staat muss das bleiben, was er immer sein wollte: ein Leuchtfeuer des Pluralismus und des Fortschritts in einer Region, die von Tyrannei erstickt wird. Seine größte Rache an seinen Feinden ist es, weiter zu gedeihen.

Und für Juden in aller Welt muss die Botschaft laut und deutlich sein: Ihr müsst euch nicht für eure Unterstützung Israels entschuldigen. Zionismus ist kein Extremismus; er ist Gerechtigkeit. Er ist der Glaube, dass Juden sicher leben dürfen – in dem einzigen Land, das existiert, um sie zu schützen, wenn die Welt sich wieder einmal abwendet.

Israel war nie dazu bestimmt, beliebt zu sein. Es war dazu bestimmt, zu überleben. Und es hat mehr getan als das – es hat einem zerstreuten Volk eine Zukunft, Würde und eine Flagge gegeben, unter der es sich versammeln kann. Diese blau-weiße Flagge ist kein Symbol der Eroberung. Sie ist ein Versprechen: Nie wieder werden Juden sich auf andere verlassen müssen, wenn es um Sicherheit, Gerechtigkeit oder Identität geht.

Ja, die Welt mag Israel hassen. Aber Israel existiert nicht, um geliebt zu werden. Es existiert, um frei zu sein. Und in seiner Freiheit hat es jeden Feind überlebt, jede Erwartung übertroffen und wieder und wieder bewiesen: Hass ist nicht stärker als Geschichte.

Am Ende muss Israel keine Herzen gewinnen, um zu siegen. Es muss nur aufrecht stehen – klar und furchtlos.

Und das wird es.

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  1. Amine Ayoub ist Politikanalyst und Autor mit Wohnsitz in Marokko. Er ist ein Fellow am Middle East Forum. Seine Beiträge erschienen unter anderem in der Jerusalem Post, Yedioth Ahronoth, Arutz Sheva, The Times of Israel und vielen weiteren Medien. In seinen Texten befasst er sich vor allem mit Islamismus, Dschihad, Israel und der Politik der MENA-Region. Auf Twitter ist er unter @amineayoubx aktiv.

Rotes Zeug: Warum wir Alles für Nichts eintauschen

Wolf Paul, 2025-05-06

C. Michael Patton1, Theologe und Gründer von Credo House, hat diesen Artikel auf seinem Blog veröffentlicht, und ich fand ihn so hilfreich für mein Verständnis von Sünde, dass ich mich entschlossen habe, ihn zu übersetzen und hier zu posten.
Ich habe Michael per E-Mail um Erlaubnis gebeten, konnte ihn aber bisher nicht erreichen. Daher nehme ich seine Zustimmung an und poste den Artikel trotzdem – ich kann ihn ja jederzeit wieder entfernen, falls er etwas dagegen hat.

Rotes Zeug: Warum wir Alles für Nichts eintauschen:
Hamartiologie für den Rest von uns

von C. Michael Patton

Wenn mich jemand in meinem normalen Alltag – in meiner selbsternannten Rolle als “Theologie-Zar” – danach fragen würde, würde ich ihm wahrscheinlich eine Maschinengewehr-artige Übersicht über die Sündenlehre aus dogmatischer Sicht geben. Zuerst würde ich es wahrscheinlich als “Hamartiologie” definieren. (Ja, vielleicht auch, um Eindruck zu schinden – mit 52 bin ich darüber noch nicht hinweg.)
Aber lieber wäre mir, dass sie die reiche Geschichte der christlichen Theologie im tiefen Nachdenken über Sünde kennenlernen.

Dann würde ich loslegen: persönliche Sünde, angerechnete Sünde, ererbte Sünde, Todsünden vs. lässliche Sünden, Sünden der Unterlassung vs. Sünden der Begehung — und der Vollständigkeit halber würde ich noch ein weiteres bedeutungsvolles Fremdwort fallen lassen: Augustinus’ concupiscentia (das musst du selbst nachschlagen).

Das ist es, was mir in den Sinn kommt.

Aber obwohl diese Unterscheidungen wichtig sind, würden sie den durchschnittlichen Menschen heute wahrscheinlich nur verwirren. Denn heutzutage ist das Wort Sünde nicht mehr nur ein altmodischer Begriff, der einen als “Fundamentalisten” dastehen lässt (wie zu meiner Zeit) — es ist fast schon ein vergessenes Relikt. Früher galt man als altmodisch, wenn man darüber sprach, heute kennen viele kaum noch die Bedeutung. Sie haben das Wort vielleicht schon mal gehört, aber es ist ihnen genauso fremd wie das Wort “Hamartiologie”.

(Hamartiologie bedeutet übrigens “die Lehre von der Sünde”, abgeleitet vom griechischen Wort ἁμαρτία (hamartía) – Sünde. Damit habe ich meinen kleinen R.C.-Sproul-Moment auch erledigt!)

Deshalb ist es meist besser, mit der einfachsten und praktischsten Definition zu beginnen:

Sünde ist das Verfehlen des Ziels.

So habe ich es immer gehört. So hat es auch mein Griechisch-Professor im Seminar definiert.
Stell dir einen Pfeil vor, der auf eine Zielscheibe abgeschossen wird, aber das Zentrum verfehlt.
Nur dass es hier darum geht, das Ziel zu verfehlen, das Gott für seine geliebten Kinder gesetzt hat.

Diese Definition ist gut – sehr gut. Aber ehrlich gesagt, denke ich, es gibt noch eine bessere Formulierung – eine, die Gottes Perspektive näherkommt. (Natürlich muss ich das behaupten!)

Hier ist meine Definition:

Sünde ist eine wertlose Entscheidung.

Das rote Zeug schlucken

Es gibt – in meinem Kopf – kein besseres Bild dafür als die uralte Geschichte von Jakob und Esau.
Und ja, sie ist wirklich uralt — aber für die meisten Menschen heute werden sie wahrscheinlich noch nie gehört haben..
Und das ist okay, denn wenn man erst einmal versteht, was passiert, vergisst man es nie wieder. Außerdem ist es auf eine tragische Weise auch irgendwie lustig.

Die Charaktere:
Zwei Brüder — der listige jüngere Bruder Jakob und der törichte ältere Bruder Esau.
Wie damals üblich, sollte der ältere Bruder das Familienerbe erhalten — einschließlich eines göttlichen Versprechens, eines Bundessegens, der die ganze Welt betreffen würde. Dies  wurde Erstgeburtsrecht genannt.

Die Szene:
Der Tag neigt sich seinem Ende zu in den Hügeln Kanaans. Jakob — das Muttersöhnchen mit weichen Händen und einer Begabung fürs Kochen — ist zu Hause und rührt in einem Kochtopf. Gleichzeitig heckt er einen Plan aus, um seinen Bruder hereinzulegen. Er sorgt dafür, dass der köstliche Duft seines Essens sich ausbreitet.

Währenddessen kommt Esau, der raue Jäger, durch die Tür gestürzt. Er war den ganzen Tag auf der Jagd (ohne Erfolg) — mit leeren Händen, verschwitzt, ausgehungert und halb überzeugt, dass er sterben wird. Er riecht das Essen. Er sieht Jakob am Herd, in einem Topf mit „rotem Zeug“ rühren, wie er es nennt. Und ohne nachzudenken, zeigt er darauf und… nun, lesen wir selbst:

Genesis 25,29–34

Jakob kochte ein Gericht. Da kam Esau vom Feld und war müde und sprach zu Jakob: Lass mich schnell von dem Roten essen, dem Roten da; denn ich bin müde. Daher heißt er Edom.
Aber Jakob sprach: Verkaufe mir zuvor dein Erstgeburtsrecht.
Esau antwortete: Siehe, ich muss doch sterben; was soll mir da das Erstgeburtsrecht?
Jakob sprach: So schwöre mir zuvor. Und er schwor ihm und verkaufte so Jakob sein Erstgeburtsrecht.
Da gab ihm Jakob Brot und das Linsengericht, und er aß und trank und stand auf und ging davon.
So verachtete Esau sein Erstgeburtsrecht.

Esau tauscht das Ewige gegen das Sofortige.

Er gibt das Erstgeburtsrecht — das Erbe, den Segen, die Verheißungen Gottes — für etwas her, das er nicht einmal richtig benennen kann. Er nennt es einfach „das rote Zeug“: „Das da… das Rote… was auch immer das ist… ist mir egal… Hauptsache, ich bekomme es jetzt.“

Und genau das ist die beste Definition von Sünde, die es gibt.

Denn das tut Sünde:

Sie lockt uns.
Sie überzeugt uns, dass wir sie „unbedingt brauchen — oder sterben“.
Sie spielt mit unserem Hunger, unserer Schwäche, unserer Verzweiflung.
Und in diesem Moment vergessen wir den Wert dessen, was wir bereits haben.

Der Tausch sieht immer notwendig aus.
Aber danach trifft uns die Wahrheit:
Wir haben alles für nichts eingetauscht.

Sünde ist eine wertlose Entscheidung.
Sie bedeutet, das abzulehnen, was Gott uns anbietet — das Potenzial, das Gott in uns sieht — für etwas Wertloses.

Eine Vater-Sohn-Illustration

Hier ein kleines Beispiel:

Ein Vater kommt in das Zimmer seines Sohnes und sieht ihn völlig vertieft in ein Videospiel.
Er ruft ihm zu:

  • „Willst du eine Bibelstunde mit mir machen?“ — „Nein.“

  • „Willst du mit Freunden wandern gehen?“ — „Nein.“

  • „Willst du ein Buch lesen?“ — „Nein.“

  • „Willst du mit mir essen gehen?“ — „Nein.“

  • „Willst du trainieren, Basketball spielen, jagen, angeln oder einfach nur Zeit mit mir verbringen?“ — „Nein.“

Egal, was der Vater vorschlägt — etwas Besseres, Tieferes, Bedeutenderes — die Antwort bleibt dieselbe.
Der Junge ist fixiert auf den Bildschirm und merkt nicht, was er verpasst.

Aber der Vater weiß es.
Er weiß, was sie hätten teilen können.
Er weiß, welche Erinnerungen sie hätten schaffen können.
Er weiß, welches Lachen, welche Verbindung, welches Wachstum möglich gewesen wäre.

Es ist keine offene Rebellion.
Es ist kein Hass.
Aber es tut weh.

Denn wenn du jemanden liebst, schmerzt es, wenn er die guten Dinge verpasst, die du für ihn bereithältst.

Und genau so — glaube ich — sieht Gott uns.

Gott hat uns für etwas Großartiges erschaffen:
Für Gemeinschaft, nicht für Flucht.
Für Freude, nicht für Ablenkung.
Für Herrlichkeit, nicht Langeweile.

Er hat uns geschaffen, um Gnade über Gnade zu empfangen und in der Berufung zu leben, die er seit Anbeginn der Zeit für uns vorbereitet hat.

Ein paar Verse dazu:

„Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben; ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es im Überfluss haben.“
(Johannes 10,10)

„Du wirst mir den Weg des Lebens zeigen; vor deinem Angesicht sind Freuden in Fülle, zu deiner Rechten Wonne ewiglich.“
(Psalm 16,11)

„Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat — wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“
(Römer 8,32)

Er will uns nicht das Schlechte zeigen, sondern das Beste.

Aber jedes Mal, wenn wir sündigen, treffen wir eine wertlose Entscheidung.
Wir gehen daran vorbei.
Wir sagen: „Nein, danke.“

Wir tauschen die Ewigkeit für das Jetzt.
Für rotes Zeug.

Und Gott, wie ein Vater, sieht es — und es tut ihm weh.

Nicht, weil wir ein abstraktes Gesetz gebrochen haben.
Sondern weil wir ihn selbst zurückgewiesen haben.

Meine eigene rote Suppe

Warum hat Esau diesen Handel gemacht?

Ich würde gerne sagen, dass ich es nicht verstehe — aber ich verstehe es.

Ich bin mindestens genauso gut darin, wenn nicht sogar besser, ein Erstgeburtsrecht für irgendein rotes Zeug einzutauschen.

Es gab eine Zeit, da hatte Gott mein Wirken eindeutig gesegnet.

Das Credo House2 wuchs.

Das Credo House Coffee Shop3 — ein Traum, für den ich gebetet und den ich mir sehnlichst gewünscht hatte — war endlich Wirklichkeit geworden.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich damals im Seminar in einem Kirchengeschichte-Unterricht saß und dachte:

“Gott, lass mich allen das zeigen. Lass mich ihnen die Schätze offenbaren, die ich gerade entdecke.”

Es fühlte sich an, als hätte ich Gold auf einem Feld gefunden — und alles, was ich wollte, war, es mit der Welt zu teilen.

Ich hatte eine Richtung.

Ich hatte eine Berufung.

Und eine Zeit lang begannen sich erste Früchte zu zeigen.

Aber dann wurde das Leben schwer.

Es waren nicht nur Kämpfe im Dienst.

Es ging tiefer — es war härter.

Familiäre Tragödien.

Ein Körper, der zu versagen begann, besonders mein Rücken.

Ein überwältigendes Gefühl, dass alles schneller zerfiel, als ich es retten konnte.

Und genau da traf ich eine wertlose Entscheidung.

Ich griff zu Schmerztabletten.

Am Anfang ging es bei den Tabletten nur um den Schmerz.

Mein Rücken tat höllisch weh — und die Tabletten wirkten.

Aber sie betäubten nicht nur meinen Körper, sie betäubten auch den Schmerz meiner Seele.

Unter dem Einfluss der Tabletten fühlte sich das Leben nicht mehr so schwer an.

Der Druck, die Angst, die Traurigkeit — all das trat in den Hintergrund, auch wenn es nur kurz war.

Zum ersten Mal seit Langem konnte ich wieder atmen.

Es war nicht nur körperliche Erleichterung.

Es war emotionale Erleichterung.

Spirituelle Erleichterung.

Die Tabletten flüsterten mir leise Versprechen zu — Versprechen, die ich unbewusst hörte:

  • „Jetzt bist du okay.“

  • „Du schaffst das.“

  • „Du musst das alles nicht mehr fühlen.“

Und eine Zeit lang glaubte ich ihnen.

Ich war nicht auf der Suche nach einem Kick.

Ich wollte nicht rebellieren.

Ich war einfach müde.

Müde vom Schmerz.

Müde vom Hoffen.

Müde davon, zu kämpfen und trotzdem unterzugehen.

Die Tabletten machten das alles erträglicher — sie gaukelten mir vor, dass Überleben möglich sei.

Aber es war ein Überleben ohne Vertrauen.

Erleichterung ohne Wiederherstellung.

Eine Abkürzung, die ins Nichts führte.

Sie boten mir Frieden — aber es war ein Frieden ohne Fundament.

Ein falscher Frieden — rotes Zeug, das im Moment gut aussah, aber mich am Ende leerer zurückließ.

Ich wusste, was Gott mir angeboten hatte.

Ich wusste um das Erstgeburtsrecht — die Berufung, die Mission, den Sinn.

Aber ich tauschte es ein.

Ich tauschte es gegen rotes Zeug.

Überleben statt Vertrauen.

Falscher Trost statt echtes Leben.

Und genau wie Esau lernte ich die Wahrheit zu spät:

Wir haben alles für nichts eingetauscht.

„Sie haben die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht.“

(Römer 1,25)

Was ist dein rotes Zeug? — Jeder hat seins

Ich hasse es, noch eine Illustration einzuführen — aber diese hier versteht wirklich jeder:

Sünde ist nicht nur eine wertlose Entscheidung.

Sünde ist nicht nur „rotes Zeug“.

Sünde ist auch so etwas wie spirituelles Impulskaufen.

Du kennst das Gefühl.

Du schlenderst durch ein Geschäft.

Plötzlich siehst du etwas, das du nicht brauchst und nicht geplant hast — aber es ruft nach dir.

Du legst es trotzdem in deinen Einkaufswagen.

Vielleicht suchst du Trost.

Vielleicht Bequemlichkeit.

Vielleicht einfach das Gefühl, dass du es verdienst.

Aber tief im Inneren weißt du, dass es eine schlechte Entscheidung ist.

Und kaum hast du es gekauft, setzt die Reue ein:

Käuferreue.

Wir alle kennen dieses Gefühl.

Und wenn wir nach der Sünde leben, ist es, als würden wir innerhalb dieser Käuferreue existieren — sie rechtfertigen, so tun, als wäre es eine gute Entscheidung gewesen, während wir tief im Inneren wissen, dass es nicht so ist.

Sünde verspricht Trost, aber sie liefert Leere.

Sie verspricht Erleichterung, aber sie hinterlässt Bedauern.

Sie ist spirituelles Impulskaufen in seiner schlimmsten Form.

Jeder hat etwas im Einkaufswagen.

Etwas, wonach wir ohne Nachdenken gegriffen haben.

Es sitzt da — macht Versprechen, nimmt Platz ein und zieht uns von den besseren Dingen weg.

Was ist es bei dir?

  • Ein Moment der Lust, wenn niemand zusieht?

  • Das endlose Scrollen durch Social Media?

  • Der Drink, der dich vergessen lässt?

  • Der Groll, den du nicht loslassen willst?

  • Das Kleid, das dir Anerkennung bringen soll?

  • Der Wutausbruch, der Erleichterung verschafft?

  • Der Trost, zu dem du greifst, statt zu Gott?

Wir alle haben unser “rotes Zeug”.

Und hier ist die Wahrheit:

Gott sieht es.

Er weiß es.

Wenn das rote Zeug zu Hass wird

Am Ende der Geschichte steht dieser erschütternde Satz — ein Satz, den man leicht überliest:

„So verachtete Esau sein Erstgeburtsrecht.“

(Genesis 25,34)

Das passiert, wenn wir oft genug das rote Zeug wählen.

Wenn wir immer wieder das eintauschen, wofür wir geschaffen wurden, gegen das, wofür wir nie gedacht waren.

Dann geschieht etwas Schlimmes:

Wir hören nicht nur auf, das Bessere zu bevorzugen — wir fangen an, es zu hassen.

Lass mich das noch einmal klar wiederholen:

Nicht nur: „Das ist nichts für mich.“

Nicht nur: „Ich lasse es lieber.“

Sondern: Wir fangen an, es zu verachten.

Warum?

Weil Schuld unser Herz verändert.

Wenn wir tief im Inneren wissen, dass wir etwas Gutes verraten haben — wenn wir uns betäubt haben und Bürger eines Landes geworden sind, in dem nur wertlose Entscheidungen zählen — dann bleibt uns oft nur eine Verteidigung:

Wir wenden uns gegen das Gute.

Wir sehen etwas Wertvolles im Einkaufswagen eines anderen — und wir lachen spöttisch.

Wir sehen jemanden, der im Licht wandelt — und wir spotten.

Wir begegnen der Wahrheit — und wir zucken zusammen.

Wir sehen Schönheit — und sie widert uns an.

Das ist es, was unverheilte Schuld bewirkt:

Sie verwandelt Ehrfurcht in Bitterkeit.

Sie macht aus Sehnsucht nach Gutem eine Abscheu dagegen.


Gott ist immer bereit, dich zurückzukaufen: Die Zeit ist jetzt

Bist du an diesem Punkt?

Selbst wenn ja:

Gott kann dich immer noch zurückbringen.

Selbst wenn du dein Erstgeburtsrecht eine Million Mal eingetauscht hast,

selbst wenn du vom roten Zeug bedeckt bist —

die Gnade Gottes steht immer noch.

Durch das, was Christus für dich am Kreuz getan hat, gibt es einen Weg zurück.

Hier kommt mein Lieblingsvers über das „rote Zeug“:

„Den, der von keiner Sünde wusste, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden.“

(2. Korinther 5,21, LUT)

Und wenn du mir ein bisschen kreative Freiheit erlaubst, würde ich es so formulieren — in der Neuen Michael-Standard-Übersetzung (NMSÜ):

„Er ließ Christus — der nie rotes Zeug gekauft hat, der immer das Richtige gewählt hat, der niemals das Erstgeburtsrecht eingetauscht hat —  all das rote Zeug, das an dir klebt, auf sich nehmen, damit es so ist, als hättest du nie welches gehabt. Und dann legte er dir das Erstgeburtsrecht wieder in deinen Einkaufswagen.“

(2. Korinther 5,21, NMSÜ)

Christus hing am Kreuz, um einen hohen Preis für deine Sünde zu zahlen — für all deine wertlosen Entscheidungen.

Und seine Auferstehung beweist, dass das Geschäft besiegelt ist.

Dein Vater steht bereit — mit offenen Armen — und wartet darauf, dass du den Tausch rückgängig machst.

Gib es Christus.

Leg alles rote Zeug bei ihm ab.

„In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade.“

(Epheser 1,7)

„Kehre zurück zu mir, denn ich habe dich erlöst.“

(Jesaja 44,22)

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  1. C. Michael Patton ist ein amerikanischer Theologe, Autor und Pädagoge, der sich dafür einsetzt,  christliche Theologie für Laien zugänglich zu machen. Er hat einen Th.M.-Abschluss in neutestamentlichen Studien vom Dallas Theological Seminary sowie einen B.A.-Abschluss in Biblischer Theologie von der University of Biblical Studies and Seminary in Bethany, Oklahoma.
    Michael entwickelte The Theology Program, ein sechsteiliges systematisches Theologiekurrikulum für Gemeindemitglieder, und gründete das Credo House of Theology, ein einzigartiges Café und Veranstaltungszentrum in Edmond, Oklahoma, das dafür gedacht ist, theologische Gespräche in einer einladenden Atmosphäre zu fördern.
  2. Das Credo Haus ist Michaels Mittel, um Theologie für normale Gemeindeglieder zugänglich zu machen
  3. Das Credo Haus Coffee Shop ist ein Lokal, in dem man in angenehmer Atmosphäre Theologie diskutieren, Vorträge anhören, theologische Bücher lesen kann

Waffenbesitz ist ein Privileg, kein Recht

Wolf Paul,

Am frühen Morgen des 3. Mai 2025 hat in Maria Alm ein 32-jähriger Mann seine 34-jährige Ex-Freundin erschossen — einfach so, im Zorn, vor den Augen einer Zeugin. Der Täter ist jetzt auf der Flucht.1

Das Opfer hatte bereits vor der Tat Anzeige gegen den späteren Täter erstattet, wegen Bedrohung. Die Ermittlungen wurden allerdings mangels spezifischer Beweise für eine Straftat eingestellt.2

So weit ist das mehr oder weniger nachvollziehbar.

Was für mich absolut NICHT nachvollziehbar ist: Warum konnte der Mann nach Einstellung der Ermittlungen erfolgreich eine Waffenbesitzkarte beantragen? Er war zwar unbescholten (keine Vorstrafen), aber wäre das Vorliegen der Anzeige, trotz Einstellung, nicht nicht ein vernünftiger Grund gewesen, den Antrag zumindest so lange einzufrieren, bis sich die Gemütslage zwischen den beiden Kontrahenten beruhigt hat?

So konnte ein Mann, der auf seine Ex-Freundin zornig genug war, sie zu bedrohen (wenn auch nicht in strafbarer Weise), und dessen Zorn jetzt aufgrund ihrer Anzeige ins unermessliche gesteigert war, völlig legal eine Schußwaffe erwerben, mit der er seine Ex-Freundin letztlich ermordet hat.

Die Situation bei uns ist, was Waffengesetze angeht, nicht annähernd so verrückt wie in den USA, aber optimal ist sie leider auch nicht, mit tragischen Auswirkungen. Unbescholtenheit allein sollte kein ausreichendes Kriterium für den legalen Waffenbesitz sein; die psychische und moralische Unbedenklichkeit, durch sorgfältige Ermittlungen festgestellt, sollte ein ebenso wichtiges Kriterium sein, denn Waffenbesitz ist kein Recht, sondern ein Privileg.

Demokratiemangel in Deutschland?

Wolf Paul, 2025-05-04

Das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz hat die „Alternative für Deutschland“ (AfD) als „erwiesen rechtsextrem“ eingestuft, und die anderen Parteien sind sich einig darin, dass es keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben darf – die sogenannte Brandmauer.

Wie nützlich diese „Brandmauer“ ist, mag jeder für sich beurteilen. Aber es wirkt schon seltsam, wenn ausgerechnet US-Politiker wie Vizepräsident J. D. Vance oder Außenminister Marco Rubio Deutschland wegen dieser Haltung mangelnde Demokratie und Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit vorwerfen – während ihr Chef, Präsident Trump, seit Monaten ganz offen darüber nachdenkt, ihm unliebsame Medien, Journalisten und Politiker mithilfe einer ihm zunehmend hörigen Justiz mundtot zu machen.

Tatsache ist: Die AfD spricht Themen an, die immer mehr Wählerinnen und Wählern am Herzen liegen – oder ihnen akute Sorgen bereiten. Die Brandmauer und die pauschale Verurteilung als rechtsextrem, ohne sich ernsthaft mit den sehr realen Problemen auseinanderzusetzen, auf die die AfD hinweist, werden die AfD zwangsläufig weiter stärken – bis irgendwann bei einer Wahl die Brandmauer die Flammen des Wählerzorns nicht mehr aufhalten kann.

Übrigens gilt das Gleiche auch für den Umgang mit der Kickl-FPÖ hier in Österreich.

Wenn die neue deutsche Regierung – wie auch unsere schwarz-rot-pinke Koalition hierzulande – es nicht schafft, die Sorgen und Anliegen der AfD- und FPÖ-Wähler sichtbar und wirksam aufzugreifen, dann steuern sowohl Deutschland als auch Österreich früher oder später auf eine absolute Mehrheit für AfD bzw. FPÖ zu. Und es ist völlig unerheblich, wie wichtig man diese Anliegen findet oder für wie realistisch man die Sorgen der Bevölkerung einschätzt. In einer Demokratie zählen nicht nur die Sorgen verschiedener Eliten.

Karfreitag für alle? Ja!

Wolf Paul, 2025-04-01

Seit dem Beginn der Zweiten Republik im Jahr 1955 war der Karfreitag gesetzlicher Feiertag für die Angehörigen der Evangelischen Kirche A.B. und H.B, sowie für Altkatholiken und Methodisten. Die Evangelische Kirche sieht den Karfreitag als höchsten Feiertag des Kirchenjahres, und die Altkatholiken und Methodisten fielen aus nicht ganz klaren Gründen ebenfalls unter diese Regelung.

Im Jahr 2015 klagte ein katholischer Arbeitnehmer gegen diese Regelung, die er als diskriminierend empfand. Der Fall landete schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof, und dieser entschied am 22. Januar 2019, daß diese Regelung eine Diskriminierung aufgrund der Religion darstelle und gegen EU-Recht verstoße.

Aufgrund dieser EuGH-Entscheidung wurde am 22. Februar 2019 im Nationalrat eine Gesetzesänderung beschlossen, die mit 1. April 2019 in Kraft trat. Anstelle des bisherigen „Feiertags“ für bestimmte Religionsgruppen wurde der „persönliche Feiertag“ eingeführt. Seither haben Arbeitnehmer einmal pro Jahr das Recht, einen freien Tag zu wählen („persönlicher Feiertag“), müssen diesen aber mindestens drei Monate im Voraus bekannt geben, und es ist kein zusätzlicher arbeitsfreier Tag, sondern wird vom normalen Urlaubskontingent des Arbeitnehmers abgezogen.

Aus der Überlegung, daß der Karfreitag zurecht als der wichtigste christliche Feier- bzw. Gedenktag zu sehen ist, da es ohne Karfreitag, also ohne Jesu Tod, auch keine Auferstehung, und damit weder Ostern noch Pfingsten, noch überhaupt die Kirche gegeben hätte, haben einige evangelische Christen das Volksbegehren „Karfreitag-Feiertag für alle“ initiiert mit dem Ziel, den Karfreitag für alle Arbeitnehmer im § 7 des Feiertagsruhegesetzes zu verankern.

Zwei Vorschläge zur praktischen Umsetzung wurden vorgelegt:

  1. Entweder einen gesetzlichen Karfreitags-Feiertag für alle herzustellen, verbunden mit der Auflage, daß dieser Tag nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn es die wirtschaftlichen Verhältnisse zulassen. Kriterien dafür müßten erarbeitet werden;
  2. Oder einen zusätzlichen arbeitsrechtlichen Urlaubstag für alle Arbeitsnehmer zu schaffen, welchen Christen dann zur Begehung des Karfreitags nutzen können. Eine solche Regelung würde Einwände von anderen Religionsgemeinschaften verhindern.

Das Volksbegehren wurde bald nach der Abschaffung des Karfreitags-Feiertags initiiert und befindeet sich derzeit noch in der „Unterstützungsphase“, in der  es fast 9000 Unterstützungserklärungen erreichen muß. Um dann vom Parlament behandelt zu werden, muß es mindestens 100.000 Unterschriften erhalten.1

Ich persönlich würde es sehr begrüßen, wenn auch freikirchliche Christen und ihre Gemeinden den Karfreitag mit einem Gottesdienst, aber auch in der persönlichen Andacht und Gebetszeit, begehen würden, egal obe es letztlich einen zusätzlichen Urlaubstag dafür gibt. Wir betonen die Bedeutung von Jesu Opfer am Kreuz, und das ist sicherlich ein wichtigeres Ereignis, als viele andere Dinge, denen wir einen Gedenk- oder Feiertag widmen. Und wenn man sich am Karfreitag innerlich auf das Leiden und den Tod Jesu einläßt, wird die Freude des Ostersonntags umso größer sein.2

Wir sehen, daß der christliche Glaube in unserer Gesellschaft immer mehr an den Rand gedrängt wird, und es wird eine Zeit kommen, wo wir uns dagegen nicht mehr wehren können (das hat Jesus uns vorhergesagt). Solange wir uns jedoch durch die Mittel unserer demokratischen Verfassung gegen diese Marginalisierung wehren und in der Öffentlichkeit ein Lebenszeichen setzen können, sollten wir diese Gelegenheit beim Schopf packen.3

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  1. Das Volksbegehren liegt bereits in allen Gemeinden (Gemeindeämter, Bezirksämter, Magistrat, je nach Gemeinde) auf, und dort, oder auch online, können diese Unterstützungserklärungen abgegeben werden. Erreicht das VB rund 9000 Unterstützungserklärungen, wird es sozusagen „offiziell“ und wird zur 8 Tage dauernden „Eintragungswoche“ zugelassen, in der es dann weiter aufliegt und von allen Österreichern dort oder online unterschrieben werden kann. Um vom Parlament behandelt zu werden, muß ein Volksbegehren mindestens 100.000 Unterschriften erhalten – ob es dann auch tatsächlich von Parlament und Regierung umgesetzt wird, ist natürlich eine andere Sache.[]
  2. Mir ist bewußt, daß viele freikirchliche Christen ein gespaltenes Verhältnis zum Kirchenjahr und seinen religiösen Festen haben. In vielen Gemeinden werden Weihnachten und Ostern zwar als gute Gelegenheit zur Evangelisation gesehen, nicht jedoch als Möglichkeit, uns geistlich und emotional auf diese wichtigen Heilsereignisse einzustimmen. Ich ermutige Euch, diese Einstellung zu überdenken.[]
  3. Mir ist klar, daß es Christen gibt, die jede Beteiligung an politischen Prozessen, d.h. auch an Wahlen und Volksbegehren, als „weltlich“ Angelegenheiten, die uns nichts angehen, ablehnen. Ich bin, bei allem Respekt, anderer Meinung. Die Menschen zur Zeit des Neuenn Testaments (und auch für Jahrhunderte danach) hatten keine Möglichkeit, sich gegen staatliche Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen, und auch heute noch trifft das in vielen Ländern zu. Es ist ein riesiges Privileg, daß wir heute und in unserem Land die Möglichkeit der Beteiligung an politischen Prozessen haben.[]

Das Lied der Hoffnung nach langer Hoffnungslosigkeit

Wolf Paul, 2025-03-16

Ich lese immer noch Leonkadia (Lorraine) Justmans Überlebensgeschichte1 über ihre Zeit in den Ghettos verschiedener polnischer Städte, über ihre Flucht nach Innsbruck, und ihr weiteres Leben im “Dritten Reich”. Ich habe bereits den Abschnitt über Janusz Korczak vorgestellt, und hier, fast vom Ende des Buches die Beschreibung eines Besuches der Jüdischen Brigade2 in Innsbruck (gekürzt):

Der Wendepunkt des Leben der meisten jüdischen Flüchtlinge in Innsbruck kam mit dem überwältigenden Besuch der Jüdischen Brigade auf ihrem Weg nach Deutschland durch Innsbruck. Die Einheiten der Brigade kamen in Lastwagen, die mit blauen Davidssternen geschmückt waren.

Sie waren groß, stark und gut-aussehend. Sie waren selbstbewusst und weltgewandt. Ihre Militäruniformen mit demselben Stern, der während der Zeit von Hitlers Herrschaft ein Zeichen der Schande und des Todes war, füllten die Straßen von Innsbruck und gaben den Hoffnungen der Frauen und Männer, die die Tragödie und die Qual der deutschen Konzentrationslager noch abschütteln mussten, neuen Auftrieb.

Im riesigen Saal des Hotels Wilder Mann in der Museumstraße versammelten wir uns alle, um die mutigmachende Rede von Baron Edmund Rothschild, einem Major der Jüdischen Brigade, zu hören. Er sprach vom Land unserer Vorfahren, dem gelobten Land Eretz Israel, vom ewigen Traum, es zu befreien und in die Unabhängigkeit zu führen als Wiege eines neuen Lebens für die umherwandernden, jahrhundertelang verfolgten Juden.

Die Männer der Jüdischen Brigade waren groß, stark und gutaussehend. Sie waren selbstbewusst und weltgewandt. Sie lächelten offen, lachten ohne Hemmungen und sprachen mit Leichtigkeit. Sie wirkten so anders als die Menge der unterdrückten Menschenwesen, die sie nun umringten in ihrem Hunger nach Neuigkeiten aus dem Gelobten Land.

Ihr Besuch in Innsbruck wirkte wie ein Wunder. Er weckte die Kräfte der Hoffnung, er weckte die Sehnsucht, die im Unterbewusstsein einer geprügelten Generation zur nächsten geschlummert hatte. Er gab all jenen ein neues und klares Ziel, denen das wirkliche Leben entglitten war, die zu menschlichen Marionetten geworden waren, mit einem gebrochenen Körper und zerstörtem Geist.

Die Soldaten der Jüdischen Brigade sangen Hatikvah, das Lied der Hoffnung, das zur Hymne des Staates werden sollte, der ein paar Jahre später entstand, und mit diesem Lied auf den Lippen verließen sie den Saal des Hotels Wilder Mann und gingen hinaus auf die breite Straße, die im violetten Schatten der Abenddämmerung lag. Die Menge folgte ihnen wie in Trance, wobei sie versuchte, in die Melodie einzustimmen, die ans Herz rührte und schmerzliche Erinnerungen wachrief. Erinnerungen, die blieben, während alles andere tot war. Sie sahen zu und konnten es nicht glauben … Hier, direkt im Zentrum von Innsbruck, in einem der geschäftigsten Teile, hier inmitten der Menge der gläubigen Nazianhänger, wo noch vor wenigen Wochen Truppen von Hitlergetreuen marschiert waren und „Deutschland, Deutschland über alles” gesungen hatten, wurde der Verkehr angehalten, während die Soldaten der Jüdischen Brigade den Nationaltanz Hora tanzten.

Die Überlebenden von Hitlers Inferno sahen ungläubig zu. Und dann geschah etwas Großes mit vielen in diesem Augenblick des Feierns: Sie fanden sich selbst wieder. Sie fanden ihren Weg zurück zu Gott, zum Leben, zu ihrem Ziel.

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  1. Leonkadia Justmans Überlebensgeschichte wurde im Rahmen eines Projekts an der Universität Innsbruck in Buchform gebracht und ist sowohl als gebundenes Buch als auch als eBook erhältlich: Brechen wir aus!: Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte[]
  2. Die Jüdische Brigade (Jewish Brigade) war eine kämpfende Einheit in der British Army während des Zweiten Weltkriegs, die auf Seiten der Alliierten gegen die Achsenmächte kämpfte. Die Brigade setzte sich aus Freiwilligen aus dem Gebiet des Völkerbundsmandats für Palästina zusammen.[]

Ein beispielhafter Mann: Janusz Korczak

Wolf Paul,

Ich lese gerade Leonkadia (Lorraine) Justmans Bericht1 über ihre Zeit in den Ghettos verschiedener polnischer Städte, über ihre Flucht nach Innsbruck, und ihr weiteres Leben im “Dritten Reich”.

Besonders berührt hat mich dieser Abschnitt über Janusz Korczak, einen polnischen Militär- und Kinderarzt, Kinderbuchautor und Pädagogen, der in Warschau ein Waisenhaus betrieb und mit diesem ins Ghetto übersiedelte: 

Janusz Korczak war ein Junggeselle, der sich schon seit Jahren liebevoll den Waisen von Warschau widmete. Er schrieb für sie und über sie; er spielte mit ihnen und erfüllte ihnen jeden Wunsch. Er war ihr Ein und Alles, und sie waren seine einzige und größte Liebe. Als ein Freund ihm sichere Zuflucht in seinen vier Wänden anbot, lehnte er ab. Er wollte sich nicht von seinen Kindern trennen und begleitete sie ins Ghetto, um dort ihr Schicksal zu teilen und ihnen das Leben zu erleichtern. Niemand, der diesen munteren Geschöpfen begegnete, hätte sie für Waisen gehalten. Ihr sonniges Gemüt, ihre Liebe zur Musik, ihre zahlreichen Interessen waren der Beweis für die heitere Atmosphäre, in der sie aufgezogen wurden. Umgeben von seinen Schützlingen hätte man Janusz Korczak leicht für ihren aufopferungsvollen Vater halten können.

Januzs Korczaks Waisenhaus im Warschauer Ghetto, Chłodna-Straße 33

„Es ist ziemlich warm heute“, bemerkte er… „Der Sommer strebt zu Gott. Hoffentlich nimmt es das nächste Jahr ebenso mit uns auf, dass ich meine kleinen Lieblinge hinaus in die Natur bringen kann. In die grünen Wälder, zu den goldenen Feldern, auf die bunten Wiesen. Um ihnen die Schönheit Gottes zu zeigen, die sich im Bach oder Fluss spiegelt.“

„Das wird großartig!“, rief der sommersprossige Henryk. „Dann gehen wir an den Bahngleisen entlang weit, weit weg vom Ghetto ins Land des wahren Glücks.“ Henryk war ein Träumer und erfand gerne Geschichten über eine schöne Zukunft. Aber war das nicht in diesen Zeiten, in denen die Gegenwart schrecklich und hoffnungslos war? Lewin räusperte sich. „Beten wir für diesen großen Tag des Friedens“, fügte er mit dem Pathos eines Predigers hinzu. „Er wird das Ende des Krieges und das Ende all der Grausamkeit bringen, für uns alle.“

„Frieden…“ Janusz Korczaks blaugraue Augen leuchteten mit dem Glanz der Jugend. „Das wird ein großer, großer Tag!“

Janusz Korczak hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Jahr später passieren würde. Er konnte nicht voraussehen, dass er und seine Kinder dann in dunklen, stickigen Viehwaggons ins Ungewisse fahren würden. Er konnte nicht wissen, dass er dann mit denselben Worten über die Schönheit der Natur, die hohen Bäume, die klaren Flüsse und Bäche seinen ängstlichen Schützlingen etwas vormachen würde, deren Schicksal er bis zum Ende mit ihnen teilte. Wie hätte er je ahnen sollen, dass genau ein Jahr später er statt der großen Freiheit das große Tor zum Land des Schreckens und des Todes warten würde—zur teuflischen, unmenschlichen Maschinerie kranker Geister—zum Land der Gaskammern von Treblinka?

Janusz Korczak wurde zusammen mit der gesamten Bevölkerung des Waisenhauses ermordet, als es während der Großaktion Warschau im Jahr 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurde.

 

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  1. Leonkadia Justmans Überlebensgeschichte wurde im Rahmen eines Projekts an der Universität Innsbruck in Buchform gebracht und ist sowohl als gebundenes Buch als auch als eBook erhältlich: Brechen wir aus!: Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol. Eine autobiografische Überlebensgeschichte[]

Mein Aktueller Status

Wolf Paul, 2025-03-14

So habe ich meinen Status im Juli 2024 beschrieben; unterhalb gibt es eine Eränzung/Aktualisierung:

Kürzlich hat mich jemand auf Facebook nach meinem Gesundheitszustand gefragt, daher hier ein kurzes Update:

Im April 2022 hatte ich eine Operation wegen eines Abszesses an der Innenseite meines rechten Oberschenkels und war mehrere Monate mit einem “vacuum-assisted closure” Gerät ans Bett gefesselt. Als dieses nach etwa drei Monaten entfernt wurde, waren meine Beinmuskeln so stark verkümmert, dass ich nicht mehr aufstehen oder auch nur mein Gesäß vom Bett heben konnte.

Nach viel Arbeit war ich im Oktober 2023 fast wieder in der Lage, mit Hilfe einer stabilen Gehhilfe aufzustehen, als ich wegen einer Lungenentzündung für zwei Wochen im Krankenhaus lag. Als ich entlassen wurde, war ich wieder am Ausgangspunkt, und seitdem geht es nur sehr langsam voran.

Dank meines Kindle, YouTube und live gestreamten Gottesdiensten im Gefolge von Covid, sowie gelegentlichen Besuchen und regelmäßigen Anrufen von Freunden habe ich mir meinen Verstand bewahrt, während ich auf die 2 Quadratmeter meines Bettes beschränkt bin.

Großer Dank gebührt meiner Frau Geraldine, die mich die ganze Zeit hindurch hingebungsvoll gepflegt und versorgt hat.

Update 14. März 2025:

Die Fortschritte bei der Re-Mobilisierung sind nachwievor sehr langsam. Fast das gesamte erste Halbjahr 2024 hatte ich auch andauernde Probleme mit meinem Harnkatheter, der immer wieder — manchmal bis zu dreimal am Tag — verstopft war, was einen Besuch in der Urologie des LKH Mistelbach erforderte. Ich wurde sowhl dort als auch in den Rettungswägen des Roten Kreuzes zum Stammgast. Nach mehrmaliger Aufforderung durch mich, meine Hausärztin, und Rotkreuz-Mitarbeiter wurde ich schließlich stationär aufgenommen, und eine Blasenspiegelung förderte ein etwa fingerdickes, ca 2,5cm langes weißes Gebilde zutage: ein “Altblutkoagel”. Seit der Entfernung desselben funktioniert mein Katheter wieder einwandfrei.

Meine liebe Frau Geraldine pflegt mich nach wie vor aufopfernd, aber wie man sich vorstellen kann, ist  die Tatsache, daß ich  rund um die Uhr von ihr abhängig bin,das eine große Belastung für sie. Zweimal ist bisher meine Schwester Eva eingesprungen, so daß Geraldine zum 70er ihrer Schwester in England fliegen konnte, und auch unsere Tochter Jessica und Familie im Südburgenland besuchen konnte. Jetzt sind wir dabei, diverse Pflegeangebote zu recherchieren und zu sehen, welche finanziellen Unterstützungen es dafür gibt.

Meine Außenkontakte sind naturgemäß ziemlich eingeschränkt; eine Handvoll Leute besucht mich eingermaßen regelmäßig, ein Freund ruft mich mehrmals in der Woche an, und mit anderen stehe ich per E-mail, Facebook, WhatsApp, und Telegram in Verbindung. Mehr, und regelmäßigere Besuche wären natürlich willkommen, aber ich verstehe, daß das für viele nicht drin ist.