Gedankenlesen als Beweis vor Gericht?
Im Februar 2024 wurde Sebastian Kurz vom Wiener Straflandesgericht wegen Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss schuldig gesprochen und zu einer achtmonatigen bedingten Haftstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Kurz seinen Einfluß auf die Bestellung des Aufsichtsrats der Staatsholding ÖBAG im Jahr 2020 heruntergespielt hatte.
Kurz war aus verschiedenen Gründen nie einer meiner Lieblingspolitiker, aber dieses Urteil hat mich nie überzeugt, war für mich nicht nachvollziehbar, und ich finde es richtig, daß es jetzt vom Oberlandesgericht Wien aufgehoben wurde.
Einem Befragten vorzuwerfen, er hätte nicht vollständig genug ausgesagt, wenn er bei seiner Aussage unterbrochen worden war und ihm auch keine Gelegenheit geboten worden war, mit seiner Aussage fortzufahren, widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Daß ein Richter sich dann anmaßt, darüber zu urteilen, ob der Befragte mehr gesagt hätte, wenn er denn die Gelegenheit gehabt hätte, oder nicht, übersteigt die richterliche Kompetenz — es sei denn, wir lassen Spekulationen oder Gedankenlesen ganz offiziell als Beweismittel vor Gericht zu.1
Aber vielleicht sollte man im Parlament darüber nachdenken, die Spielregeln für U-Ausschüsse zu überarbeiten. Ich sehe ein, daß es Redezeit-Beschränkungen für Abgeordnete geben muß; diese sollten aber tatsächlich nur für die jeweilige Abgeordnete gelten und nicht für den Befragten, den man dann eventuell wegen einer unvollständigen Aussage vor den Kadi zerrt.
Und die Staatsanwaltschaft sollte vor einer Anklage gefälligst überprüfen, ob der Beschuldigte überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu handeln. Wie und wann hätte Kurz denn vor dem U-Ausschuß seine unterbrochene Aussage fortsetzen können?
Im Englischen gibt es das geflügelte Wort, “The Law is an Ass” — „Die Justiz ist ein Esel“, welches mit der pikanten Doppeldeutigkeit von “Ass”2 spielt. Es paßt sehr gut auf diese Situation.