Dieser Artikel ist eine überarbeitete Kombination meiner beiden kritischen Facebook-Einträge zur Ö1 Radiokolleg-Reihe “Die Ekstatiker Gottes” über evangelikale Gruppen, die am 2., 3., und 4. November 2021 ausgestrahlt wurde. Neben meinen beiden Einträgen und Gedanken, die ich mir danach noch gemacht habe, sind auch Gedanken aus Facebook-Kommentaren zu meinen Einträgen eingeflossen, und ich zitiere noch einen Freund, der dem ORF (und mir) seine Stellungnahme zur Sendereihe geschickt hat.
Ich habe meine ursprünglichen Einträge auch an service.oe1@orf.at geschickt; ob sie bei dem verantwortlichen Redakteur, Günter Kaindlsdorfer, landen werden, und wie weit sie bei ihm Wirkung zeigen, kann ich natürlich nicht beurteilen.
Ich habe mir gerade die drei Folgen der Ö1 Radiokolleg-Reihe “Die Ekstatiker Gottes” über evangelikale Gruppen angehört.
Ein paar Dinge fallen mir sofort auf:
- die mangelnde Unterscheidung zwischen Evangelikalen und gemäßigten Pfingstlern einerseits und den radikalen Anhängern des Prosperity Gospel (Wohlstandsevangelium) andererseits;
- die Auswahl von Predigt-Ausschnitten in einem extrem fanatischem Tonfall und zumeist mit stark ausländisch gefärbtem Akzent;
- die wiederholte Behauptung, daß die Predigten in evangelikalen Gemeinden vor allem um das drohende Höllenfeuer kreisen, und damit einhergehend die Aussage, daß Evangelikale vor allem dadurch wachsen, daß sie den Menschen Furcht einjagen; und schließlich
- die Beschreibung evangelikaler Gottesdienste als Rockkonzerte oder “perfekt inszenierte Musicals”.
Diese letztere Bild ist sehr stark von den natürlich sehr medien-präsenten Megachurches (Gemeinden mit mehreren Tausend Mitgliedern in einer Ortsgemeinde) geprägt, die aber — vor allem in Österreich — nur einen kleinen Teil der evangelikalen Bewegung ausmachen. Die Mehrzahl der evangelikalen Gemeinden sind klein bis mittelgroß; ihre Gottesdienste erinnern garantiert nicht an Rockkonzerte, nicht zuletzt deshalb, weil ihnen dafür sowohl die technischen Ressourcen als auch die musikalischen Talente fehlen.
Es kommen einige Aussteiger aus konservativen Gruppen zu Wort; die Musikkritikerin Miriam Damev, eine bulgarischstämmige ehemalige Adventistin (die Adventisten gehören eigentlich nicht zu den Evangelikalen) sowie Bernd Vogt, ein 65-jähriger Deutscher, der sich mit 16 Jahren, also vor fast 50 Jahren, von der Pfingstgemeinde seiner Kindheit und Jugend verabschiedet hat und über seine Erlebnisse in dieser Gemeinde ein Buch geschrieben hat. Beide erzählen von sehr extremen Erlebnissen, die ich gar nicht in Frage stellen will; gerade bei Herrn Vogt stellen sich jedoch ein paar Fragen:
- Erstens liegen Herrn Vogts Erfahrungen fast 50 Jahre zurück, und es stellt sich die Frage, wie weit sie heute noch repräsentativ und daher für einen Bericht wie diesen relevant sind;
- Zweitens sind sie meiner Erfahrung nach selbst für evangelikale und Pfingstgemeinden extrem, und Extremisten gibt es in jeder gesellschaftlichen Gruppe; und
- Drittens ist es zwar verständlich, wenn Herr Vogt aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse in der extremen Pfingstgemeinde seiner Jugend verallgemeinernd die gesamt evangelikale Bewegung verdammt; wenn dann der ORF dieses Pauschalurteil ziemlich unhinterfragt übernimmt, dann richtet sich das schon von selbst.
Ich selbst bin ungefähr zur gleichen Zeit zur evangelikalen Bewegung gestoßen, wie Herr Vogt sie verlassen hat, also gegen Anfang der 1970er Jahre, und kann die generelle Beschreibung der Bewegung in dieser Sendereihe (also insbesondere die Panikmache über Hölle und Endzeit, der Fokus auf weltlichen Erfolg und Reichtum als Zeichen der Zustimmung Gottes, die effektive “Verstoßung” von Aussteigern) aus eigener Erfahrung nicht als normale Situation bestätigen. Natürlich gibt es einzelne Gemeinden, wo das eine oder andere zutrifft; es gibt auch Strömungen innerhalb der evangelikalen Bewegung, wo eine Tendenz in der einen oder anderen Richtung besteht, aber generell, wenn man sich die “normalen”, nicht in den Medien auffallenden evangelikalen und Pfingstgemeinden ansieht, dann trifft eher das Bild zu, das die Musikerin Karin Bachner von ihrer Kindheit und Jugend in einer Linzer Pfingstgemeinde zeichnet.
Daß die Redaktion den evangelischen Pfarrer i.E. Frank Hinkelmann als Fachmann für Freikirchen, Evangelikale, und Pfingstler heranzieht, ist ein positiver Aspekt, denn dieser ist in Österreich sicherlich der qualifizierteste Fachmann zu diesem Thema; ich finde es allerdings etwas befremdlich, daß man ihn sowie auch den Historiker Mitchell Ash ausschließlich zu geschichtlichen und statistischen Fragen und nicht zu theologischen Fragen zu Wort kommen ließ; zu theologischen Fragen kommt ganz kurz der Pastor einer Wiener Pfingstgemeinde, Walter Bösch, zu Wort, sowie der voriges Jahr verstorbene Adolf Holl, der sich erstaunlich wohlwollend über die Pfingstler äußert, aber hauptsächlich neben den Herrn Vogt noch die “Religionspsychologin” Ulrike Schiesser, die auf ihrer Homepage zwar beeindruckende akademische Qualifikationen aufzählt, darunter aber keine in Religionspsychologie, die Professorin an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, Anne L, Koch, sowie Susanne Heine, Wiener evangelische Theologin (die sich ebenfalls eher positiv äußert).
Mir fällt an den theologischen Kritiken auf, daß hier Dinge kritisiert werden, die auch in der katholischen und evangelischen Kirche vor gar nicht allzu langer Zeit zur offiziellen Lehre gehörten und teilweise noch gehören. Auch in der katholischen Pfarre, wo ich aufgewachsen bin, galt die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau als der einzige legitime Ort für sexuelle Betätigung; wurde daher Homosexualtiät als unnatürlich und sündig betrachtet, und Abtreibung als Ermordung eines ungeborenen Kindes. Auch in der katholischen Kirche meiner Jugend gab es keine “Priesterinnen”. Die katholische Kirche hält immer noch an diesen Lehren fest, auch wenn ihr “Bodenpersonal” sie nicht mehr ernst nimmt, sich an die umgebende sekulare Gesellschaft angepaßt hat, und mehr oder weniger militant gegen die eigene Kirchenführung rebelliert.
Auch von der Hölle, als dem nicht erstrebenswerten Ort, wo Ungläubige die Ewigkeit verbringen werden, habe ich zuerst im katholischen Religionsunterricht gehört, sowie in Lesungen und Predigten in der sonntäglichen Messe. Extra Ecclesiam nulla salus (“Nur in der Kirche ist das Heil”) habe ich gelernt, und Angehörige von “Sekten”, wie die Freikirchen damals pauschal genannt wurden, waren nicht in der Kirche und daher vom Heil ausgeschlossen. Die tolerantere Gesinnung von Vatikan II drang erst langsam in der österreichischen Kirche durch.
Aber in jeder normalen Freikirche, ebenso wie in den Volkskirchen, wird die Predigt von der Hölle ja immer ergänzt von der Predigt über das Heilsangebot Gottes, der uns einen Ausweg anbietet.
Und wenn kritisiert wird, daß nicht nur der gn¨¨adige Gott gepredigt wird, sondern auch das Böse in der “Welt” thematisiert wird, muß man sich die Frage stellen, ob das nicht tatsächlich der Realität entspricht.
Natürlich kann man in Frage stellen, ob Harry Potter und Bibi Blocksberg wirklich so gefährlich sind; gute und wertvolle Literatur ist gerade Bibi Blocksberg sicher nicht. Meine Kinder haben Harry Potter gelesen und die Filme gesehen, und wir hatten nie Bedenken deswegen. Wenn man Kinder einigermaßen vernünftig erzieht, können sie sehr wohl zwischen Fantasie und Realität unterscheiden.
Was man an der Berichterstattung noch anmerken sollte: stellenweise ist sie im Ton schon so unpassend, daß ich mich gefragt habe, wie weit sich die Autoren hier der “Herabwürdigung religiöser Lehren” annähern, einem Straftatbsestand, der anerkannte Religionsgemeinschaften in Österreich schützen soll. Und ein Freund von mir, der sich ebenfalls mit seiner Reaktion auf die Sendereihe an den ORF gewandt hat, meint, angesichts der intensiven Verfolgung der Täufer in Österreich vor fast 500 Jahren, wofür offiziele Vertreter von Gemeinden, Ländern, Kirchen und auch der Bundesregierung im Zuge des Reformationsgedenkens 2017 Abbitte getan haben, hätte er sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine freundlichere und ausgeglichenere Berichterstattung erwartet. Er weist auch darauf hin, daß sich Bernd Vogt, welcher der wesentliche Informant für diese Reportage gewesen zu sein scheint, im Unfrieden von der Freikirche seiner Jugend getrennt hat; die unhinterfragte Übernahme seiner Aussagen ist etwa so, als würde man eine Reportage über den ORF auf den Aussagen eines fristlos gekündigten Mitarbeiters aufbauen.
Die Geschichte, die Frau Schiesser erzählt, daß “Aussteiger” aus evangelikalen Gemeinden generell gewissermaßen mit dem Bann belegt werden und alle Freunde verlieren, kann ich aus eigener Erfahrung nach über 40 Jahren im evangelikalen Umwelt gar nicht bestätigen – ich wurde nie gedrängt, den Kontakt mit Aussteigern oder auch mit “nicht gläubigen” Verwandten zu vermeiden oder abzubrechen. Die Gruppen und Gemeinden wo das zutrifft, gibt es zwar, die sind allerdings der extreme Rand der evangelikalen Bewegung und in der Minderheit. Das ist wieder so ein Pauschalurteil, von denen diese Serie nur so strotzt.
Fanatiker und Extremisten gibt es in allen Kirchen. Man sollte sich hüten, von solchen extremen Erfahrungen auf eine Bewegung insgesamt zu schließen.
Oh, und noch etwas: Auf das Radiokolleg-Segment über die Evangelikalen folgt eines über Tarot — die magische “Religion”, die sich rund um das Tarock-Kartenspiel entwickelt hat. Der Host des Radiokolleg, Heinz Janisch, zieht am Anfang jeder Sendung eine “Tages-Tarot-Karte” und liest die Erklärung dazu vor. Das ist für mich durchaus sinnbildlich für die Verdrehtheit unserer Gesellschaft: traditionelles Christentum wird belächelt bzw als gefährlich, bedrohlich und einschränkend empfunden, egal ob in Freikirchen oder in Volkskirchen (wie z.B. die katholische Loretto-Gemeinschaft), dafür bauen wir uns unsere eigenen, neuen Religionen wie Tarot und New Age. Ich vermute, der Grund dafür liegt darin, daß diese neuen Religionen nur versprechen und nichts fordern, und das paßt in die heutige Zeit.
Mein Sohn hat auf dieses Radiokolleg mit der Beobachtung reagiert: “Das ist kein sehr gutes Stück Journalismus. Zumindest, wenn das Ziel eine faire Berichterstattung gewesen wäre.”
Und ich fürchte, das ist genau der Punkt: ich glaube nicht, daß das Ziel eine faire Berichterstattung war. Es geht ja hier um eine Gruppe, die Sex außerhalb der Ehe, Homosexualität, Abtreibung, usw. ablehnt; um eine Gruppe, die klar sagt, daß Männer und Frauen tendeziell unterschiedliche Aufgaben und Berufungen haben und nicht beliebig austauschbar sind; die in Frage stellen, ob man Gender vom biologischen Geschlecht trennen und beliebig wechseln kann; um eine Gruppe, die den Menschen sagt, daß sie Sünder sind und ohne den Glauben an Jesus eine Bestrafung zu gewärtigen haben, usw. All das sind Ansichten, die von unseren “progressiven”, “fortschrittlichen” Zeitgenossen für abstoßend, unmoralisch, und gefährlich gehalten werden, und Menschen, die solche Ansichte vertreten, die verdienen keine faire Behandlung.
So ein tendenziöser, negativer Bericht stellt natürlich keine Verfolgung dar, wie mich eine Leserin aufmerksam gemacht hat. Aber für mich ist sehr klar:
Der Widerstand, den wir erleben, und der sich auch in solchen tendenziösen und unfairen Berichten manifestiert, ist nicht nur die Folge von Mißbrauch und Extremismus in unseren Reihen. Er entspringt der Tatsache, daß die Werte, die wir vertreten, und auch die Lehre selbst, der normativen Auffassung in unserer Gesellschaft diametral entgegen stehen und daher von immer mehr Menschen abgelehnt werden. Deshalb dann werden wir zunehmend Widerstand und unfaire, tendenziöse Berichterstattung erleben, und daher ist diese Warnung des Apostels Paulus durchaus relevant:
“Aber auch alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, werden verfolgt werden.” (2. Tim. 3,12 EÜ)
P.S.: In diesem Zusammenhang (warum wir als Kirche, als Christen zunnehmend auf Ablehnung stoßen) fand ich vor kurzem diesen Artikel des reformierten Theologen und Kirchenhistorikers Carl Trueman interessant, für alle unter Euch die Englisch lesen: The Failure of Evangelical Elites.