Gestern habe ich mir die bereits angekündigte Sendung “Ekstatisch und asketisch” – Warum evangelikale Bewegungen so erfolgreich sind[1] in der Ö1-Sendereihe Logos – Glauben und Zweifeln angehört. Für die Sendung zeichnet, so wie schon für die Radiokolleg-Reihe über Evangelikale im November 2021, Günter Kaindlstorfer verantwortlich. Untenstehend ein paar meiner Eindrücke; auf der Website der Freikirchen in Österreich gibt es einen Kommentar von Franz Graf-Stuhlhofer.
Die Sendung enthielt etwas weniger unrichtige und ungenaue Aussagen über die Evangelikalen als die Sendereihe im November, auch wenn immer noch Gruppen als zu den Evangelikalen gehörig erwähnt wurden, die sich selbst nicht dazuzählen, wie die Adventisten und die Gemeinden Christi[2], und die Puritaner, Quäker, Pietisten und Methodisten gehören nicht zu den radikalen Gruppen der Reformation, sie sind wesentlich später entstanden und gehören eher zu den von Kaindlstorfer ebenfalls erwähnten Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen.
Ich frage mich, ob Herr Kaindlstorfer und der ORF ähnlich negativ voreingenommene Sendungen über andere anerkannte Glaubensgemeinschaften wie die Katholische Kirche, die Evangelische Kirche, die Methodistenkirche, die Ostkirchen, und eine ganzen Reihe anderer, nicht-christlicher Gruppen, produzieren würden, wie nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen über die Evangelikalen, die unter dem Namen “Freikirchen in Österreich (FKÖ)” ebenfalls eine anerkannte Glaubensgemeinschaft sind – wobei die FKÖ repräsentativer für die evangelikale Bewegung im deutschen Sprachraum ist, als so manche von Kaindlstorfer zitierte Gruppe vom extremen Rand.
Was den Titel der Sendung angeht: weder Askese noch Ekstase wurden in der Sendung selbst thematisiert; Askese kam gar nicht vor, und ekstatisch waren (höchstens) ein paar der Musikeinspielungen (wobei man sagen muß, daß das mehrfach gespielte Lied “Every praise is to our God” unter deutschsprachigen Evangelikalen niemand gekannt hat, bevor Hezekiah Walker’s Youtube-Video vor 8 Jahren viral geworden ist. Das Foto oben auf dieser Seite ist aus diesem Video).
Apropos Methodistenkirche: deren österreichische Vertreter waren ja im November etwas verschnupft über ihre Einordnung als evangelikal, und sowohl die Ankündigung der Sendung als auch die Sendung selbst klingen nach einer Abbitte an die Methodisten für diesen Faux Pas – das geht so weit, daß in der Sendung fast mehr über die Methodisten und das nicht-evangelikale Selbstverständnis ihrer österreichischen Vertreter gesprochen wurde, als über die Evangelikalen selbst; mit den zwei Vertretern der Methodisten sowie drei “Expertinnen” (Ulrike Schiesser, Anne Koch[3] und Susanne Heine) kamen in der Sendung mehr nicht-evangelikale Vertreter zu Wort als Evangelikale (Frank Hinkelmann und Walter Klimt sowie ein kurzer Soundbite von Billy Graham). Ein oder zwei Soundbites von einem anonymen Prediger mit ausländischem Akzent sind eher bizarr.
Was mich noch gewundert hat: Warum hat Walter Klimt nicht darauf hingewiesen, daß so manches, was an evangelikaler Lehre kritisiert wurde (z.B. die Ablehnung der Allversöhnung), auch Teil der Lehre der Volkskirchen ist? Dort wird manches davon, im Gegensatz zur evangelikalen Praxis, jeden Sonntag im Gottesdienst rezitiert; im Gegensatz zu vielen in den Volkskirchen glauben Evangelikale eben tatsächlich das, was in der Bibel und ihren Bekenntnisschriften steht. Um Walter Klimt nicht unrecht zu tun: es ist natürlich gut möglich, daß er das ohnehin erwähnt hat, und es vom ORF-Redakteur rausgeschnitten wurde, weil es nicht in das Bild paßt, das er vermitteln wollte.
In einer Sache muß ich Walter Klimt allerdings widersprechen: Mir dreht es genauso wie Walter den Magen um, wenn ich die evangelikale Unterstützung für Trump sehe; im Gegensatz zu Walter glaube ich leider nicht, daß es in den USA “viel mehr Baptisten gibt, die nicht Trump unterstützen” – bzw. falls es die tatsächlich gibt, dann kuschen sie mit eingezogenem Schwanz. Das trifft zumindest auf die evangelikalen, von Weißen dominierten Baptistenbünde wie Southern Baptists oder Conservative Baptists zu; in afro-amerikanisch dominierten Gemeinden sieht das anders aus, ebenso in den auch existierenden nicht-evangelikalen Bünden.
__________- Ich gebe hier keinen Link an, da dieser nur mehr sechs Tage lang gültig wäre, länger sind Ö1 Programme nicht nachzuhören[↩]
- Die Gemeinden Christi werden in der Sendung komischerweise als Churches of Christ erwähnt, obwohl sie bereits seit kurz nach dem 2. Weltkrieg unter dem deutschen Namen “Gemeinde Christi” im deutschen Sprachraum präsent sind.[↩]
- Ihre angegebene Webseite annekoch.academia.edu, existiert nicht. Sie hat eine Forschungsprofessur an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz inne.[↩]